Bremerhavener Scharnhorstquartier weckt viele Erinnerungen

Kurz nach­dem hier im Deich­SPIE­GEL der Arti­kel über das Bre­mer­ha­ve­ner Erhal­tungs­ge­biet rund um das Scharn­horst­quar­tier erschien, hob in der Face­book­grup­pe “Du kommst aus Bre­mer­ha­ven wenn…” eine leb­haf­te Dis­kus­si­on über frü­he­re Zei­ten an.

Gneisenaustraße Nr. 2 im Bremerhavener Scharnhorstquartier

Björn erin­ner­te sich, auf dem gro­ßen Bal­kon in der Gnei­sen­au­stra­ße Nr. 2 Fuß­ball gespielt zu haben, wenn er als Kind dort sei­ne Groß­el­tern besucht hat. Er weiß auch noch, dass er den Bal­kon oft­mals über den geklin­ker­ten Pfei­ler am Ein­gang erklom­men hat­te. Dafür gab es dann von Mut­ter oder Oma “eine ganz schö­ne Jacht­rei­se”.

Irm­traud erzähl­te, dass man die Groß­el­tern um die­sen tol­len Bal­kon benei­det hat. Und auch Björns Klet­ter­par­tien sei­en nicht unbe­ob­ach­tet geblie­ben. In der Har­den­berg­stra­ße wohn­te damals eine Eta­ge unter Oma der Bür­ger­meis­ter von Bre­mer­ha­ven. Eine Limou­si­ne hol­te ihn mor­gens immer ab. Tags­über sind die Kin­der über den Zaun geklet­tert und haben in dem etwas ver­wil­der­ten Gar­ten des Bür­ger­meis­ters gespielt.

Irm­traud berich­tet in der Face­book­grup­pe auch über die damals übli­chen Wohn­ver­hält­nis­se. In der Har­den­berg­stra­ße 11 haben Groß­el­tern und Eltern eine Woh­nung gemein­sam bewohnt. Erst als die Irm­traud und ihre Schwes­ter zur Welt kamen, zogen die Groß­el­tern in ihr neu­es Haus. Irm­trauds Eltern aber leb­ten bis zu deren Tod in der Woh­nung Har­den­berg­stra­ße 11.

Irm­traud wohnt schon lan­ge nicht mehr in Bre­mer­ha­ven. Aber wenn sie zu Besuch in der Stadt ist, zieht es sie unwei­ger­lich zu eine Stipp­vi­si­te in die Hardenbergstraße…

Habt Ihr auch Erin­ne­run­gen an Eure Zeit im Scharn­horst­quar­tier? Schreibt sie hier doch ein­fach auf!

Im Bremerhavener Scharnhorstgebiet nahmen viele Reformen ihren Anfang

Frü­her war alles bes­ser als heu­te”, wird die “Die Gute Alte Zeit” oft­mals glo­ri­fi­ziert. Doch wie war es frü­her wirk­lich? Damals, als tech­ni­scher und wirt­schaft­li­cher Fort­schritt gera­de erst anfin­gen, die Lebens­be­din­gun­gen zu verbessern.

Zeichnung von Heinrich Zille

Hein­rich Zil­le gibt uns dar­über Aus­kunft, wie die armen Leu­te um die Jahr­hun­dert­wen­de gelebt haben. Als sei­ne Eltern mit dem neun­jäh­ri­gen Hein­rich 1867 nach Ber­lin zie­hen — wie Hun­dert­tau­sen­de ande­re Arbeits­su­chen­de auch — haus­ten sie bis zu sei­nem 14. Lebens­jahr unter ärm­li­chen Bedin­gun­gen in einer Kel­ler­woh­nung. In den Hin­ter­hö­fen herrscht Armut und Kri­mi­na­li­tät, Schmutz und Elend. Von den Häu­sern blät­tert der Putz ab, in den dunk­len Hin­ter­hö­fen quel­len die Müll­ei­mer über. Zu den Trep­pen­auf­gän­gen mit den aus­ge­tre­te­nen Stu­fen gelangt nur spär­lich das Tageslicht.

Woh­nun­gen sind knapp in Ber­lin, damals schon. Die Nach­fra­ge über­steigt stän­dig das Ange­bot. Und eine skru­pel­lo­se Grund- und Bau­spe­ku­la­ti­on sorgt dafür, dass es auch so bleibt. Wer kein Geld hat, der stran­det in den Miets­ka­ser­nen­vier­teln der armen Leu­te – in den feuch­ten Gas­sen, dort, wo das “Lum­pen­pro­le­ta­ri­at” lebt. Vier bis sechs Stock­wer­ke sind die her­un­ter­ge­kom­me­nen Häu­ser hoch, qua­dra­tisch um einen düs­te­ren und sti­cki­gen Hin­ter­hof ange­legt, der erfüllt ist vom Lärm der klei­nen Handwerksbetriebe.

Das Klop­fen, Häm­mern und Sägen aus den Werk­stät­ten über­tönt das Kin­der­ge­schrei und das Rufen und Schwat­zen der Müt­ter. Hier auf den Hin­ter­hö­fen ste­hen die Müll­ei­mer und manch­mal auch der Abort gleich daneben.

trostlose Wohnverhältnisse

Vie­le Woh­nun­gen haben nur ein beheiz­ba­res Zim­mer, das in der Regel gleich­zei­tig als Küche, Wohn- und Schlaf­stu­be dient. Die Gemein­schafts­toi­let­te auf dem Trep­pen­po­dest oder eben im Hof neben den Müll­ei­mern wird manch­mal von mehr als 40 Per­so­nen benutzt. Fens­ter haben die Woh­nun­gen nicht, Licht und Luft kom­men spär­lich über Licht­schäch­te – wenn die Woh­nung nicht gleich im licht­lo­sen Kel­ler liegt. Drang­vol­le Enge herrscht über­all. Kin­der, Kran­ke und zwi­schen­drin viel zu schnell geal­ter­te Frau­en, die für sie­ben Pfen­nig die Stun­de bis zur Erschöp­fung auf ihrer auf Raten gekauf­ten Näh­ma­schi­ne tre­ten, um für einen Zwi­schen­händ­ler Kin­der­män­tel oder Maler­kit­tel zu fabrizieren.

Um ihre Mie­te bezah­len zu kön­nen, sind vie­le gezwun­gen, in den ohne­hin schon über­füll­ten Woh­nun­gen “Schlaf­bur­schen” auf­zu­neh­men. Dann müs­sen die Kin­der ihr Bett frei machen und auf dem Fuß­bo­den schlafen.

Am 1. April und am 1. Okto­ber ist “Zieh­tag”, dann herrscht reger Umzugs­ver­kehr. Bela­den mit ihren weni­gen Hab­se­lig­kei­ten zie­hen die Mie­ter von einer trost­lo­sen Woh­nung in eine noch trost­lo­se­re – womög­lich in einen Kel­ler oder in einen soeben fer­tig gestell­ten, noch feuch­ten Neubau.

Trockenwohner

Tro­cken­woh­nen” nennt man jene Mie­ter, die eine frisch ver­putz­te Woh­nung gera­de so lan­ge bewoh­nen dür­fen, bis sie genü­gend aus­ge­trock­net ist und zah­lungs­kräf­ti­ge­ren Mie­tern ange­bo­ten wer­den kann.

Bre­mer­ha­ven ist nicht Ber­lin, hier ström­ten die Men­schen nicht zu Tau­sen­den in die Stadt. Aber die Wohn­ver­hält­nis­se wer­den hier nicht bes­ser gewe­sen sein. Doch hier in Bre­mer­ha­ven soll­te das ändern, hier gab es Men­schen in der Ver­wal­tung, die Ver­ant­wor­tung über­nah­men und alles taten, um die Woh­nungs­not in Bre­mer­ha­ven zu lindern.

Von 1905 bis 1933 war der  ehe­ma­li­ge Bre­mer­ha­ve­ner Stadt­bau­meis­ter Johann Hein­rich Juli­us Hage­dorn auch für den Woh­nungs­bau ver­ant­wort­lich und setz­te sich in den 1920ger Jah­ren maß­geb­lich für den sozia­len Woh­nungs­bau in Bre­mer­ha­ven ein. Unter sei­ner Regie ent­stand auf dem zwi­schen Gnei­sen­au­stra­ße, Kai­ser­stra­ße, Kant­stra­ße und Wal­de­mar-Becké-Platz gele­ge­nem Are­al ein neu­es Wohn­quar­tier mit rund 520 neu­en Wohnungen.

Lageplan Scharnhorstviertel Bremerhaven

Das in der Wei­ma­rer Repu­blik neue, ver­fas­sungs­recht­lich abge­si­cher­te Grund­recht auf gesun­den Wohn­raum setz­te die Stadt Bre­mer­ha­ven in die­sem Neu­bau­ge­biet auf vor­bild­li­cher Wei­se um. Viel frü­her als ande­re deut­sche Städ­te schuf Bre­mer­ha­ven zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts die gesetz­li­chen Maß­ga­ben für die Errich­tung gesun­den Wohnraums.

Man­gel, Huma­nis­mus und sozi­al­po­li­ti­sche Ver­ant­wor­tung stan­den am Beginn einer Ent­wick­lung, die in einer vor­bild­li­chen Bau­ord­nung von 1908 und einem refor­mier­ten Stra­ßen­plan von 1913 mün­de­te. Auf Grund­la­ge die­ser neu­en Geset­ze konn­te der Kampf gegen Feuch­te und Schim­mel­bil­dung, Typhus und Krank­hei­ten im tra­di­tio­nel­len Miet­woh­nungs­bau auf­ge­nom­men werden.

Wohnblock im Erhaltungsgebiet Bremerhaven

Damit auch die unte­ren Woh­nun­gen vom Tages­licht erreicht wer­den konn­ten und eine Quer­lüf­tung mög­lich war, sahen die neu­en Vor­schrif­ten ein­zu­hal­ten­de Bau­hö­hen in Abhän­gig­keit zur Stra­ßen­brei­te vor. Auch wur­den Toi­let­ten und ein Was­ser­an­schluss zur Auf­la­ge gemacht. Leicht geschwun­ge­ne Stra­ßen und ver­setz­te Ein­mün­dun­gen soll­ten die Mono­to­nie einer Block­rand­be­bau­ung entgegenwirken.

Klinkerbau mit Mezzaningeschoss an der Bürgermeister-Smidt-Strasse

Unter­stüt­zung bei die­sem gro­ßen Neu­bau­vor­ha­ben rings um die Scharn­horst­stra­ße fand der Bre­mer­ha­ve­ner Stadt­bau­meis­ter beim Ber­li­ner Stadt­pla­ner Prof. Theo­dor Göcke. Gemein­sam woll­ten sie ein neu­es Wohn­quar­tier für sozi­al Schwa­che bau­en, in dem Arbei­ter­fa­mi­li­en groß­zü­gi­ge und gesund­heit­lich unbe­denk­li­che Wohn­ver­hält­nis­se vorfinden.

Wohnungsbesichtigung

Sie haben dar­auf geach­tet, dass die in Block­rand­be­bau­ung gestal­te­ten Wohn­häu­ser mit Fens­tern aus­ge­stat­tet wer­den, durch die aus­rei­chend Tages­licht und fri­sche Luft in die für dama­li­ge Ver­hält­nis­se gro­ßen Wohn­räu­me gelan­gen kann. Außer­dem soll­ten Bal­ko­ne oder Log­gi­as den Mie­tern einen Ort der Erho­lung an der fri­schen Luft bie­ten. In den Bau­ten drü­cken sich die Idea­le einer huma­nis­ti­schen Reform­be­we­gung aus.

Musterwohnung im Bremerhavener Scharnhorstviertel

Aber nicht nur die Qua­li­tät der Woh­nun­gen waren den Pla­nern wich­tig. Auch auf die Ästhe­tik der Gebäu­de leg­te man gro­ßen Wert. Auf­wen­dig gestal­te­te Klin­ker- aber auch struk­tu­rier­te Putz­fas­sa­den, plas­tisch gemau­er­te Haus­ein­gän­ge, Stu­cka­tu­ren und Werk­stein­skulp­tu­ren sind so cha­rak­te­ris­tisch für die­se sti­lis­tisch am Expres­sio­nis­mus ori­en­tier­ten Bau­ten, dass eini­ge Fas­sa­den in der “alten Bür­ger” unter Denk­mal­schutz gestellt wurden.

Erhaltungsgebiet Bremerhaven Gneisenaustrasse

Die Genos­sen­schaft der Staats­be­diens­te­ten reich­ten 1913 den ers­ten Bau­an­trag für die Häu­ser an der Ecke Har­den­berg- und Gnei­sen­au­stra­ße ein. Und die­ser Antrag brach­te sie erst­mals alle zusam­men: Wal­de­mar Becké, den spä­te­ren Stadt­di­rek­tor und Ober­bür­ger­meis­ter, Juli­us Hage­dorn, den Stadt­bau­di­rek­tor, der ja bereits feder­füh­rend bei der neu­en Bau­ord­nung und dem Stra­ßen­plan mit­ge­wirkt hat­te, und der Ober­leh­rer Fried­rich Burk, Vor­sit­zen­der des Bre­mer­ha­ve­ner Mie­ter­ver­eins, 1927 Mit­be­grün­der der heu­ti­gen GWF und zu die­ser Zeit als kon­ser­va­ti­ver Stadt­ver­ord­ne­ter Wort­füh­rer für den sozia­len Woh­nungs­bau. Gemein­sam lern­ten sie die Woh­nun­gen ohne Tages­licht und Toi­let­ten ken­nen — Woh­nun­gen ohne flie­ßend Was­ser und fin­ger­di­ckem Schim­mel auf Wän­de und Mobi­li­ar. Sie beka­men ein Bild von den Wohn­ver­hält­nis­sen der unte­ren Ein­kom­mens­schich­ten und leg­ten den Grund­stein für eine städ­ti­sche Wohnungsfürsorge.

Putzbauten im Bremerhavener Erhaltungsgebiet

Und plötz­lich mach­te sich der Wohn­raum­man­gel spür­bar bemerk­bar. Der 1. Welt­krieg war vor­bei, und die Sol­da­ten kehr­ten heim, hei­ra­te­ten und grün­de­ten Fami­li­en. Zähl­te Bre­mer­ha­ven im Jah­re 1917 noch knapp 18.000 Ein­woh­ner, so waren es nur zwei Jah­re spä­ter fast 22.000.

Die Zahl der Woh­nungs­su­chen­den explo­dier­te. 1921 waren es mehr als 1.000 Men­schen, vor­wie­gend Fami­li­en mit gerin­gem Ein­kom­men, aber auch Erwerbs­lo­se. Und ihr  Anspruch auf gesun­den Wohn­raum war ja nun in der Wei­ma­rer Ver­fas­sung fest­ge­schrie­ben – eine sozi­al-libe­ra­le Errun­gen­schaft der neu­en Demo­kra­tie nach dem Zusam­men­bruch der Monarchie.

Haus in Bremerhavens Scharnhorstquartier

Aber wie soll­te Bre­mer­ha­ven die­sem ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Anspruch gerecht wer­den? Der pri­va­te Woh­nungs­bau lag am Boden, weil Bau­stoff­man­gel und Miet­preis­bin­dung nie­man­dem eine Aus­sicht auf eine ange­mes­se­ne Ren­di­te bot. Und auch alle Bemü­hun­gen, eine Bau­ge­nos­sen­schaft zu grün­den, ver­lie­fen im Sande.

