Goethestraße 11 — Vom Ochsenfleisch zum Eiscafé
Goethestraße 11 — Vom Ochsenfleisch zum Eiscafé
Im Jahre 1890 begann der Bauunternehmer Julius Addiks, die ersten Häuser in der gerade neu angelegten Goethestraße (damals Juliusstraße) zu bauen. Wilhelm II., der 1888 gerade Deutscher Kaiser geworden war, entließ 1890 seinen Kanzler Otto von Bismarck.
Die ersten Bewohner
In dieser Zeit muss auch das Haus Nr. 11 in der Goethestraße errichtet worden sein. Das Leher Adressbuch des Jahres 1910 verrät uns, wer die ersten Bewohner waren. Eine beruflich illustre Gesellschaft wohnte dort unter einem Dach. Der eine war Sattler, und der andere war Maschinist.
Weiterhin wohnten zwei Kellner, ein Jungmann und ein Ober-Steward in dem Haus. Auch zwei Schriftsetzer, einen Tischler, einen Schneidermeister, zwei Schlachter, einen Werksmeister, eine Witwe, einen Arbeiter, einen Monteur und einen Maler beherbergte das Gebäude. Und im Erdgeschoß bot Schlachtermeister Albin Nothnagel seine Fleischprodukte an, etwa ähnlich wie auf dem obigen Bild.
Die Hyperinflation
Das Haus Nr. 11 in der Goethestraße hat wirklich viel gesehen: Der Erste Weltkrieg kam, und er ging vorüber. Zurück ließ er eine Inflation, die 1923 als Hyperinflation ihren Höhepunkt erreichte. Im Juni 1914 hatte ein Dollar noch den Wert von 4,20 Mark. Bis zum 14. November 1923 war der Wert auf sagenhafte 4.200.000.000.000 Mark angestiegen. Wie überall in Deutschland führten die ständig steigenden Lebensmittelpreise auch in den Unterweserorten zu schweren Unruhen.
Aber auch diese schwere Zeit ging vorüber. Das Haus erlebte im Jahre 1924 die Fusion der beiden Unterweserorte Lehe und Geestemünde. Die neue Stadt hieß Wesermünde, und fortan verrichtete Fleischermeister Albin Nothnagel sein Handwerk eben in der Goethestraße 11 in Wesermünde. Das Adressbuch aus dem Jahre 1939 verspricht uns jedenfalls, das Meister Nothnagel in jenem Jahr hier noch seine Fleischwaren anbot.
Lebensmittelkarten
Der Meister hatte alle Hände voll zu tun in dieser Zeit. Er musste das zugeteilte Fleisch besorgen und zu Wurst verarbeiten. Das Fleisch für seine Kundschaft schnitt er selbstverständlich persönlich zurecht. Abends musste er die für das verkaufte Fleisch entgegengenommenen Fleischmarken in ein Buch einkleben und die Abrechnung für das Lebensmittelamt erstellen.
Das Haus Goethestraße 11 sah Adolf Nazi kommen. Wahrscheinlich musste es, den anderen Häusern gleich, ertragen, wie die Hakenkreuzfahnen aus seinen Fenstern hingen. Es erlebte 1939 die Vereinigung von Bremerhaven mit Wesermünde. Es sah den Zweiten Weltkrieg kommen und das Tausendjährige Reich nach nur zwölf Jahren in Schutt und Asche liegen. Die Asche des “Größten Führers aller Zeiten” lag nun ebenfalls im Dreck.
Der Krieg war beendet, das Haus Goethestraße 11 hat auch das Tausendjährige Reich überlebt. Jetzt kamen erst die Briten und dann die Amerikaner nach Wesermünde, und im Jahre 1947 befahl der amerikanischen Militärgouverneur, dass die Stadt nun Bremerhaven heißen soll. Und seither steht das Haus nicht mehr in Wesermünde sondern in Bremerhaven.
Währungsreform
Der 21. Juni 1948 ist wieder so ein großer Tag, den das Haus wohl für immer in Erinnerung behalten wird: In den Westzonen wird die Währungsreform durchgeführt. Und am nächsten Tag standen viele fassungslos vor den Schaufenstern mit den