Es half nichts, die Stadt Bre­mer­ha­ven muss­te selbst tätig wer­den — und sie wur­de es. Auf Antrag Hage­dorns beschloss die damals nur 22.300 Ein­woh­ner zäh­len­de Stadt Bre­mer­ha­ven im Jah­re 1921 ein städ­ti­sches Woh­nungs­bau­pro­gramm – einer­seits ein sozi­al­po­li­ti­scher Beschluss, ande­rer­seits aber auch ein öffent­li­ches Kon­junk­tur­pro­gramm für die Bauwirtschaft.

Klinkerbau Bremerhaven Waldemar-Becke-Platz 2 - 6

Schon 1925/1926 ent­stan­den in der Har­den­berg­stra­ße die ers­ten Putz­bau­ten; zwar mit klas­si­schem Grund­riss, aber doch mit attrak­tiv gro­ßen Woh­nun­gen mit eige­nen Toi­let­ten und Bade­zim­mer, mit Bal­kon oder Log­gia. Schnell kamen wei­te­re Bau­ten an der Gnei­sen­au­stra­ße hin­zu. Hier errich­te­te in den Jah­ren 1926/1927 der Bre­mi­sche Staat ein Gebäu­de­kom­plex mit Woh­nun­gen für die Poli­zis­ten der benach­bar­ten Kaser­ne. Ab 1927 betei­lig­te sich die gemein­nüt­zi­ge Woh­nungs­für­sor­ge GmbH des Reichs­bun­des deut­scher Mie­ter, die heu­ti­ge  GWF Woh­nungs- und Immo­bi­li­en GmbH, mit fünf Bau­grup­pen am städ­ti­schen Wohnungsbauprogramm.

Klinkerbau Bürgermeister-Smidt-Straße in Bremerhaven

Die bei­den ers­ten bis 1929 fer­tig­ge­stell­ten Bau­grup­pen an der Har­den­berg- und Scharn­horst­stra­ße wur­den detail­ver­liebt aus­ge­führt und erhiel­ten eine expres­si­ve Fas­sad­en­glie­de­rung.  Auch die Bre­mer­ha­ve­ner Woh­nungs­bau­ge­sell­schaft mbH nahm hier ab 1930 ihre Bau­tä­tig­keit auf. Sie alle hat­ten das gemein­sa­me Ziel, die Woh­nungs­not in Bre­mer­ha­ven zu lin­dern. Sie stell­ten der Bevöl­ke­rung inner­halb von sie­ben Jah­ren rund 500 neue Woh­nun­gen zur Verfügung.

Hauseingang Bürgermeister-Smidt-Strasse 177

Mit der Fer­tig­stel­lung der Bau­blocks zwi­schen der Stein- und Kant­stra­ße und den Häu­sern der Bre­mer­ha­ve­ner Woh­nungs­bau­ge­sell­schaft an der Fich­te­stra­ße ende­ten 1931 die Bau­tä­tig­kei­ten im Erhal­tungs­ge­biet. Mit der Schlie­ßung der Teck­len­borg-Werft 1928 nahm die Ver­schlech­te­rung der wirt­schaft­li­chen Lage in Bre­mer­ha­ven ihren Anfang. Und ab dem Jah­res­wech­sel 1929/1930 mach­te sich auch die ein­set­zen­de Welt­wirt­schafts­kri­se dra­ma­tisch bemerk­bar. Für wei­te­re Bau­vor­ha­ben fehl­te der Stadt das Geld.

Hauseingang Scharnhorststr. 9

Das Wohn­quar­tier rund um die Scharn­horst­stra­ße kann man aber wohl zu den größ­ten kom­mu­nal­po­li­ti­schen Leis­tun­gen Bre­mer­ha­vens zäh­len kann. Hier im Erhal­tungs­ge­biet lässt sich noch heu­te der in der Wei­ma­rer Repu­blik statt­ge­fun­de­ne Wan­del in Städ­te­bau und Archi­tek­tur gut erkennen.

Hauseingänge im Erhaltungsgebiet

Natür­lich nagt auch an die­sen Gebäu­den der Zahn der Zeit so gewal­tig, dass umfang­rei­che Sanie­rungs­maß­nah­men erfor­der­lich gewor­den sind. Die Stadt, die GWF Woh­nungs- und Immo­bi­li­en GmbH und die Städ­ti­sche Woh­nungs­ge­sell­schaft Stä­wog wol­len in die­sem und in den nächs­ten bei­den Jah­ren in Gebäu­de, Stra­ßen und in das Wohn­um­feld vier Mil­lio­nen Euro investieren.

Für eine denk­mal­ge­rech­te Sanie­rung hat die Stadt Bre­mer­ha­ven ins­ge­samt 2,2 Mil­lio­nen Euro ein­ge­plant. Dar­in sind die För­der­mit­tel für die Woh­nungs­ge­sell­schaf­ten ent­hal­ten – ein Drit­tel stammt aus dem Bun­des­pro­gramm “Städ­te­bau­li­cher Denkmalschutz”.

Für die Sanie­rung der Scharn­horst- und der Har­den­berg­stra­ße hat die Stadt Bre­mer­ha­ven 1,1 Mil­lio­nen Euro ver­an­schlagt. Dafür sol­len die Stra­ßen nach his­to­ri­schem Vor­bild erneu­ert wer­den. Die Haus­zu­gän­ge sol­len mit Mosa­ik­pflas­ter und ein­ge­rahm­ten Beton­plat­ten wie­der eine Gestal­tung wie in den 1920er Jah­ren anneh­men. Die irgend­wann ver­schwun­de­nen Ligus­ter­he­cken, die ein­mal die Vor­gär­ten vom Stra­ßen­raum abgrenz­ten, sol­len wie­der ange­pflanzt werden.

Schließ­lich hat die zustän­di­ge Bre­mer­ha­ve­ner Bau­be­hör­de den neu­en Bebau­ungs­plan Nr. 436 “Erhal­tungs­ge­biet Scharn­horst­stra­ße” auf­ge­stellt, der den Bebau­ungs­plan “Stein­stra­ße” aus dem Jah­re 1978 inso­weit ersetzt, als die­ser das Erhal­tungs­ge­biet tangiert.

Klinkerbau Bürgermeister-Smidt-Straße 171 - 185 in Bremerhaven

Die Gebäu­de an der Bür­ger­meis­ter-Smidt-Stra­ße bis in Höhe der Scharn­horst­stra­ße sind nun als Bau­denk­ma­le (Ensem­ble) in die Denk­mal­lis­te des Lan­des Bre­men ein­ge­tra­gen. Zudem soll ent­spre­chend sei­ner bau­ge­schicht­li­chen Bedeu­tung das gesam­te Plan­ge­biet als Erhal­tungs­ge­biet fest­ge­setzt wer­den, was eine grund­sätz­li­che Geneh­mi­gungs­pflicht bau­li­cher Anla­gen und ihrer Nut­zung zur Fol­ge hat.

Wer sich inten­si­ver über die Erhal­tung der das Stadt­bild prä­gen­den Gestal­tungs­merk­ma­le infor­mie­ren möch­te, kann sich die sehr infor­ma­ti­ve Bro­schü­re “Städ­te­bau­li­cher Denk­mal­schutz – Erhal­tungs­ge­biet Scharn­horst­stra­ße” bei der GWF Woh­nungs- und Immo­bi­li­en GmbH als pdf-Datei herunterladen.

Quel­len:
GEO-Epo­che Nr. 12: Deutsch­land um 1900, Sei­ten 154 bis 161
gfw-bremerhaven.de, Bro­schü­re “Städ­te­bau­lich­er­Denk­mal­schutz…”
sonntagsjournal.de, vom 31.08.2014, Sei­te 6
staewog.de, Mie­ter­zei­tung vom März 2014, Sei­te 8

Die längst vergessenen Häuser 20 und 22 in der Neuelandstraße in Lehe

Der schreck­li­che Luft­an­griff am 18.09.1944 auf Bre­mer­ha­ven war nicht der ers­te Bom­ben­an­griff, den die Alli­ier­ten auf Bre­mer­ha­ven flo­gen. Bereits im Juni des glei­chen Jah­res ver­lo­ren Leher Bür­ger durch einen Bom­ben­an­griff ihr Hab und Gut.

Heu­te erin­nern in der Neu­e­land­stra­ße in Lehe nur noch Bau­lü­cken an Gebäu­de, die längst abge­ris­sen wur­den. Eini­ge Häu­ser aus der Grün­der­zeit waren bau­fäl­lig, ande­re wur­den Opfer des Luft­an­grif­fes. Auch die heu­te längst ver­ges­se­nen Häu­ser Num­mer 20 und 22 wur­den durch Bom­ben zerstört.

Die Grün­dung Bre­mer­ha­vens im 19. Jahr­hun­dert nahm der Bedarf an Wohn­raum stän­dig zu. In Bre­mer­ha­ven war der Bau­grund natur­ge­mäß sehr begrenzt, und so wich man in die Nach­bar­ge­mein­den aus. In der Gemein­de Lehe ent­stan­den damals beson­ders vie­le neue Stra­ßen­zü­ge. Im Jah­re 1850 wur­de auf dem Flur­stück “Neue Land” die Neu­e­land­stra­ße gebaut.

In die­ser Stra­ße wur­den gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts die Häu­ser mit den Num­mern 19, 20, 22, 34 und 36 erstellt.

Neuelandstrasse, Blick vom Süden - heute

Das Haus Num­mer 20 hat­te einen stra­ßen­sei­ti­gen Spitz­gie­bel und im ers­ten Stock einen Erker. Der Blend­gie­bel des Hau­ses Num­mer 22 wies eben­falls zur Stra­ße hin. Die Orna­men­te an den Fas­sa­den erin­ner­ten an die Gründerzeit.

Neuelandstraße 24

In den Häu­sern befan­den sich klei­ne Woh­nun­gen mit Küche, Kam­mer, Stu­be und Kor­ri­dor. Die Gemein­schafts­toi­let­ten befan­den sich außer­halb der Woh­nun­gen. Im Hofe waren Wasch­kü­chen und Hüh­ner­stäl­le untergebracht.

Neuelandstraße Garagenhof

Die Was­ser­ver­sor­gung für bei­de Häu­ser erfolg­te durch eine Zis­ter­ne, die wäh­rend des 2. Welt­krie­ges zum Luft­schutz­raum umfunk­tio­niert wur­de. Ab 1933 waren bei­de Häu­ser an das elek­tri­schen Strom­netz angeschlossen.

Gewöhn­lich flo­gen die Bom­ber über Weser­mün­de nur hin­weg. Aber am 18. Juni 1944 war es anders. Die Bom­ben fie­len auf Bre­mer­ha­ven Mit­te und auf Lehe. Es gab vie­le Todes­op­fer und ver­letz­te 290 Men­schen, zum Teil sehr schwer. 257 Woh­nun­gen wur­den kom­plett zer­stört und 241 schwer beschädigt.

Auch die Häu­ser Neu­e­land­stra­ße Num­mer 18 bis Num­mer 22 wur­den zer­stört. Heu­te befin­det sich auf dem Grund­stück ein Garagenhof.

Quel­le:
Peter Raap: Nie­der­deut­sches Hei­mat­blatt Nr. 774 vom Juni 2014, Sei­ten 1 + 2

Das war meine Werft – Folge 10

Von der Del­phin-Werft zur mari­ti­men Ruhezone

Wer von der Innen­stadt kom­mend die Hafen­stra­ße ver­lässt und rechts in die Stra­ße Auf den Sül­ten ein­biegt, fin­det sich plötz­lich in einer Oase der Ruhe wie­der. Auf den Sül­ten, das ist eher ein Gas­se als eine Stra­ße. Über altes Kopf­stein­pflas­ter erreicht man am Ende der Gas­se die Werft­stra­ße. Hier lädt ein Park­platz dazu ein, das Auto zu verlassen.
Auf den SültenDann sind es nur noch ein paar Schrit­te, und man steht auf einem Aus­sichts­platz an der Gees­te-Kaje — genau dort, wo sich Ende der 1870er Jah­re an einem dicht an die Hafen­stra­ße her­an­füh­ren­den Geest­e­bo­gen ein klei­ne  Boots­werft ange­sie­delt hat, die klei­ne Schif­fe, Motor­boo­te und Leich­ter bau­te und auch mit der Repa­ra­tur von Küs­ten- und Fische­rei­fahr­zeu­gen ihr Geld ver­dien­te. (mehr …)

Mit Gott in den Krieg für Kaiser, Volk und Vaterland

Mit Gott in den Krieg für Kai­ser, Volk und Vaterland

1888 wird der am 27. Janu­ar 1859 gebo­re­ne Fried­rich Wil­helm mit 29 Jah­ren Kai­ser. Für sei­ne Erzie­hung war der Kal­vi­nist Georg Hinz­pe­ter ver­ant­wort­lich, der 1866 zum Erzie­her des sie­ben­jäh­ri­gen Prin­zen Wil­helm von Preu­ßen beru­fen wur­de und über sei­nen Zög­ling spä­ter urtei­len wird: “Zum Reprä­sen­tan­ten taugt er, sonst kann er nichts (…) Er hät­te Maschi­nen­schlos­ser wer­den sollen.” 

Mit Gott in den Krieg für Kaiser

Aber der Mann wird ein Kai­ser, der in einem schnei­di­gen Auf­tre­ten daher­kommt und sich am liebs­ten in einer sei­ner 300 ver­schie­de­nen Uni­for­men prä­sen­tiert. Ein Kai­ser, der  — anders als sein Groß­va­ter Wil­helm I. – nicht bereit ist, sich dem Wil­len Bis­marcks unter­zu­ord­nen. Ein Kai­ser, der sich als Allein­herr­scher und Regent eines Rei­ches mit welt­po­li­ti­schen Ambi­tio­nen ver­steht. Ein Kai­ser, der von sich sagt: “Zu Gro­ßem sind wir noch bestimmt, und herr­li­chen Tagen füh­re ich Euch noch ent­ge­gen.” Hier­zu braucht er sei­nen Reichs­kanz­ler Otto von Bis­marck, der eine gegen­sätz­li­che Poli­tik ver­tritt, nicht. Es kommt zum Bruch, und der Kai­ser schickt sei­nen Kanz­ler aufs Alten­teil – der Lot­se muss das von ihm gebau­te Schiff Deut­sches Reich verlassen.

Mit Gott in den Krieg für Kaiser

Kai­ser Wil­helm II. legt sich mit Rus­sen und Fran­zo­sen an und beginnt ein Wett­rüs­ten mit der bri­ti­schen Mari­ne. Als am 28. Juli 1914 Öster­reich-Ungarn den Ser­ben den Krieg erklärt, sagt er Öster­reich sei­ne Unter­stüt­zung zu, und nun hat Deutsch­land die gesam­ten euro­päi­schen Groß­mäch­te gegen sich. Ver­wun­dert und naiv behaup­tet der Kai­ser, dass man Deutsch­land demü­ti­gen wol­le und ruft am 6. August 1914 dem deut­schen Volk zu: “So muss denn das Schwert ent­schei­den. Mit­ten im Frie­den über­fällt uns der Feind. Dar­um auf! zu den Waf­fen! Jedes Schwan­ken, jedes Zögern wäre Ver­rat am Vater­lan­de… Wir wer­den uns weh­ren bis zum letz­ten Hauch von Mann und Ross…”

Mit Gott in den Krieg für Kaiser

Die deut­sche Regie­rung befiehlt die Mobil­ma­chung, und bin­nen weni­ger Tage wer­den Mil­lio­nen jun­ger Män­ner in die Kaser­nen geru­fen, bewaff­net und mit Zügen an die Front geschickt. Und von dort schrei­ben sie Post­kar­ten an die Lie­ben daheim, Post­kar­ten, die in kit­schi­ger Ver­klä­rung das Grau­en des Krie­ges übertünchen.

Und so führ­te der letz­te Deut­sche Kai­ser sein Volk nicht herr­li­chen Tagen ent­ge­gen, son­dern er führt es direkt in den Ers­ten Welt­krieg, den er eigent­lich nicht will und doch nicht in der Lage ist, ihn zu verhindern.

Mit Gott in den Krieg für Kaiser

Am Abend des 3. August 1914 blickt der bri­ti­sche Außen­mi­nis­ter Sir Edward Grey aus einem Fens­ter sei­nes Minis­te­ri­ums und ist sich sicher: “In ganz Euro­pa gehen die Lich­ter aus, wir wer­den sie in unse­rem Leben nie wie­der leuch­ten sehen.”

Begeis­ter­te Frei­wil­li­ge  wer­den nach der Ver­kün­dung der deut­schen Mobil­ma­chung vom Kriegs­fie­ber gepackt, und sie begrei­fen den Krieg zunächst als gro­ßes Spek­ta­kel und rufen in Ber­lin vor dem Schloss: “Wir wol­len den Kai­ser sehen!”

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Bre­mer Regiment

Die Pres­se berich­tet von “unbe­schreib­li­chen Jubel” und Pla­ka­te und Flug­blät­ter wie­geln das Volk mit men­schen­ver­ach­ten­den Pro­pa­gan­da­sprü­chen zusätz­lich auf: “Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Fran­zos, jeder Tritt ein Britt, jeder Klapps ein Japs.“ Und in Bre­mer­ha­ven und anders­wo kann man in Schreib­wa­ren­ge­schäf­ten far­bi­ge Kar­ten mit vater­län­di­schen Bild­mo­ti­ven und ker­ni­gen Sprü­chen kaufen.

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Klei­ne Kin­der bekom­men zu Weih­nach­ten Mal­hef­te mit Kriegs­the­men oder Bau­klöt­ze geschenkt. Auch Zinn­fi­gu­ren, mit denen man die Schlach­ten nach­spie­len kann, sind sehr beliebt. Und grö­ße­re Kin­der spie­len unter Anlei­tung von Vete­ra­nen mit Spiel­zeug­waf­fen die Front­be­rich­te nach. In den Geschäf­ten kann man Kriegs­spiel­zeug aller Art kau­fen, es gibt den gesam­ten mili­tä­ri­schen Bereich wie Uni­förm­chen, Säbel, Degen und Kin­der­hel­me der ver­schie­de­nen Waffengattungen.

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Und mit Lie­dern, Gedich­ten und Mili­tär­pa­ro­len wer­den die Kin­der ein­ge­stimmt, tap­fer den Feind zu besie­gen. Fremd­wör­ter sind nun ver­pönt, es heißt jetzt “Leb­wohl” statt “Adieu” und “Mut­ter” statt “Mama”. Und die Leh­rer mei­nen, es sei eine vater­län­di­sche Pflicht, frem­de Wör­ter nicht mehr zu gebrau­chen. Und den­noch: Trotz des all­ge­mei­nen natio­na­len Tau­mels wäh­rend der unmit­tel­ba­ren Kriegs­vor­be­rei­tung kommt es in vie­len Städ­ten zu Anti­kriegs­de­mons­tra­tio­nen der Arbeiterschaft.

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Den­noch erweist die Füh­rung der deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie der preu­ßisch-deut­schen Mon­ar­chie ihre Gefolg­schaft und in der Reichs­tags­sit­zung vom 4. August 1914 stim­men auch die bis­her oft als “vater­lands­lo­se Gesel­len“ bezeich­ne­ten Sozi­al­de­mo­kra­ten ein­stim­mig für die Gewäh­rung von Kriegs­kre­di­ten. Der Kai­ser über die für ihn erfreu­li­che Geschlos­sen­heit aller poli­ti­schen Par­tei­en im Reichs­tag: “Ich ken­ne kei­ne Par­tei­en mehr, ken­ne nur noch Deutsche.”

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Und Frau­en beglei­ten ihre Män­ner und Brü­der zum Zug um dort Abschied zu neh­men. Vie­le glau­ben an einen schnel­len Sieg und sind sich sicher: “Zu Weih­nach­ten sind wir sieg­reich wie­der zu Hau­se.” Aber das glau­ben nicht nur die deut­schen Sol­da­ten, auch die Sol­da­ten des Geg­ners sind sich sicher, dass sie bis Weih­nach­ten sie­gen wer­den. Und natür­lich – wie soll es auch anders sein —  selbst­ver­ständ­lich alle mit Got­tes Hil­fe! Und in den Kir­chen han­deln die Pre­dig­ten und Gebe­te, von denen es auch gedruck­te Fas­sun­gen zum Ver­sen­den an die Front gibt, vom Kriegsgeschehen.

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Und so strö­men sie wie­der in die Kir­chen und drän­gen sich zum Abend­mahl, viel­leicht ein letz­tes Mal vor dem Ein­satz an der Front und dem Tod für Volk und Vater­land. Und von der Kan­zel wird gepre­digt: “Wer Gott zum Trotz hat, der wird sie­gen”, und “Ger­ma­nia, lass Dich bit­ten, lass Dich beschwö­ren, nie­mals, was auch kom­men mag, von die­sem Trotz zu lassen.”

Und die Sol­da­ten an der Front wer­den von einem Reli­gi­ons­päd­ago­gen mit einem “Kriegs­va­ter­un­ser” auf Linie gebracht:

Eile, den Deut­schen beizustehen,
Hilf uns im hei­li­gen Kriege!
Laß Dei­nen Namen sternengleich
Uns vor­leuch­ten, Dein Deut­sches Reich
Führ uns zum herr­lichs­ten Siege!”

Und natür­lich haben auch die Fein­de gebe­tet, viel­leicht etwas lau­ter, viel­leicht etwas ein­dring­li­cher, viel­leicht etwas from­mer. Und der “deut­sche Gott” wird das Deut­sche Reich nicht vor einer Nie­der­la­ge bewah­ren. Aber das wis­sen die Deut­schen wohl nicht, sonst wären sie viel­leicht daheim geblie­ben. Und so mar­schie­ren sie los, alle gemein­sam in Tod, für Gott, Volk und Vaterland.

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In den Foto­ate­liers las­sen die zurück­ge­blie­be­nen Frau­en sich mit ihren Kin­dern foto­gra­fie­ren – für die Män­ner im Schüt­zen­gra­ben. Manch­mal wer­den die Kin­der auch allei­ne foto­gra­fiert – aber immer ger­ne mit Uniform.

Und natür­lich wird, wie über­all im Kai­ser­reich, auch an der Unter­we­ser am 31. Juli 1914 der Kriegs­zu­stand erklärt. Nach kai­ser­li­che Ver­ord­nung umfasst der soge­nann­te “Bezirk der Befes­ti­gun­gen der Weser­mün­dung” inner­halb des Krei­ses Lehe die Gemein­den Mis­sel­war­den, Wre­men, Imsum und Lehe sowie die Städ­te Bre­mer­ha­ven und Geest­e­mün­de. Und der Fes­tungs­kom­man­dant hofft, “dass alle patrio­ti­schen Bür­ger ihn und die gesam­te bewaff­ne­te Macht freu­dig und rück­halt­los unter­stüt­zen in der Erfül­lung der durch die Kriegs­ge­fahr geschaf­fe­nen hohen vater­län­di­schen Pflichten…”.

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Und am 16. August 1914 ver­öf­fent­licht das könig­li­che-preu­ßi­sche Kriegs­mi­nis­te­ri­um einen Erlass zur Bil­dung einer Jung­wehr. Der Dienst in der Jung­wehr besteht aus mili­tä­ri­schem Exer­zie­ren und Feld­dienst, Tur­nen und soge­nann­ten Instruk­tio­nen, um die Hin­ga­be der Jugend­li­chen “für das Vater­land, für Kai­ser und Reich zu ent­flam­men. Und die Väter erzäh­len von ihren “Groß­ta­ten”, und die Kriegs­nach­rich­ten wer­den ver­le­sen, alles um “auf die Her­zen der Jugend” ein­zu­wir­ken und bei ihr den Zorn gegen den Feind zu entfachen.

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Und auf der Insel Bor­kum erscheint eine ““Kriegs-Zei­tung der Jugend­wehr “Schwarz-weiß-grü­nes Regi­ment” Bor­kum. Bereits in der Aus­ga­be Nr. 2, die im August 1915 erscheint, wird in einem patrio­ti­schem Gedicht der Toten gedacht, die mit Hel­den­mut kämp­fend ihr Blut für das Vater­land gaben.

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Schon am 2. Okto­ber 1914 wird der Erlass auch in Bre­mer­ha­ven umge­setzt. Im Auf­tra­ge des Stadt­rats erlässt der Stadt­syn­di­kus Dr. Wal­ter Deli­us einen Auf­ruf zur Bil­dung der Jung­wehr: “Auch dies­mal ste­hen wir einer Welt von Fein­den gegen­über, auch han­delt es sich um ein Befrei­ungs­krieg, um einen hei­li­gen Kampf zur Wah­rung unse­rer höchs­ten Güter”, lässt Dr. Deli­us die jun­gen Leu­te wis­sen. Dar­um sol­len sie sich wehr­kräf­tig machen, damit sie die Stra­pa­zen für einen sicher und schnei­dig geführ­ten Feld­zug ertra­gen können.

Am 28. Mai 1914 wird dann geübt, in der Nähe von Weh­den tref­fen sie sich, die Jung­kom­pa­nien der Krei­se Lehe und Geest­e­mün­de und der Städ­te Bre­mer­ha­ven und Geestemünde.

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Und gleich­zei­tig mit der Mobil­ma­chung wird an der Unter­we­ser ein Sani­täts­dienst orga­ni­siert. Im Kai­ser­ha­fen erhal­ten drei gro­ße Lloyd­präh­me je 84 Bet­ten und einen ärzt­li­chen Ope­ra­ti­ons­raum. Und auch der Per­so­nen­damp­fer “Glück­auf” wird umge­rüs­tet für Sanitätszwecke.

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Und alle glau­ben, hier an der Weser­mün­dung wird der Feind über­ra­schend zuschla­gen. Und so ord­net in Wre­men ein Oberst vor­sichts­hal­ber an, den Kirch­turm um die Hälf­te zu kür­zen, weil das Deut­sche Reich ja nun auch mit Eng­land im Krie­ge sei und dem Feind die­ses wich­ti­ge See­zei­chen ent­zo­gen wer­den müs­se. Und so fan­gen sie sofort mit den Bau­maß­nah­men an, zwei Tage spä­ter ist der vor­her 50 Meter hohe Turm um die Hälf­te geschrumpft, und das Deut­sche Reich ist vor den Eng­län­dern nun sicher.

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Es gibt Mil­lio­nen von Frei­wil­li­gen, die sich zum Wehr­dienst mel­den, In Bre­mer­ha­ven lau­fen mas­sen­haft Män­ner in die Matro­sen-Artil­le­rie-Kaser­ne in der Kai­ser-Wil­helm-Stra­ße und mel­den sich frei­wil­lig zum Kriegs­dienst. Wer ange­nom­men wird, lernt noch am glei­chen Tag das Sol­da­ten­le­ben ken­nen: Unter­su­chung, Ein­klei­dung, Stu­ben­ein­tei­lung, Bet­ten­bau­en üben und die Spind­ord­nung ler­nen. Und gleich am nächs­ten Tag beginnt der Drill: Die Geweh­re wer­den ver­teilt, und in der Lloyd­hal­le wer­den die Rekru­ten drei Wochen lang an 8,8‑cm-Feldgeschütze aus­ge­bil­det. Dann mar­schie­ren sie von der Matro­sen-Artil­le­rie-Kaser­ne ab und lau­fen die Hafen­stra­ße hin­auf und links in die Bat­te­rie­stra­ße hin­ein um schließ­lich über Wed­de­war­den zur im Weser­schlick auf­ge­schüt­te­ten Fes­tungs­in­sel Fort Brin­k­a­ma­hof II zu gelan­gen. Die Unter­künf­te und Kase­mat­ten sind durch dicke Zie­gel­mau­ern geschützt, und durch eben­falls geschüt­ze Gän­ge errei­chen die Sol­da­ten die vier 28-Zen­ti­me­ter-Dop­pel­ge­schüt­ze, beset­zen sie und bewa­chen die Küs­te auf­merk­sam, und vor der Küs­te kreu­zen deut­sche Kriegs­schif­fe, weil man hier einen bri­ti­schen Flot­ten­an­griff befürch­tet. Der Kom­man­dant hat einen hohen mili­tä­ri­schen Rang, er ist Vize­ad­mi­ral, ein Indiz, für wie bedeu­tend das Kriegs­mi­nis­te­ri­um die­se mili­tä­ri­sche Anla­ge hält.

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Und auch die Luft­schutz­räu­me, die in der Leher Hafen­stra­ße in den Hotels Rüsch und Kai­ser­gar­ten und Licht­bild­thea­ter Alex ein­ge­rich­tet wer­den, kom­men eben­so wei­nig zum Ein­satz, wie die Luft­schutz­räu­me auf der Unter­we­ser­werft in der Werft­stra­ße, im Poli­zei­ge­fäng­nis in der Lan­ge Stra­ße, im Rat­haus und im Amts­ge­richt in der Nordstraße.

Für die Fein­de des Deut­schen Rei­ches ist die Weser­mün­dung wohl kein gutes Inva­si­ons­ge­biet, jeden­falls kom­men kei­ne Schif­fe, und es kom­men auch kei­ne Flug­zeu­ge, und so ver­ge­hen die Tage mit der Aus­bil­dung an den Geschüt­zen. Und dann ist die Aus­bil­dung vor­bei, und es wird ernst, es geht an die Front nach Flan­dern. Zum Bahn­hof wird natür­lich wie­der mit Musik mar­schiert, beglei­tet von der Bevöl­ke­rung, die sich die Abfahrt des mit Paro­len beschrif­te­ten Wag­gons zum Fein­des­land nicht ent­ge­hen las­sen will.

Und so rufen die deut­schen Sol­da­ten im August 1914: “Auf, auf zum Kampf”, und sie kön­nen es kaum erwar­ten, an die Front zu kom­men, und sie zie­hen gegen den Feind “in Ost und West”, zie­hen “vor­wärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war.” Am 5. Sep­tem­ber 1914 steht Gene­ral­oberst von Kluck mit den 174 000 Sol­da­ten sei­ner 1. Armee etwa 30 Kilo­me­ter vor Paris. Ins­ge­samt hat der Kai­ser sie­ben Armeen gegen Frank­reich auf­mar­schie­ren las­sen. Und da ist nie­mand mehr, der die mör­de­rischs­te Schlacht der Welt­ge­schich­te ver­hin­dern will oder ver­hin­dern kann.

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Und wie zu Napo­le­ons Zei­ten stür­men die Sol­da­ten mit Hur­ra-Rufen dem Feind ent­ge­gen – und tref­fen auf die moder­nen Waf­fen des 20. Jahr­hun­derts. Sie wer­den gestoppt von Maschi­nen­ge­weh­ren, die bis zu 600 Kugeln in der Minu­te aus­spu­cken, sie wer­den nie­der­ge­mäht von Feld­ka­no­nen, die in schnel­ler Fol­ge Schrapp­nell-Gra­na­ten abfeu­ern. Und so wird der Vor­marsch schon im Sep­tem­ber 1914 an der Mar­ne gestoppt, und statt der erhoff­ten Gefech­te gibt es Schmutz, Arbeit, Käl­te, Schmerz und schlaf­lo­se Näch­te in Todesangst.

Es gibt Gra­ben- und Stel­lungs­krieg und Grau­sam­kei­ten wie Gift­gas, und Feu­er­über­fäl­le und zwi­schen den leben­den Sol­da­ten lie­gen die toten, die in Lagen über­ein­an­der­ge­schich­tet waren.

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Und im Dezem­ber reg­net es in Flan­dern, es reg­net und reg­net und reg­net tage­lang und unauf­hör­lich. Am 20. Dezem­ber kommt kei­ne Weih­nachts­freu­de auf. Es reg­net, und in den Hügeln um Ypern und im Fluss­tal das Lys läuft das Regen­was­ser in die Schüt­zen­grä­ben, und die Grä­ben kön­nen das gan­ze Was­ser irgend­wann nicht mehr auf­neh­men und lau­fen über, und auch die Gra­nat­trich­ter sind rand­voll. Der Regen durch­nässt auf­ge­bläh­te Pfer­de­ka­da­ver und durch­weicht die Uni­for­men toter Sol­da­ten, die hier nach wochen­lan­gen Kämp­fen ver­we­send auf dem Schlacht­feld liegen.

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Die geschwol­le­nen Füße der Leben­den ste­cken in nas­sen Stie­feln und sind taub. Die Gra­ben­wän­de bre­chen ein, die Schlaf­lö­cher sind feucht und der Matsch ist knie­hoch. Und wer sein Kopf über die Gra­ben­kan­te hebt, den trifft die Kugel eines lau­ern­den Scharf­schüt­zen. Die sind teil­wei­se so nah, dass man ihnen Schimpf­wor­te zuru­fen kann.  Also blei­ben alle in Deckung, kön­nen die Kada­ver nicht sehen aber rie­chen, und um sie her­um stin­ken die eige­nen Exkremente.

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Und dann ist Weih­nach­ten. Am Mor­gen des 24. Dezem­ber 1914 reg­net es nicht mehr in dem knapp 45 Kilo­me­ter lan­gen Front­ab­schnitt in Flan­dern, in dem sich bri­ti­sche und deut­sche Sol­da­ten gegen­über­lie­gen, und es wird kaum noch geschos­sen. Bei­de Sei­ten ver­stän­di­gen sich unter­ein­an­der, dass man die Gefal­le­nen ber­gen möch­te. Und so gehen die Sol­da­ten unbe­hel­ligt ins Nie­mands­land, und sie holen ihre Toten, um sie zu beer­di­gen. Und man spricht mit­ein­an­der und einigt sich auf eine Feu­er­pau­se wäh­rend der Weih­nachts­ta­ge. Auf die Grä­ber der Gefal­le­nen stel­len die Bri­ten Lich­ter auf, Geweh­re mit auf­ge­pflanz­ten Bajo­nett die­nen als Ker­zen­stän­der. Und deut­sche Sol­da­ten stel­len ihre Tan­nen­bäu­me, die man ihnen aus der Hei­mat an die Front schick­te, auf die schüt­zen­de Brüs­tung ihrer Grä­ben und zün­den die Ker­zen an. Und sie sin­gen Weih­nachts­lie­der und über­brin­gen dem bri­ti­schen Geg­ner Geschen­ke: Süßig­kei­ten, Wein und Ziga­ret­ten aus der Heimat.

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Und am 25. Dezem­ber kommt der Frost, und die Son­ne geht über einer weiß glit­zern­den Land­schaft auf. Rau­reif über­zieht die Sta­chel­draht­ver­haue, dün­ner Früh­ne­bel schwebt über dem hart gefro­re­nen Boden. Und im etwa 80 Meter brei­ten Nie­mands­land wird ein gemein­sa­mer Got­tes­dienst gefei­ert, die Deut­schen ste­hen auf der einen Sei­te und die Eng­län­der auf der ande­ren. Und wäh­rend der Fei­er­ta­ge wird Fuß­ball gespielt, Deut­sche gegen Bri­ten. Aber in der letz­ten Dezem­ber­nacht wün­schen sie sich noch ein gutes neu­es Jahr und neh­men dann Abschied von­ein­an­der. Der Krieg geht wei­ter: “Mor­gen kämpfst Du für Dein Land und ich für mei­nes. Viel Glück!” ‚ver­ab­schie­det sich ein Sol­dat der Lon­don Rif­les von sei­nem Gegen­über. Und ein Jeder geht in sei­ne Stel­lung zurück. Doch an vie­len Front­ab­schnit­ten schwei­gen die Geweh­re noch lan­ge, nie­mand will als Ers­ter schießen.

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Die Schüt­zen­grä­ben sind 720 Kilo­me­ter lang, sie begin­nen nörd­lich von Ypern unweit der Nord­see und enden erst an der Schwei­zer Gren­ze. Die West­front ist erstarrt, und auch das rie­si­ge “Paris-Geschütz” oder die “Dicke Ber­tha” oder der “Lan­ger Max” ändern nichts dar­an, dass eine Kom­pa­nie nach der ande­ren im Trom­mel­feu­er ver­nich­tet wird. Bei Ver­dun ver­schie­ßen kai­ser­li­che Kano­nie­re in den ers­ten acht Stun­den zwei Mil­lio­nen Gra­na­ten. Bis heu­te, hun­dert Jah­re danach, zeigt sich die Natur dort als kra­ter­über­zo­ge­ne Mond­land­schaft, nur über­zo­gen mit einem Flaum aus Büschen, Bäu­men und Sträuchern.

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Und an Maas und Som­me ster­ben dop­pelt so vie­le Bri­ten, drei­mal so vie­le Bel­gi­er und vier­mal so vie­le Fran­zo­sen wie im Zwei­ten Welt­krieg. Sie ent­rich­ten in die­sem Krieg einen höhe­ren Blut­zoll als in jedem ande­ren Krieg ihrer Geschich­te und nen­nen ihn des­halb “The Gre­at War“ oder “La Gran­de Guer­re“. Und rund neun Mil­lio­nen Men­schen sehen ihre Hei­mat nicht wie­der, sie ver­lie­ren ihr Leben in die­sem schreck­li­chen Krieg, in dem das Töten auf dem Schlacht­feld erst­mals indus­tri­el­le Aus­ma­ße ange­nom­men hat und der erst am 11. Novem­ber 1918 um 11.00 Uhr been­det sein wird.

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Doch da hat der deut­sche Kai­ser Wil­helm II., der bes­ser Maschi­nen­schlos­ser hät­te wer­den sol­len, schon die Flucht ergrif­fen und sich im hol­län­di­schen Exil nie­der­ge­las­sen und hält dort Hof, bis er end­lich am 9. Novem­ber 1918 abdankt und damit die über 500jährige Herr­schaft der Hohen­zol­lern in Preu­ßen beendet.

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Aber in Frank­reich und Russ­land ver­wüs­ten Gra­ben­kämp­fe und schwe­res Kriegs­ge­rät wei­ter die Land­schaf­ten.  Die Orte der gro­ßen Schlach­ten und des Stel­lungs­kampfs blei­ben für vie­le Jah­re unbe­wohn­ba­re Gebie­te der Apokalypse.

Und in der Heimat?

Für die Men­schen im Nord­wes­ten ist der Krieg zwar rela­tiv weit weg, aber hier bestimmt die Sor­ge um Män­ner, Brü­der und Söh­ne die täg­li­chen Gedan­ken. Der Aus­bruch des Krie­ges trifft Bre­mer­ha­ven beson­ders schwer. Anders­wo kön­nen sich die Betrie­be bald auf die ver­än­der­ten Ver­hält­nis­se umstel­len. In den Nord­see­hä­fen aber ist das nicht mög­lich. Der Krieg legt die gesam­te Fisch­in­dus­trie, den Fisch­han­del und die Hoch­see­fi­sche­rei lahm. Und schon im  August 1914 sind im Fische­rei­ha­fen 403 Per­so­nen arbeits­los. Im Sep­tem­ber 1914 stellt die Rick­mers­werft ihren Betrieb kom­plett ein. Ab 1. Novem­ber 1914 trifft es die Kell­ne­rin­nen, sie dür­fen in den Gast- und Schank­wirt­schaf­ten des Fes­tungs­ge­bie­tes nicht mehr arbei­ten. Spe­di­ti­ons­be­trie­be haben in den still­ge­leg­ten Häfen auch nichts mehr zu tun.

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Bis zum Anfang des Jah­res 1915 kom­men noch Schif­fe unter ame­ri­ka­ni­scher Flag­ge in die Häfen. Dann aber erklärt die eng­li­sche Regie­rung auch Baum­wol­le zur Bann­wa­re, und der kom­plet­te deut­sche See­han­del kommt schlag­ar­tig zum Erlie­gen. Bei Kriegs­aus­bruch sind noch deut­sche Schif­fe auf dem Mee­re, und die Besat­zun­gen stam­men zum gro­ßen Teil aus den Unter­we­ser­or­ten. Vie­le sor­gen sich um ihre Ange­hö­ri­gen, die fern der Hei­mat jah­re­lang fest­ge­hal­ten wer­den Han­dels­un­ter­see­boo­te ver­su­chen die Blo­cka­de zu durch­bre­chen, und der 23. August 1916 ist ein beson­de­rer Freu­den­tag für die Bre­mer­ha­ve­ner: an die­sem Tag läuft das Han­dels­un­ter­see­boot “Deutsch­land” in die Unter­we­ser ein.

Mit Gott in den Krieg für Kaiser

Bei Kriegs­aus­bruch sind noch deut­sche Schif­fe auf dem Mee­re, und die Besat­zun­gen stam­men zum gro­ßen Teil aus den Unter­we­ser­or­ten. Vie­le sor­gen sich um ihre Ange­hö­ri­gen, die fern der Hei­mat jah­re­lang fest­ge­hal­ten werden.

Die “Kron­prin­zes­sin Ceci­lie” und die “Kai­ser Wil­helm II” kön­nen wohl­be­hal­ten die Ver­ei­nig­ten Staa­ten errei­chen, wo sich bereits die “Geor­ge Washing­ton” und die “Kron­prinz Wil­helm” befin­den. Und die für Kaper­fahr­ten zum Hilfs­kreu­zer umge­rüs­te­te “Kai­ser Wil­helm der Gro­ße” liegt in Bre­mer­ha­ven, bis sie nach einem ver­lo­re­nen Gefecht mit einem eng­li­schen Kreu­zer am 26. August 1914 von der eige­nen Besat­zung im Atlan­tik ver­senkt wird.

Kriegspropaganda

Im gan­zen aber erlebt Bre­mer­ha­ven den Krieg nicht anders als ande­re deut­sche Städ­te. An der Hei­mat­front wird gehun­gert, und die Not ist groß. Die drei Unter­we­ser­or­te Bre­mer­ha­ven, Lehe und Geest­e­mün­de rich­ten ein gemein­sa­mes Lebens­mit­tel­amt ein. Die Brot- und Lebens­mit­tel­ver­kaufs­stel­len dür­fen nur noch bis 16.00 Uhr geöff­net haben. Und weil die Ver­sor­gung mit Lebens­mit­teln so schlecht ist, wer­den Bäcker­lä­den geplündert.

Lebensmittelkarte

Und der Krieg, der auch weit­ab von der Front über­all spür­bar ist, geht auch in Bre­mer­ha­ven nicht spur­los an der Zivil­be­völ­ke­rung vor­bei. Wohl sechs Mil­lio­nen Zivi­lis­ten sind auf bei­den Sei­ten durch Bom­ben, Hun­ger, Krank­hei­ten oder Mas­sa­ker umge­kom­men. In Deutsch­land fal­len der schlech­ten Ver­sor­gungs­la­ge mehr Men­schen zum Opfer, als den alli­ier­ten Bom­ben im Zwei­ten Weltkrieg.

1917 werden Kartoffeln rationiert

Kein krieg­füh­ren­des Land trifft Vor­be­rei­tun­gen für einen lan­gen Krieg. Gleich nach Kriegs­be­ginn 1914 erlässt Groß­bri­tan­ni­en gegen Deutsch­land ein Han­dels­em­bar­go und eine Han­dels­blo­cka­de zur See, die erst 1919 wie­der auf­ge­ho­ben wer­den soll. Auch feh­len die Nah­rungs­mit­tel­im­por­te aus Russ­land. Das führt in Deutsch­land zu einer Ver­knap­pung der Lebens­mit­tel, die jetzt ratio­niert und zwangs­be­wirt­schaf­tet und nur noch auf Kar­ten oder Bezugs­schei­ne her­aus­ge­ge­ben wer­den. Wegen der See­blo­cka­de und der feh­len­den Arbeits­kräf­te und Pfer­de in der Land­wirt­schaft gehen auch die Ern­te­er­trä­ge an Brot­ge­trei­de, Kar­tof­feln und But­ter zurück.

Warteschlange in Görlitz

Gehor­te­te und ver­steck­te Lebens­mit­tel wer­den von den Behör­den beschlag­nahmt. Nah­rungs­mit­tel, die die Sol­da­ten ver­brau­chen, fehlt der Zivil­be­völ­ke­rung. Und so hun­gern sie bei­de, Sol­da­ten wie Zivi­lis­ten. Nur wis­sen die Men­schen in der Hei­mat nicht, wie schlecht die Ver­sor­gungs­la­ge an der Front wirk­lich ist. Und man­gels Fut­ter schlach­ten die Land­wir­te schon 1915 ihre ers­ten Tie­re. Es wer­den so vie­le Schwei­ne geschlach­tet, dass das Schwei­ne­fleisch für die Dau­er des Krie­ges knapp bleibt. Haus­schlach­tun­gen müs­sen vor­her geneh­migt wer­den, sonst wird das Fleisch ein­ge­zo­gen und eine Geld­stra­fe fällig.

Hunger

Beson­ders groß ist die Hun­gers­not im “Steck­rü­ben­win­ter” 1916/1917, der uner­war­tet kommt und die phy­si­sche Wider­stands­kraft der Bevöl­ke­rung zer­mürbt. Ein ver­reg­ne­ter Herbst 1916 ver­ur­sach­te eine Kar­tof­fel­fäu­le, die die Ern­te etwa auf die Hälf­te des Vor­jah­res redu­zier­te. Es feh­len rund 95 Mil­lio­nen Zent­ner Kar­tof­feln. Und damit das Deut­sche Reich kei­ne Nah­rungs­mit­tel aus neu­tra­le Staa­ten impor­tie­ren kann, kauft die bri­ti­sche Regie­rung die­se auf. Für die Ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung wer­den jetzt Sup­pen­kü­chen ein­ge­rich­tet und Gerich­te aus Steck­rü­ben ange­bo­ten: Steck­rü­ben­sup­pe, Steck­rü­be­nauf­lauf, Steck­rü­ben­ko­te­letts, Steck­rü­ben­pud­ding, Steck­rü­ben­mar­me­la­de und Steck­rü­ben­brot. Die Steck­rü­be ist für brei­te Krei­se der Bevöl­ke­rung wich­tigs­tes Nah­rungs­mit­tel. Ob es schmeckt ist unwich­tig gewor­den, es geht nur noch ums Überleben.

Seife sparen

Und dann kommt der Win­ter mit einer unbarm­her­zi­gen Käl­te. Man­gels Holz und Koh­le kön­nen vie­le Woh­nun­gen nicht mehr beheizt wer­den. Und die Men­schen haben nicht genü­gend Klei­dung um sich zu wär­men, und so zer­fa­sern sie Brenn­nes­sel, um dar­aus Klei­dung herzustellen.

Und pro Kopf ste­hen nur noch 50 g Sei­fe im Monat zur Ver­fü­gung, die höchs­tens 20 Pro­zent Fett ent­hal­ten darf und Füll­stof­fe wie Ton und Speck­stein ent­hielt. Und wer noch Kar­tof­fel­mehl hat, der backt dar­aus sein Brot. Und wer Kleie hat, der kocht dar­aus sei­nen Kaf­fee. Aber kaum jemand hat über­haupt noch etwas als die Lebens­mit­tel­kar­ten, für die man dann doch nichts bekommt.

Rüstungsindustrie

Aber auch die­se Sei­fe kann man nur noch über Sei­fen­kar­ten bekom­men. Durch die man­gel­haf­te Kör­per­hy­gie­ne neh­men Krank­hei­ten zu. Para­si­ten und Flö­he sind an der Tages­ord­nung. Etwa 800.000 Men­schen ster­ben zwi­schen 1914 und 1918 in Deutsch­land an Hun­ger, Unter­ernäh­rung und Fol­ge­krank­hei­ten wie beson­ders Tuber­ku­lo­se. Beson­ders groß ist die Sterb­lich­keit der Frau­en und der Säug­lin­ge, die nicht genü­gend Milch von der Mut­ter bekommen.

Frauen in der Rüstungsindustrie

Und die lebens­wich­ti­gen Güter wer­den immer knap­per, und so wird im Febru­ar 1916 die But­ter­kar­te ein­ge­führt, und im Mai 1916 folgt die Zucker­kar­te, im Juni 1916 dann die Kar­tof­fel­kar­te und der Beginn der Klei­der­be­wirt­schaf­tung, im August 1916 die Fleischkarte,nachdem zunächst eine Zeit­lang der Fleisch­ver­kauf auf bestimm­te Wochen­ta­ge beschränkt war.

Und so fah­ren die Leu­te zum Hams­tern aufs Land. Wer Wert­ge­gen­stän­de hat, der tauscht sie ein gegen Lebens­mit­tel. Die ärme­ren Men­schen ver­su­chen, Nah­rungs­mit­tel von den Fel­dern zu stehlen.

Schaffnerin in der Straßenbahn

Den zuneh­mend tota­len Krieg bekommt an der Hei­mat­front auch die Wirt­schaft zu spü­ren. Sie wird rigo­ros auf Kriegs­pro­duk­ti­on umge­stellt. Und in Bre­mer­ha­ven und in vie­len ande­ren Städ­ten wer­den immer mehr Frau­en zum Kriegs­ein­satz herangezogen.Sie arbei­ten in der Rüs­tungs­in­dus­trie, als Stra­ßen­bahn­schaff­ne­rin oder als Kran­ken­schwes­ter im Laza­rett­dienst. Zwi­schen 1915 und 1918 wer­den 39 Schaff­ne­rin­nen und 29 wei­te­re Frau­en für sons­ti­ge Hil­fe­leis­tun­gen auf­grund des 1. Welt­krie­ges  bei der Bre­mer­ha­ve­ner Stra­ßen­bahn eingestellt.

Straßenbahnschaffnerin in Bremerhaven

Da Strom gespart wer­den muss, wird der Wagen­takt stark redu­ziert und vie­le Hal­te­stel­len nicht mehr ange­fah­ren. Die Linie 5 ver­kehrt nicht mehr und auch die Stre­cken zur Geest­e­fäh­re und zum Klein­bahn­hof Wuls­dorf-West wer­den gestri­chen. Eben­so wird der Stra­ßen­bahn­be­trieb in den Hafen­ge­bie­ten ein­ge­stellt. Und immer wie­der rufen die Behör­den auch die pri­va­ten Haus­hal­te dazu auf, noch mehr Strom zu sparen.

Reservelazarett

Für die Ver­wun­de­ten und Ver­stüm­mel­ten ent­ste­hen über­all im Deut­schen Reich in leer­ge­räum­ten Schu­len, Fabrik­hal­len und Sälen Reser­ve-Laza­ret­te, in denen leicht ver­wun­de­te Sol­da­ten für einen erneu­ten Front­ein­satz gesund gepflegt wer­den. Und die Zahl der Kriegs­ver­letz­ten wird immer grö­ßer, und die Laza­ret­te sind über­füllt. Und trotz­dem schei­nen sie bes­ser dran zu sein als die vie­len Toten, die im Kugel­ha­gel oder durch Gift­gas oder Gra­na­ten ihr Leben ver­lie­ren und die Hei­mat nie wie­der sehen.

Lazarettzug

Die Ver­wun­de­ten wer­den nun mit einem Laza­rett­zug in die Hei­mat trans­por­tiert, um sie dort in einem Kran­ken­haus gesund zu pfle­gen. In Bre­mer­ha­ven befin­det sich das 1882 eröff­ne­te Kran­ken­haus direkt gegen­über der 1910 erbau­ten Pestalozzischule.

Lazarettwagen

Die Kriegs­kos­ten sind enorm – Finanz­mit­tel in unvor­stell­ba­rer Höhe müs­sen auf­ge­bracht wer­den.  Die Bevöl­ke­rung wird auf­ge­ru­fen, Reichs­an­lei­hen zu zeich­nen, die nach dem Sieg mit Zin­sen zurück­be­zahlt wer­den. Bis zum Ende des Jah­res 1918 hat das Reich 150 Mil­li­ar­den Reichs­mark Schul­den ange­häuft – eine Ver­schul­dung, die drei­ßig Mal höher als vor Kriegs­be­ginn ist.

Christuskirche

Und an der Hei­mat­front spen­den die Patrio­ten Kup­fer und Mes­sing, damit man dar­aus Kano­nen machen kann. Sogar Kir­chen­glo­cken und kup­fer­ne Turm- und Kir­chen­dä­cher wer­den zum Ein­schmel­zen demon­tiert. Gast­wirt­schaf­ten wer­den auf­ge­for­dert, zin­ner­ne Bier­krü­ge samt zin­ner­ne Deckel abzu­lie­fern. Und für die Devi­sen­be­schaf­fung gibt der kai­ser­treue Deut­sche sei­ne Gold­mün­zen und Schmuck­sa­chen her.

Plakat für die Frauenhaarsammlung

Die Frau­en wer­den auf­ge­ru­fen, ihre Haa­re zu spen­den als Ersatz für kaum noch erhält­li­ches Kamel­haar für die deut­sche Kriegs­in­dus­trie. Treib­rie­men, Filz­plat­ten und Dich­tun­gen wer­den dar­aus her­ge­stellt. Und die Frau­en spen­den wäh­rend des Krie­ges vol­ler Eifer meh­re­re hun­dert Ton­nen Haa­re. Beson­ders flei­ßig sam­meln über­all die Schul­mäd­chen mit patrio­ti­schem Eifer. Und um zu ver­hin­dern, dass sich die Frau­en und Mäd­chen die Haa­re abschnei­den, neh­men die Sam­mel­stel­len des Roten Kreu­zes nur noch aus­ge­bürs­te­te Haa­re entgegen.

Die Bevöl­ke­rung wird auf­ge­ru­fen, Edel­me­tall ein­zu­tau­schen: “Gold gab ich zur Wehr, Eisen nahm ich zur Ehr.” Die Gör­lit­zer las­sen gegen eine Geld­spen­de für Kriegs­wai­sen einen Nagel in eine Holz­fi­gur schla­gen, bis die­se schließ­lich wie in eine metal­le­ne Rüs­tung gehüllt aus­sieht. Und in Bre­men zim­mern die Spen­der ihren Nagel in einen höl­zer­nen Roland, bis dar­aus ein eiser­ner gewor­den ist. Die Bre­mer­ha­ve­ner trei­ben ihre Nägel in ein Wap­pen, das vor der Gro­ßen Kir­che steht.

Nagelwappen

Das Kriegse­lend und die aus­weg­lo­se Ver­sor­gungs­la­ge bringt die Bevöl­ke­rung über­all auf die Bar­ri­ka­den. Am 29. Okto­ber 1918 meu­tern in Wil­helms­ha­ven die Matro­sen. In Kiel tre­ten Matro­sen und Werft­ar­bei­ter in den offe­nen Auf­stand und schließ­lich springt der revo­lu­tio­nä­re Fun­ke auch in die ande­ren Hafen­städ­te des Rei­ches über. Rund zwei Wochen spä­ter ist der Krieg zu Ende und in Ber­lin wird die Repu­blik ausgerufen.

Waffenstillstand

Wil­helm II. aber, der sich immer noch als Kai­ser von Got­tes Gna­den betrach­tet,   nimmt Asyl im Haus Doorn in der Pro­vinz Utrecht in den Nie­der­lan­den, hält Hof und lässt sich wei­ter­hin mit “Sei­ne Majes­tät” anspre­chen. Und als die Wehr­macht 1940 Frank­reich, Bel­gi­en und die Nie­der­lan­de erobert, schickt Wil­helm II. ein Glück­wunsch­te­le­gramm an Adolf Hit­ler. Wil­helm stirbt am 4. Juni 1941 im Exil im Alter von 82 Jah­ren an einer Lungenembolie.

Kriegerdenkmal Wulsdorf

Und  die Kriegs­be­geis­te­rung, mit der das deut­sche Volk in den Krieg gezo­gen ist, ist längst der Ernüch­te­rung, Ent­täu­schung, Ver­zweif­lung und Rat­lo­sig­keit gewi­chen. Zurück­ge­blie­ben sind Schmerz und Trau­er um den gefal­le­nen Sohn, um den Vater, der jetzt für sei­ne Kin­der nicht mehr da ist, um den Bru­der, den man nie­mals wie­der­se­hen wird oder um den Freund, mit dem man sein gan­zes Leben ver­brin­gen woll­te. Sie alle kom­men nie mehr wie­der, auch nicht die 2.488 gefal­le­nen Män­ner aus den vier Unter­we­ser­or­ten, die als “Kriegs­ster­be­fäl­le bei den Stan­des­äm­tern beur­kun­det” sind. Und wer heim­keh­ren darf ist ver­wun­det, ver­stüm­melt und psy­chisch schwer krank.

Und in der Hei­mat haben Man­gel­wirt­schaft, Unter­ernäh­rung und Aus­zeh­rung Gevat­ter Tod bedient.

Kriegerdenkmal der Matrosen-Artillerie

Und da bleibt eine gro­ße Lee­re und die Gemein­den ver­su­chen den kol­lek­ti­ven Schmerz zu ver­ar­bei­ten. So gehen sie dabei, die Insti­tu­tio­nen und die Ver­ei­ne und die Kame­rad­schaf­ten und stel­len zum Geden­ken an die Gefal­le­nen Denk­mä­ler und Gedenk­stei­ne auf, auch als Mahn­ma­le an einen grau­sa­men Krieg und dass sich die­se Höl­le nicht wie­der­ho­len soll.

Und auf dem Fried­hof an der Weser­stra­ße trägt eine von alten Bäu­men umsäum­te Klin­ker­py­ra­mi­de die Namen von 680 gefal­le­nen Söh­nen, Vätern, Brü­dern und Freun­den der dama­li­gen Stadt Bre­mer­ha­ven und 81 schlich­te Sol­da­ten­grä­ber umrah­men das Ehrenmal.

Auf dem Leher Fried­hof III lie­gen unter alten Bäu­men 154 Grä­ber von Sol­da­ten des Ers­ten Welt­krie­ges, und auch auf dem Geest­e­mün­der Fried­hof ruhen 18 Sol­da­ten in ihren Gräbern.

Und die Frie­dens­schlüs­se von 1919/1920 kön­nen den Kon­ti­nent doch nicht dau­er­haft befrie­den. Die Sie­ger neh­men an den Ver­lie­rern bit­te­re Rache und zwin­gen ihnen demü­ti­gen­de Bedin­gun­gen auf.

Versailler Vertrag

Sämt­li­che Kolo­nien sowie etwa 13 Pro­zent des vor­he­ri­gen Gebie­tes müs­sen abge­tre­ten wer­den. Dazu zäh­len Elsass-Loth­rin­gen (an Frank­reich), West­preu­ßen, die Pro­vinz Posen und Tei­le Schle­si­ens (an Polen), die Krei­se Eupen und Mal­me­dy (an Bel­gi­en) sowie das Saar­ge­biet, Dan­zig und das Memel­land (unter Ver­wal­tung des Völ­ker­bun­des).

Dann wird im Ver­sailler Ver­trag fest­ge­legt, dass Deutsch­land 20 Mil­li­ar­den Gold­mark bis April 1921 zu zah­len hat und außer­dem den größ­ten Teil sei­ner Han­dels­flot­te abzu­ge­ben hat. Der Ver­lust der Han­dels­flot­te führt zu einer erheb­li­chen Beein­träch­ti­gung der Export­ge­schäf­te. Erst im Okto­ber 2010 wird die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land mehr als 90 Jah­re nach Kriegs­en­de die letz­te Schul­den­ra­te bezahlt haben.

Und dann kom­men die Natio­nal­so­zia­lis­ten an die Macht und so schließt  trotz allem Elends, den Sol­da­ten und Zivil­be­völ­ke­rung zu erlei­den haben, die Höl­le ihre Tore nur für eine kur­ze Zeit. Seit Beginn des Ers­ten Welt­krie­ges ver­ge­hen mal gra­de 25 Jah­re bis zum Aus­bruch des Zwei­ten Welt­krie­ges, der eine wei­te­re Gene­ra­ti­on jun­ger Men­schen verschlingt.

RingelnatzDer Krieg zeigt sei­ne Kral­len”, schreibt Rin­gel­natz in sei­nen Moment­auf­nah­men eines “Krie­ges in der Etap­pe”. Und Rin­gel­natz muss sich dem tat­säch­li­chen Hor­ror auf dem “Tanz­platz des Todes” stellen.

 

 

 

Im Westen nichts NeuesErich Maria Remar­que beschreibt in sei­nem welt­be­kannt gewor­de­nen Roman “Im Wes­ten nichts Neu­es”,  wie sich sei­ne vom Tode gehetz­ten Roman­fi­gu­ren selbst zu gefühl­lo­sen Wesen ver­wan­deln, Sol­da­ten, aus denen gefähr­li­che Tie­re gewor­den sind, nur noch am Über­le­ben inter­es­siert. Er beschreibt nicht nur das Leben und Über­le­ben an der Front. Auch die unvor­stell­ba­ren Gescheh­nis­se in der Hei­mat, auf den Ver­bands­plät­zen und im Laza­rett, die doch täg­lich Wirk­lich­keit wer­den, las­sen dem Leser das Grau­en nach­emp­fin­den. Remar­ques Figu­ren haben kei­ne Zukunft. Sie kämp­fen den gna­den­lo­sen Über­le­bens­kampf der Gegen­wart und erin­nern sich manch­mal erschöpft an schö­ne­re Stun­den, die weit zurück in der Ver­gan­gen­heit liegen.

Quel­len:
Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bildung
Staats­ar­chiv Bremen
150jahre.drk.de
preussenchronik.de
aera-magazin.de
Süddeutsche.de
radio bre­men
msn wis­sen
Mei­ne Feder werd’ zur Lanze!
GEO-Epo­che Nr. 65: 1914 – Das Schick­sals­jahr der Deut­schen, diver­se Seiten
SPIEGEL vom 30.12.2013, Sei­te 34, 36
NZ vom 5.7.2014, Sei­te 4
NZ vom 19.8.2014, Sei­te 5
NZ vom 21.08.2014, Sei­te 6, 18
DIE WELT vom 05.08.2014, Sei­te 26
Georg Bes­sel: Geschich­te Bre­mer­ha­vens, Sei­ten 574 bis 576
Har­ry Gab­cke: Bre­mer­ha­ven in zwei Jahr­hun­der­ten 1919 — 1947, Sei­te 10
Har­ry Gab­cke: Bre­mer­ha­ven in zwei Jahr­hun­der­ten 1827 – 1918,
Sei­ten 198 bis 201
Buchard Schee­per: Die jün­ge­re Geschich­te der Stadt Bremerhaven,
Sei­ten 100 bis 116
Peter Raap:
Nie­der­deut­sches Hei­mat­blatt Nr. 727 vom Juli 2010, Sei­ten 2 und 3

Oda Kelch: Erinnerungen an meine Georgstraße

Erin­ne­run­gen an mei­ne Georg­stra­ße” habe ich die­sem Arti­kel als Über­schrift gege­ben. Dazu mei­nen ganz lie­ben Dank an Oda Kelch, die mir ihre auf­ge­schrie­be­nen Kind­heits­er­in­ne­run­gen an “ihre gelieb­te Georg­stra­ße” zur Ver­fü­gung gestellt hat mit der Erlaub­nis, die­sen Wis­sens­schatz für die Leser des “Deich­SPIE­GEL” zu veröffentlichen. 

Erinnerungen an meine Georgstraße

Seit 1847 gibt es Geest­e­mün­de, vom dama­li­gen König Georg V ( Sohn von König Ernst August, vor­mals Her­zog von Cum­ber­land — Sohn Georg III von Eng­land — und sei­ner Gemah­lin Frie­de­ri­ke, Schwes­ter der belieb­ten Köni­gin Lui­se von Preu­ßen ) gegrün­det. Seit 1862 die Eisen­bahn­ver­bin­dung, die “Geest­e­bahn”, nach Bremen.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Und einer von den dort beschäf­tig­ten Loko­mo­tiv­füh­rern war mein Urgroß­va­ter. Er bewohn­te mit sei­ner Fami­lie eine Dienst­woh­nung nahe dem Bahn­hofs­ge­bäu­de, Ecke Ell­horn­stra­ße und war ein­ge­fleisch­ter “Wel­fe”, wie sich die dama­li­gen “Fans” des han­no­ver­schen Königs­hau­ses nannten.

1864 wur­de mein Groß­va­ter Bern­hard Knob­lauch gebo­ren. Zwei Jah­re spä­ter dann die natio­na­le Kata­stro­phe: König­grätz. Das Water­loo für alle “Wel­fen”. Aber spä­ter nahm mein Urgroß­va­ter die preu­ßi­sche Pen­si­on ohne Mur­ren hin. Mit den neu­en Her­ren wur­de vie­les anders. Der Bahn­hof wur­de um etli­ches erwei­tert, und dafür muss­ten die Dienst­woh­nun­gen abge­ris­sen und die Bewoh­ner umge­sie­delt wer­den. Knob­lauchs zogen um in die dama­li­ge Markt­stra­ße, heu­te Ver­de­ner Stra­ße, in Altgeestemünde.

Ihre Nach­barn waren Harz­mey­ers, deren Fami­li­en­ober­haupt der Schuh­ma­cher Her­mann war. Wie vie­le Kin­der jede Fami­lie hat­te und um wel­che Zeit sich das alles abspiel­te, weiß ich nicht. Von Erzäh­lun­gen mei­ner Mut­ter, Groß­mutter, ‑vater, ‑tan­te ist mir ledig­lich bekannt, dass mein Groß­va­ter und der Sohn Her­mann Harz­mey­er enge Freun­de wur­den. Jung-Harz­mey­er lern­te das Schuh­ma­cher-Hand­werk, mein Groß­va­ter das des Uhr­ma­chers. Nach der Leh­re ging er als Gehil­fe für eini­ge Zeit nach Sangershausen.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Als er zurück­kam und sei­nen Freund und Nach­barn begrü­ßen woll­te, stand des­sen Schwes­ter  Hele­ne  im Raum. Nach sei­nem Weg­gang sag­te sie ent­setzt zu ihrer Mut­ter: ” Nee doch, dis­sen swat­ten Dübel!” — Kur­ze Zeit spä­ter waren sie ver­lobt. Das alles spiel­te sich in Geest­e­mün­de ab. Süd­öst­lich davon lag — und liegt heu­te noch — die Gemar­kung Geest­en­dorf, durch die sich die Bre­mer Land­stra­ße hin­zog. Sie war in “Georg­stra­ße” umbe­nannt wor­den ( nach dem letz­ten han­no­ver­schen König ) und soll­te nun bebaut wer­den. Mein Groß­va­ter und sein — mitt­ler­wei­le — Schwa­ger grif­fen zu.  Auch hier­von weiß ich nicht die Zeit. Es muss in den aus­ge­hen­den 1980er Jah­ren gewe­sen sein.

Mein Opa hat­te im Haus Georg­stra­ße 43 einen Laden, in dem er in einem Hin­ter­zim­mer sei­ne Werk­statt und die Fami­lie ihre Wohn­räu­me ein­schließ­lich Küche hat­te. Irgend­wann gab es auch Gas­be­leuch­tung. Die dazu­ge­hö­ri­gen Roh­re waren noch 1944 zu sehen. Da mein Groß­va­ter immer die Nase vorn hat­te, gab es aber bald Elek­tri­zi­tät. Haus­be­sit­zer war sei­ner­zeit noch ein Tier­arzt. Um das Vieh auf dem Hof anzu­bin­den, hat­te er Rin­ge in das Neben­haus Nr. 45 schla­gen las­sen, die von spä­te­ren Gene­ra­tio­nen Mäd­chen zum Seil­sprin­gen benutzt wurden.

Wie kam man auf den Hof, der doch rings­um von Gebäu­den umge­ben war? Wenn man sich das Haus auf alten Fotos ansieht, erkennt man ganz links ein Bar­bier­ge­schäft. Das gab es ursprüng­lich nicht, denn da war die Ein­fahrt zum Hof. Als man die nicht mehr brauch­te, hat man davon einen Laden gemacht.

Wann mein Opa das Haus kau­fen konn­te, weiß ich nicht. Mei­ne Mut­ter und ihre Schwes­ter haben jeden­falls ihre ers­ten Lebens­jah­re noch im Laden ver­bracht. “Von Sporn un Worn kommt Heb­ben von her” — und die Ver­mie­tung der Woh­nun­gen brach­te schon aller­lei ein. Da konn­te man sich selbst einschränken.

Irgend­wann wur­de das Hin­ter­haus gebaut. Zunächst als Wohn­haus, dann als Dru­cke­rei. Bis nach dem Krieg war die “Weser­dru­cke­rei” Inha­ber. Frü­he­re Inha­ber waren u.a. Nieb­ling & Feld­ba­cher, die im Vor­der­haus den klei­nen Laden links vom Ein­gang, also zwi­schen dem gro­ßen Laden und dem Bar­bier hat­ten. Wie lan­ge, das weiß ich nicht. Mei­ne Erin­ne­rung setzt erst ein, als Herr und Frau Birn­baum dort ein Musi­ka­li­en­ge­schäft hat­ten. Das Inter­es­san­tes­te an ihnen war, dass sie nicht in einem gewöhn­li­chen Haus wohn­ten, son­dern hin­ten in Lehe in einem Wochen­end­haus, und bei einer Über­schwem­mung ihre Hüh­ner im Wohn­haus hat­ten. Ich habe es mir ange­se­hen als mein Vater mit mir dahin fuhr.

Anfang des Krie­ges zogen sie aus. Thams & Garfs hat­ten Inter­es­se an unse­rem gro­ßen Laden. Da nahm mein Vater den klei­nen und über­ließ ihnen den ande­ren. Aber ich grei­fe schon vor.

Irgen­wann zogen mei­ne Groß­el­tern in den zwei­ten Stock des Hau­ses. Auf dem Foto steht mei­ne Groß­mutter mit mei­ner Mut­ter (gebo­ren 1896) und mei­ner Tan­te (gebo­ren 1898) auf dem Bal­kon. Aus den Fens­tern gucken die übri­gen Haus­be­woh­ner, denn es war ja vor­her ange­kün­digt wor­den, dass ein Foto­graf kommt. Unten im gro­ßen Haus­ein­gang steht mein Groß­va­ter mit Ange­stell­ten oder Passanten.

Das Haus hat­te zwei Eta­gen mit ins­ge­samt vier Woh­nun­gen. Ganz oben war ein gro­ßer Boden mit etli­chen Boden­kam­mern und einer Wasch­kü­che, die mein Groß­va­ter nach den moderns­ten Gesichts­punk­ten hat­te ein­rich­ten las­sen. Der übri­ge Boden­raum war mit Lei­nen bespannt und dien­te zum Trock­nen. Aller­dings waren auch Zieh­lei­nen von den Bal­kons zum Kon­tor­haus der Dru­cke­rei gespannt zum Trock­nen bei schö­nem Wet­ter. Noch heu­te habe ich das Quiet­schen und das Geräusch der ros­ti­gen Sei­le beim Hin- und Her­zie­hen in den Ohren.

Außer­dem lagen auf dem Boden die Fah­nen. Mei­ne ers­te Erin­ne­rung waren die schwarz-weiß-rote, gro­ße, lan­ge, schwe­re. Spä­ter irgend­wann kam eine klei­ne Haken­kreuz­fah­ne dazu. Und eines Tages gab es nur noch sol­che, aber auch gro­ße. Geflaggt wur­de viel. War auch kein Pro­blem. Nur waren die Mas­ten so schwer, dass nur Män­ner sie bewäl­ti­gen konn­ten. Und für uns Kin­der jedes Mal span­nend. Mein Groß­va­ter und mein Vater haben aber sicher­lich mit den Zäh­nen wegen der Ände­rung zum Haken­kreuz geknirscht. Gesagt haben sie in Gegen­wart von uns Kin­dern nichts — wie eh und je.

Und dann war da oben noch eine Kam­mer. Wir waren ja in Preu­ßen (oder war das woan­ders auch so?). Ob sie jemals dazu gedient hat, Ein­quar­tie­rung auf­zu­neh­men, weiß ich nicht. Ich habe nur in Erin­ne­rung, dass wir ein­mal wel­che hat­ten, ob Sol­da­ten oder “braun”. Ansons­ten spiel­ten wir Kin­der gern dar­in, weil da alte aus­ran­gier­te Möbel stan­den, die so herr­lich rochen, knarr­ten, quietsch­ten und das Fens­ter so schön nied­rig war, und man so weit gucken konnte.

Am schöns­ten war ein alter Bar­bier­stuhl aus dem Nach­lass mei­nes Groß­va­ters Andre­as Kelch. Viel anfan­gen konn­ten wir nicht mit dem Möbel­stück, aber er dreh­te sich wie unser Kla­vier­ho­cker. Dass man sol­che Behau­sung anbot, ver­ste­he ich heu­te nicht. Es fehl­te näm­lich die heu­te selbst­ver­ständ­li­che sani­tä­re Ein­rich­tung. Statt des­sen: Nacht­pott und Waschschüssel.

Der sani­tä­re Stan­dard, den wir heu­te haben, fehl­te sowie­so im Haus. Flie­ßend Kalt­was­ser gab es zwar in jeder Woh­nung. Aber die Klo­setts waren auf dem Bal­kon, bzw. ein Pis­soir für die Läden auf dem Hof. Mei­ne Groß­el­tern hat­ten in ihrer Woh­nung aus einem Zim­mer ein Bade­zim­mer machen las­sen. Das war wohl auch spä­ter sehr nötig, denn mein Groß­va­ter war durch einen Schlag­an­fall halb­sei­tig gelähmt.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Doch erst mal wie­der zurück zur Anfangs­zeit. Bern­hard Knob­lauch hat­te das Haus Georg­stra­ße 43, sein Freund und Schwa­ger — viel­leicht auch noch sein Schwie­ger­va­ter — das Haus Georg­stra­ße 41. Auf jeden Fall aber sei­ne Schwie­ger­mut­ter, Oma Harz­mey­er Tabe­ta, geb. Mahl­stedt aus Gan­der­ke­see, mei­ne Urgroß­mutter. Die hat­te die Hosen an! Ihre Toch­ter, mei­ne Groß­mutter, eben­so. Das war wohl so üblich. Sie waren die See­le vom Gan­zen. Wie hät­ten die Hand­wer­ker es sonst schaf­fen kön­nen? Mein Opa Knob­lauch brach­te zum Bei­spiel häu­fig bei ihm gekauf­te oder repa­rier­te gro­ße Uhren per­sön­lich zu den Kun­den auf das Land, denn er hat­te eine gro­ße Land­kund­schaft. Daher war es auch selbst­ver­ständ­lich, dass er platt schnack­te — und Frau und Toch­ter, die im Laden hal­fen, ebenso.

Das alles ohne eige­nes Fahr­zeug. Er war auf öffent­li­che Trans­port­mit­tel ange­wie­sen und mach­te vie­le Stre­cken zu Fuß. Es gab aber auch Lus­ti­ges: eines Tages kam eine Frau in den Laden und ließ sich ziem­lich kost­spie­li­gen Schmuck vor­le­gen. Als mei­ne Mut­ter dann vor­sorg­lich auf den hohen Preis hin­wies, erwi­der­te sie see­len­ru­hig: “Macht nix, min Mann fohrt dor ja för.”

Heu­te, 2014, wird in den Medi­en immer wie­der auf die ver­gan­ge­nen 100 Jah­re hin­ge­wie­sen und man könn­te glau­ben, sie erzäh­len von der Stein­zeit. Mir dage­gen sind die ver­gan­ge­nen 100 Jah­re wie ges­tern, obwohl ich sie nur zur Hälf­te erlebt habe. Das habe ich mei­ner Mut­ter, mei­nen Groß­el­tern und Tan­ten zu ver­dan­ken. Die konn­ten viel erzäh­len. Irgend­wo in Geest­e­mün­de, in der Georg­stra­ße und “umzu” wohn­ten sie alle, kann­ten sich alle, waren zusam­men zur Schu­le oder in die Tanz­stun­de gegan­gen, hat­ten bei Fräu­lein Block in der Gra­ben­stra­ße (heu­te Ram­sau­er­stra­ße) Weiß­nä­hen gelernt, oder “die fei­ne Küche” bei Lehr­ke, oder hat­ten Wan­de­run­gen mit dem Wan­der­vo­gel gemacht, waren in einem Turn­ver­ein (GTV oder GSC) oder Gesangs­ver­ein oder zog mit dem Wan­der­vo­gel durch die Lande.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Es gab noch kei­ne Teen­ager, aber dafür Back­fi­sche. Und die gin­gen auf der Georg­stra­ße bum­meln (Die Stei­ge­rung war “bür­gern”). Mit 14 Jahr und 7 Wochen ist der Back­fisch aus­ge­kro­chen. Dafür gab es extra Kett­chen mit einem klei­nen Fisch. Zu mei­ner Zeit war das nur noch Erin­ne­rung mei­ner Mut­ter und Tan­ten. Die­se 14/15jährigen trip­pel­ten dann mit ihren Stie­fel­chen und Hin- und Her­bü­del (Pom­pa­dur) die Georg­stra­ße auf und ab, schiel­ten ver­stoh­len zur Sei­te, wo die Pen­nä­ler eben­falls auf und ab schlen­der­ten und ver­mut­lich auch ver­stoh­len zu den jun­gen Damen schiel­ten. Jeden­falls zogen sie hin und wie­der ihre damals übli­chen Schü­ler­müt­zen zum Gruß. Sehr förm­lich! Auf der weib­li­chen Sei­te wur­de die Gegrüß­te sicher­lich rot und ver­le­gen — ver­gaß aber nicht, die Sache ins Notiz­buch einzutragen.

War die Cho­se vor­bei, wur­de unter den Freun­din­nen aus­ge­zählt, wer die meis­ten Grü­ße bekom­men hat­te. Aber nicht nur die Anzahl zähl­te, son­dern auch — und vor allen Din­gen — die Far­be der Müt­zen. Ein­zel­hei­ten weiß ich nicht mehr, aber soviel, dass die wei­ßen den höchs­ten Wert hat­ten. Das waren die Pri­ma­ner (spä­ter Ober­pri­ma­ner). Aber auch die­se Epi­so­den habe ich nicht mehr erlebt.

Mei­ne Erin­ne­rung von der Georg­stra­ße 43, in der ich auf­ge­wach­sen bin, setzt eigent­lich ein mit dem Aus­gu­cken vom Erker­fens­ter mei­ner Groß­el­tern. Das war unge­heu­er viel. Anfang der 1930er Jah­re. Da fuh­ren noch Pfer­de­fuhr­wer­ke durch die Stadt, Rind­vieh wur­de — ich weiß nicht, woher — durch die Stra­ße zum Schlacht­hof getrie­ben. Ein­mal woll­te eine Kuh nicht mit­ma­chen son­dern zog unse­ren Haus­ein­gang und den dahin­ter lie­gen­den Hof und Gar­ten vor. Mein Vater, der den Umgang mit Vie­chern kann­te, brach­te sie dann wie­der zur Her­de zurück.

Dann war da auch ein Stein­koh­len­wa­gen, mit dem die Häu­ser von der Stra­ße her belie­fert wur­den. Und Frau Sche­we an der Ecke Georg- und Ram­sau­er­stra­ße, unse­rem Erker direkt gegen­über, die vom ihrem Kar­ren aus per Liter­maß Gra­nat verkaufte.

Und der Later­nen­mann. Vor unse­rem Haus stand eine alte Later­ne. Wie­so, weiß ich nicht, denn es gab doch nor­ma­ler Wei­se Stra­ßen­be­leuch­tung. Und zu eben die­ser Later­ne kam hin und wie­der ein Later­nen­mann mit einer lan­gen Stan­ge. Was er damit oben an der Later­ne mach­te, weiß ich nicht.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Eben­so schön anzu­se­hen waren die Trau­er­zü­ge. Ach, waren die schön! Eine Kut­sche wie für einen König, aber nicht gol­den son­dern schwarz, mit Kut­scher, und viel Blu­men und Musik­ka­pel­le, die den Trau­er­marsch spiel­te. Opa sang dann immer: “Ach, nun trinkt er kei­nen Rots­pon mehr.” Meis­tens gin­gen vie­le Men­schen mit. Dann schau­kel­te die Men­ge im ein­tö­ni­gen Rhyth­mus immer von links nach rechts und wie­der zurück.

Aber auch moder­ne Fahr­zeu­ge gab es zu sehen: Autos! Wir hat­ten Spaß dar­an, uns die KFZ-Num­mern anzu­se­hen. IA war Ber­lin , die ande­ren weiß ich nicht. Ich glau­be, wir, das heißt unse­re Umge­bung, gehör­ten zu Han­no­ver und war IIIA. Inter­es­san­ter war für mich damals, dass die Wagen sich so ver­än­der­ten. Zum Bei­spiel die Schein­wer­fer oder die Fens­ter oder die Hupen. Wir setz­ten unse­ren Ehr­geiz dar­ein, die Autos mit ihrem Namen zu ken­nen: Opel, Adler, Ford — aber damit war mein Bedarf dann auch gedeckt. Wir hat­ten kein Auto, mein Vater spar­te auf einen VW.

Spä­ter kamen dann die Blau­en Jungs. Die mar­schier­ten mit Gesang durch die Stra­ße, mal in blau, mal in Trai­nings­zeug. Irgend­wo im Süden hat­ten sie einen Trai­nings­platz — und im Nor­den war ihre Kaser­ne. Und hin und wie­der war es auch braun. Ich hat­te immer mei­nen Spaß an den Dane­ben­lau­fen­den, die dann immer “links, links, links zwo drei vier” schrien um eini­ger­ma­ßen Gleich­schritt in die Trup­pe zu kriegen.

Noch konn­te man quer über die Stra­ße zur ande­ren Sei­te lau­fen. Damit war irgend­wann Schluss. Ein Schu­po stand in der Mit­te der Georg­stra­ße, da wo sich die Bucht- und die Ram­sau­er­stra­ße tra­fen, und regel­te den Ver­kehr. Wir Kin­der spiel­ten mit Oma und Opa ein Brett­spiel, das uns die Ver­kehrs­re­geln beibrachte.

Nur frei­tags­nachts war von der neu­en Ord­nung nichts mehr zu spü­ren. Dann beka­men die Arbei­ter von See­becks Werft ihren Lohn. Wer nicht schon am Tor von sei­ner Frau abge­fan­gen wor­den war und mit dem Zug nach Haus fah­ren muss­te, kam auf dem Weg zum Bahn­hof durch die Ram­sau­er­stra­ße, in der es eine Knei­pe gab. Von unse­rem Kin­der­zim­mer­fens­ter aus konn­te man direkt in die Ram­sau­er­stra­ße sehen. Wenn wir in unse­ren Bet­ten lagen, hör­ten wir dann die Grö­le­rei und spä­ter den Krach beim Ver­las­sen des Lokals.

Eines Nachts war es anders, es war kein Frei­tag und kein Sau­ferei­ge­grö­le, es war ein ande­res Gegrö­le und viel, viel Schei­ben­ge­klir­re. Es war, als leg­te sich ein schwe­res Brett über uns. Wir Kin­der ver­such­ten, aus dem Fens­ter zu sehen, wur­den aber von den Eltern zurück­ge­hal­ten. An irgend­wel­che Gesprä­che mit ihnen kann ich mich nicht erin­nern. Es war der 9. Novem­ber 1937. Auch an Rauch­ge­ruch kann ich mich nicht erinnern.

Am nächs­ten Tag fehl­te Hen­ni Horn­berg in der Klas­se. Hen­ni war Jüdin und saß in der Bank­rei­he neben mir auf der ande­ren Sei­te. Ich wuss­te, dass ich nicht mit ihr und sie nicht mit mir spre­chen durf­te. Hat­te es aber den­noch getan. Wir hat­ten eine Leh­re­rin, Fräu­lein Jun­ge, die so war, wie ein Mensch sein muss. Und eine Leh­re­rin ist für alle da. Und so ach­te­te sie immer dar­auf, dass Hen­ni eine Schü­le­rin wie alle ande­ren war. Ob Fräu­lein Jun­ge nicht merk­te, dass ich mit Hen­ni sprach, glau­be ich nicht, denn sie bemerk­te in mei­nem Zeug­nis: “Oda muss bedeu­tend ruhi­ger wer­den.” Aber zu mei­ner Quas­se­lei mit Hen­ni sag­te sie nie was.

Als Hen­ni dann wie­der­kam, frag­te ich sie sofort wegen der Nacht aus, und sie erzähl­te mir, dass man bei ihnen die Schei­ben ein­ge­schla­gen und ihren Vater mit­ge­nom­men hät­te. Ihrer klei­nen Schwes­ter haben sie dann gesagt, dass der Papa bald wie­der­kom­men und Bon­bons mit­brin­gen wür­de. Das war das Letz­te, was ich von Hen­ni weiß. Spä­ter, als ich mal einen Tag nicht in der Klas­se war, sind — so wur­de mir spä­ter erzählt — zwei Män­ner in Män­teln gekom­men und haben sie abge­holt. Da hat Fräu­lein Jun­ge dar­um gebe­ten, dass Hen­ni noch ein Lied für alle singt, weil sie das so gern tat. Als Jüdin durf­te sie zwar kei­ne “deut­schen” Lie­der sin­gen. Aber gegen jüdi­sche Kom­po­nis­ten war nichts ein­zu­wen­den. Also sang sie “Ich hab ein Diw­an­püpp­chen süß und rei­zend wie du” aus einer Ope­ret­te von Paul Abra­ham, das sie auch liebte.

Jah­re spä­ter las ich, dass sie und ihre Fami­lie in Minsk umge­bracht wor­den ist. Mei­ne Mut­ter und ich lasen das zusam­men anläss­lich einer Ver­an­stal­tung. Für mei­ne Mut­ter wur­den vie­le Erin­ne­run­gen wach, und sie erzähl­te mir von jüdi­schen Geschäfts­leu­ten, bei denen sie und die bei ihrem Vater Kun­den gewe­sen waren und wel­che guten Geschäfts­ver­bin­dun­gen man pfleg­te. Als sie zum Bei­spiel in der Kai­ser­zeit ihren ers­ten Faschings­ball hat­te, beriet sie einer der Her­ren. Und Fräu­lein Lieb­mann, deren Geschäft spä­ter ari­siert wur­de, hat­te immer etwas Beson­de­res für sie. Sie wur­de auch umge­bracht. Mei­ne Mut­ter sprach noch jah­re­lang von ihr.

Uns gegen­über, Ecke Ram­sau­er­stra­ße, war Anton Kohn. Mein Groß­va­ter und spä­ter mein Vater stan­den immer mal im gro­ßen Haus­ein­gang um “fri­sche Luft zu schnap­pen”. Da pas­sier­te es häu­fig, dass Herr Kohn sich zu ihnen gesell­te. Wir kauf­ten oft bei ihm, beson­ders in den “wei­ßen Wochen”. Und er war Kun­de von uns. Fräu­lein Lieb­mann natür­lich auch. Eines Tages war sein Geschäft arisiert.

Mei­ne Groß­el­tern hat­ten ein jun­ges Mäd­chen im Haus­halt, das vor­her bei Juden gear­bei­tet hat­te. Natür­lich frag­te mei­ne Mut­ter sie danach aus. Dadurch erfuhr sie etwas über die Sit­ten und konn­te Jah­re spä­ter mir von Milch­ding­tisch und Fleisch­ding­tisch erzäh­len, von koscher und von Rabbi.

Mei­ne Mut­ter hat­te noch inten­si­ver in das jüdi­sche Leben sehen kön­nen. Am 10. Novem­ber 1937 ging sie mit mir zusam­men zur bren­nen­den Syn­ago­ge an der Elbe­stra­ße. Sie brann­te nicht lich­ter­loh, man konn­te sie betre­ten. Ich habe mei­ne Mut­ter nie wie­der so bedrückt gese­hen. Sie wirk­te wie irgend­was Ver­lo­re­nes. Geweint hat sie nicht, auch nicht unter­drückt. Dann trat sie an das Har­mo­ni­um und nahm die ver­kohl­ten Noten­blät­ter in die Hand. Ich glau­be, sie hat mich gar nicht wahr­ge­nom­men — oder war inner­lich froh, mich bei sich zu haben. Vie­le Jah­re spä­ter erzähl­te sie mir, dass sie eine Klas­sen­ka­me­ra­din gehabt hät­te, die sie zu sich, zu ihrer Fami­lie ein­ge­la­den hät­te. Ihr Vater war Kan­tor in der Syn­ago­ge und wohn­te mit sei­ner Fami­lie auch dort. Natür­lich war mei­ne Mut­ter damals der Ein­la­dung gern gefolgt.

Wie man auf dem Bild sehen kann, sind die Häu­ser nicht Wand an Wand gebaut wor­den. Zwi­schen den Häu­ser­wän­den war jeweils ein Sicher­heits­gang wegen even­tu­el­ler Feu­ers­ge­fahr. Das war nicht bei allen Häu­ser­zei­len der Fall. Man­che hat­ten brei­te Gän­ge. Ich glau­be, das waren frü­her Ein­fahr­ten zum Hof gewe­sen — wie bei uns. Auch in der Thee­stra­ße 7, in dem Haus mei­nes Urgroß­va­ters Schmidt, und auch im alten Harz­mey­er­schen Haus war die Ein­fahrt inner­halb des Hau­ses. Von dort gelang­te man ins Trep­pen­haus. Wenn wir nicht erwischt wur­den, spiel­ten wir gern bei schlech­tem Wet­ter in die­sen geschütz­ten Räu­men. Aber das hat­ten die Bewoh­ner nicht so gern, denn wir waren ja nicht lei­se, und mit Roll­schu­hen auf Flie­sen — das macht Krach.

Ein Zwi­schen­gang war am Ende des Hau­ses Georg­stra­ße 45, das spä­ter das Kino “Metro­pol” war. Die­ser Gang war von unse­rem Gar­ten aus über eine Grot­te zu errei­chen. Natür­lich war uns ver­bo­ten, über die­se Grot­te zu stei­gen. Aber natür­lich taten wir es doch. Die Toi­let­ten­fens­ter des Kinos lagen näm­lich zu die­sem Gang hin. Da wäre es doch ein leich­tes gewe­sen, auf die­sem Weg umsonst einen Film sehen zu kön­nen. Ja, wenn unse­re Bei­ne lang genug gewe­sen wären. So blieb uns nur das Zuhö­ren, wenn bei war­men Wet­ter die Fens­ter zu unse­rem Hof geöff­net wur­den. Ver­stan­den haben wir nichts. Nur die Lach­sal­ven und die Musik waren hörbar.

Ich kann mich nicht mehr an ein­zel­ne Geschäf­te erin­nern. Wenn mei­ne Mut­ter und ihre Freun­din­nen in Erin­ne­run­gen kram­ten, kamen oft ganz unter­schied­li­che Fir­men­na­men ins Gespräch, weil ja im Lau­fe der Jah­re die Besit­zer wech­sel­ten. Für uns Kin­der waren meis­tens auch nur die inter­es­sant, bei denen es “sich lohnte”.

Da war denn am nächst­ge­le­ge­nen das Schuh­haus Staf­felt in Georgsta­ße 41. Mein Urgroß­va­ter Her­mann Harz­mey­er war längst tot und sein Sohn — Her­mann H. Harz­mey­er — auch. Der Nach­fol­ger war Hugo Staf­felt. Natür­lich war für uns Kin­der kein Unter­schied, ob Onkel Her­mann oder Staf­felt. Und immer “gab es was zu”. Da ich ange­hal­ten war, nie etwas für mich allein zu erwar­ten, son­dern auch für mei­nen klei­nen Bru­der, den ich “Bibi” (Baby) nann­te, zu bit­ten, mach­ten sich Staf­felts einen Spaß dar­aus, mir alle Klei­nig­kei­ten nur ein­mal zu geben. Und prompt kam dann auch von mir: “Und ein für mein Bibi.”

Georg­stra­ße 39 war das Lebens­mit­tel­ge­schäft von See. Wohl­ge­merkt: zu mei­ner Zeit. Ich glau­be aber, dass da vor­her Duben­horst war. Wir konn­ten das vom Erker sehen. Zwi­schen Georg­stra­ße 39 und 37 war ein brei­ter Gang, durch den wir im Krieg zum dahin­ter­lie­gen­den Bun­ker lie­fen, wenn die Sire­nen heulten.

Georg­stra­ße 37 war — glau­be ich — Leder­wa­ren Reu­sche. Sie mach­ten nach dem Angriff auf der Weser­stra­ße ein Geschäft auf. In dem Haus in der Georg­stra­ße war noch ein Laden. Ich habe noch so Erin­ne­rung an Namen wie Korff oder Jor­dan und an Hüte. Was davon wohin gehört, weiß ich nicht.

Um so bes­ser bleibt mir sicher­lich bis an mein Lebens­en­de Frau Rog­ge in Georg­stra­ße 35. Frau Rog­ge hat­te eine Dro­ge­rie und zwei Söh­ne. Der eine hieß Eilert. Mehr weiß ich nicht von ihm Aber der Name gefiel mir so gut. Ob es einen Herrn Rog­ge gab und wie der ande­re Sohn hieß, weiß ich auch nicht. Aber es gab ja Frau Rog­ge! Wenn sie nichts zu tun hat­te und wir auf der Stra­ße spiel­ten, hat­te sie immer ein lie­bes oder lus­ti­ges Wort für uns. Sie stand dann gern in ihrer Laden­tür, wie ande­re Inha­ber es auch taten. Mir woll­te sie immer ein­re­den, dass ich eigent­lich “Sie­da” hie­ße. Denn als ich gebo­ren wor­den war und mein Vater mich hat sehen wol­len, konn­te er mich nicht im Bett fin­den, weil ich ja so klein war. Als er dann aber doch Erfolg hat­te, soll er erfreut geru­fen haben: “Sieh, da ist sie ja!”. Trotz etli­cher Wie­der­ho­lun­gen habe ich es ihr nicht geglaubt.

Geliebt habe ich sie aber wegen der Sal­mi­ak­pas­til­len. Wir muss­ten dann zu ihr in den Laden kom­men, Zun­ge raus­ste­cken und jeweils an einer Sal­mi­ak­pas­til­le lecken, die sie uns dann mit ande­ren zusam­men zu einem Stern auf unse­ren Hand­rü­cken kleb­te. Noch heu­te esse ich gern Sal­mi­ak­pas­til­len und den­ke dabei an Frau Rog­ge. Was aus ihr gewor­den ist, weiß ich nicht.

Ich glau­be, das Neben­haus war Bet­ten-Helm­ke. Dort wohn­te jeden­falls eine alte Dame mit einem Reh­pin­scher. Wenn die bei­den auf die Stra­ße kamen und wir mit unse­ren Pup­pen­wa­gen dort bereits spa­zier­ten, muss­te das arme Vieh dran glau­ben: es wur­de kut­schiert. Hat ihm wohl auch Spaß gemacht, denn ich kann mich nicht ans Gegen­teil erinnern.

Das war die Sache mit “Effie”, einem klei­nen lang­haa­ri­gen schwarz-wei­ßen Hund, der Fräu­lein Küp­pers gehör­te. Fräu­lein Küp­pers hat­te nicht nur die­se Furie von Hund, son­dern auch ein Mie­der­ge­schäft im Harz­mey­er­schen Haus, zwi­schen Staf­felt und Blu­men­haus Freund. Freund war spä­ter in unse­rem Haus, Staf­felt Ecke Loth­rin­ger- und Schil­ler­stra­ße und Fräu­lein Küp­pers in der Nähe des Hauptbahnhofes.

Was nach Bet­ten­haus Helm­ke kam, weiß ich im Ein­zel­nen nicht mehr. Es waren klei­ne Häu­ser. Und als Läden weiß ich nur noch Schlach­te­rei Bode, Fri­seur von Lie­nen, (hat ver­mut­lich bis Anfang der 20er Jah­re mei­nem Groß­va­ter Andre­as Kelch gehört), “Weser­mün­der Neu­es­te Nach­rich­ten”, Wirt­schaft Morg­ner, Bäcker Lin­de­mann, Fisch­ge­schäft Wes­ter­mann und Uhr­ma­cher (spä­ter Opti­ker) Baier.

Viel­leicht habe ich da was durch­ein­an­der bekom­men. Aber soviel weiß ich: Der Uhr­ma­cher Fried­rich Bai­er hat­te eine Frau Sophie, geb. Schmidt, Toch­ter von Kup­fer­schmied Schmidt aus der Thee­stra­ße. Ihre Schwes­ter war Lina, ihr Nach­bar der Bar­bier Andre­as Kelch. Sie konn­ten zusam­men nicht kom­men, denn er war Thü­rin­ger, sprach ein ande­res Deutsch und war trotz vie­ler Anstren­gun­gen kein Bür­ger Geest­e­mün­des. Und sowas hei­ra­tet man nicht. Aber wer sich nicht zu hel­fen weiß, ist es nicht wert, dass er in Ver­le­gen­heit gerät. Also: er schwän­ger­te sie und so wur­den sie spä­ter mei­ne Großeltern.

Nach die­sem Gebäu­de­kom­plex kam die Kreuz­stra­ße — und damit das Ende mei­ner Erin­ne­run­gen von die­ser Stra­ßen­sei­te. Gegen­über begann es mit dem Eck­haus von Ples­se. Ich weiß dann noch, dass dort auch eine Buch­hand­lung war, in der Fräu­lein Müg­ge arbei­te­te. Danach kam ver­mut­lich Aron­heim, bei dem wir Kin­der gern kauf­ten, weil er wie alle jüdi­schen Geschäf­te bil­lig war.

Ein gro­ßes Haus war Gör­del. Ich mei­ne, mei­ne Mut­ter habe mir erzählt, dass dies renom­mier­te Beklei­dungs­ge­schäft vor der Ari­sie­rung Lieb­mann gehört habe, wo sie so gern kauf­te. Wei­ter gen Süden gab es noch Hüte und Wäsche Bösch. Eins von den bei­den Geschäf­ten gab es noch lan­ge nach dem Krieg. Ich habe dort gern und man­chen Hut gekauft.

Ecke Arndt­stra­ße war eine Gast­wirt­schaft. Den Namen habe ich ver­ges­sen, ich weiß nur, dass dort die Bus­se nach Bever­stedt abfuh­ren. Dann sind mir noch die Geschäf­te von Specht, Nie­mey­er und Becken in Erin­ne­rung, die ja noch lan­ge nach dem Krieg exis­tier­ten. Und die Nord­deut­sche Kre­dit­bank mit ihrem Gie­bel, der mich immer an die nord­deut­sche Renais­sance erin­ner­te. Von unse­rem Kin­der­zim­mer­fens­ter aus habe ich oft den Gro­ßen Bären dar­über ste­hen sehen.

Ecke Thee­stra­ße war Elek­tro­ge­schäft Rei­chelt. Dahin muss­te ich immer mit unse­rer Haus­ge­hil­fin gehen, um den Akku für das Radio auf­la­den zu las­sen, das mein Vater selbst gebas­telt hat­te. Das war immer sehr span­nend für mich, denn ich ver­stand die gan­ze Cho­se nicht. Zuerst konn­ten wir noch ein­fach quer über die Stra­ße lau­fen. Spä­ter, als der Schu­po dort stand, muss­ten wir uns an die Ver­kehrs­re­geln halten.

Dann kam Por­zel­lan-Peter­sen. Auch das war span­nend für mich. Der Inha­ber hieß näm­lich mit Vor­na­men “Mein­hard” — und einen sol­chen Namen hat­te ich noch nie gehört. Ecke Ram­sau­er­stra­ße war das Weiß­wa­ren­ge­schäft (?) Anton Kohn, das spä­ter eben­falls ari­siert wur­de. An der süd­li­chen Ecke der Ram­sau­er­stra­ße stand — und das Gebäu­de steht heu­te noch — die Hirsch­apo­the­ke mit dem gol­de­nen Hirsch auf dem Vor­dach. Anschlie­ßend hat­te Jans­sen sein Por­zel­lan­ge­schäft. Was für Häu­ser und Geschäf­te sich anschlos­sen, weiß ich nicht mehr.

Es war da ein ziem­lich alt­mo­di­sches Wäsche­ge­schäft, Eisen­wa­ren Daetz, irgend­wo auch eine Samen­hand­lung Petrasch, bei der wir Fut­ter für unse­ren Wel­len­sit­tich kauf­ten, und die Spe­di­ti­on Ges­wein, die frü­her auch die Feu­er­wehr stell­te und mit viel Krach mit den Pfer­den durch die Georg­stra­ße saus­te. Was danach kam, weiß ich erst recht nicht. Es gab da noch eine Schmie­de und Bau­ern­häu­ser — aber das war wohl in einer Neben­stra­ße. Auf der gegen­über­lie­gen­den Georg­stra­ßen­sei­te — also der öst­li­chen — gab es Schreib­wa­ren Schwert­fe­ger mit der sin­ni­gen Inschrift am Haus: “Ora et labo­ra”, womit sicher­lich nicht Bene­dicts Män­ner gemeint waren.

Die Häu­ser, die dann in Rich­tung Bucht­stra­ße stan­den, ken­ne ich zum Teil nicht mehr, und die Rei­hen­fol­ge schon gar nicht. Da war das Scho­ko­la­den­ge­schäft von Frau Rook. Scha­de, dass es so etwas Außer­ge­wöhn­li­ches nicht mehr gibt. Mei­ne Mut­ter bat mei­nen Vater häu­fig, ihr von Frau Rook Cognac­boh­nen mit­zu­brin­gen. Mein Vater nahm dann eine Akten­ta­sche mit, damit man nicht erken­nen konn­te, dass er “ein­hol­te”.

Uhr­ma­cher Stu­te war auch  da, ent­we­der auf der öst­li­chen oder west­li­chen Sei­te. Und I.G. Schmidt, der Ofen­händ­ler. Und ein Elek­tro­ge­schäft. Und ein Café oder Eis­ca­fé — öst­lich oder west­lich. Und Scho­cken, das spä­ter Mer­kur wur­de, dann kam Kauf­mann Lüt­h­je, bei dem es lecke­re grü­ne Bon­bons gab und wo man meh­re­re Stu­fen hin­auf­klet­tern musste.

An der Ecke Buch­stra­ße kam dann das Kropp­sche Haus, in dem unten die Geschäf­te Ten­gel­mann, der Bar­bier Pipo­wa­ski und das Schreib­wa­ren­ge­schäft Wolf (Fräu­lein Jul­chen) war. Die bei­den letz­ten Grund­stü­cke wur­den von der Stadt für die Erwei­te­rung der Bucht­stra­ße nach dem Krieg ein­ge­zo­gen. Eben­so erging es unse­rem Neben­grund­stück. Aller­dings woll­te ein Inter­es­sent in den 50er Jah­ren dar­auf ein viel­stö­cki­ges Wohn­haus bau­en. Da hat mei­ne Mut­ter aber schärfs­tens pro­tes­tiert. So ein Koloss hät­te ja alles Licht für die Nach­barn verbannt.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Am 18. Sep­tem­ber sind es 70 Jah­re her, dass ein Bom­ben­an­griff der alten Georg­stra­ße den Gar­aus mach­te. Mein Vater hat es nicht mehr erlebt. Er war am 1. Sep­tem­ber gestor­ben. Mein Bru­der war seit August auf einem Inter­nat, mei­ne Groß­el­tern kamen beim Bom­ben­an­griff um, mei­ne Tan­ten und alle übri­gen Ver­wand­ten waren in alle Win­de zer­streut. Mei­ne Mut­ter und ich waren plötz­lich allein.
Lie­be Leser, wenn Ihr mögt, schreibt doch eben­falls Eure Erin­ne­run­gen an Bre­mer­ha­ven auf und sen­det sie mir zu. Ich wür­de sie hier ger­ne ver­öf­fent­li­chen, weil ich glau­be, dass Eure Erin­ne­run­gen nicht in Ver­ges­sen­heit gera­ten sollten.

Und wieder nimmt ein Traditionsschiff Abschied — “Seelotse” verlässt Bremerhaven für immer

Aber­mals hat die See­stadt Bre­mer­ha­ven ein Tou­ris­ten­ma­gnet weni­ger. Das Tra­di­ti­ons­schiff “See­lot­se” hat Bre­mer­ha­ven das Heck gezeigt und Kurs Rich­tung Ham­burg-Har­burg genommen.

ehemalige Lotsenversetzboot "Seelotse"

Gebaut wur­de das 420.000 DM teu­re Schiff auf der Fr. Schweers Schiffs- und Boots­werft in Ber­ne-Bar­den­fleth, die Juli 2001 von der Lürs­sen­werft über­nom­men wur­de. Bei einem Tief­gang von 2 Meter treibt ein 628 PS star­ker Die­sel­mo­tor die schö­ne “See­lot­se” mit einer Höchst­ge­schwin­dig­keit von etwa 12 Kno­ten vor­wärts. Bis 1998 ver­sah die “See­lot­se” ihren akti­ven Dienst auf der Innen- und Außenweser.

Als das Schiff 1998 außer Dienst gestellt wur­de, ret­te­te der För­der­ver­ein Mari­ti­mer Denk­mal­schutz e.V. aus Bre­mer­ha­ven es vor der Ver­schrot­tung. Nach­dem ein Betriebs­in­ge­nieur und ehren­amt­li­che Hel­fer das Lot­sen­ver­setz­schiff restau­riert hat­ten, wur­de es als Tra­di­ti­ons­schiff für Gäs­te- und Rund­fahr­ten ein­ge­setzt. Doch die Ein­nah­men reich­ten für die Unter­hal­tung des Schif­fes nicht aus, und 2009 muss­te der Ver­ein es zum Ver­kauf anbieten.

MS "Seelotse"

Schließ­lich kauf­te Ende 2010 die Team Ship Manage­ment die “See­lot­se”. Im Dezem­ber des glei­chen Jah­res wur­de der Freun­des­kreis Tra­di­ti­ons­schiff MS “See­lot­se” gegrün­det, der sich fort­an um den Betrieb des Schif­fes küm­mer­te. Man unter­nahm wei­ter­hin Mit­glie­der- und Gäs­te­fahr­ten im küs­ten­na­hen Bereich von Nord- und Ost­see. Auf der Unter­we­ser ging es nach Bra­ke, Har­rier­sand und Bre­men, auf der Nord­see nach Hel­go­land und Wan­ger­oo­ge. Auch die Kie­ler Woche wur­de besucht oder Gäs­te zum Leucht­turm Roter Sand gebracht.

Den­noch, die Fahr­ten spül­ten nicht genü­gend Geld in die Ver­eins­kas­se, um die hohen Instand­hal­tungs­kos­ten zu finan­zie­ren. So bil­de­te sich ein Inves­ti­ti­ons­stau, der schließ­lich zum Ver­kauf des Schif­fes zwang. Der Betrei­ber eines in Ham­burg-Har­burg ansäs­si­gen Schiffs­mo­to­ren-Repa­ra­tur­diens­tes hat die “See­lot­se” gekauft.  Nun liegt sie in einer Werft und wird gene­ral­über­holt. Das Unter­was­ser­schiff wird saniert, eine Scheu­er­leis­te erneu­ert und die Pol­ler ersetzt. Das Vor­schiff soll einen Sani­tär­be­reich erhal­ten, die zwei ach­ter­li­chen Kabi­nen moder­ni­siert werden.

MS "Seelotse"

Wenn die Arbei­ten been­det sind, will der Unter­neh­mer die “See­lot­se” als Büro und Bespre­chungs­raum nut­zen. Even­tu­ell wird er mit dem Schiff sogar zur Sail 2014 zu Besuch nach Bre­mer­ha­ven kom­men. In Har­burg wird es aber erst­mal ein Ren­dez­vous mit der klei­ne­ren “Brem­er­lot­se” geben, die vom neu­en Eig­ner bewohnt wird.

Es bleibt zu hof­fen, dass kei­ne wei­te­ren Tra­di­ti­ons­schif­fe Bre­mer­ha­ven ade sagen. Vie­le Skip­per sind nicht mehr bereit, die immer stren­ge­ren Anfor­de­run­gen zu erfül­len. Auch die kräf­tig gestie­gen Lie­ge­platz­ge­büh­ren im Fische­rei­ha­fen tru­gen dazu bei, dass sich meh­re­re Eig­ner von der See­stadt ver­ab­schie­det haben. Es ist vor die­sem Hin­ter­grund zu ver­mu­ten, dass die ehe­ma­li­gen Kriegs­fisch­kut­ter “Thor” und “See­lust” infol­ge nicht durch­ge­führ­ter Repa­ra­tu­ren gesun­ken sind.
Quel­len:
Nord­see-Zei­tung vom 14.07.2014

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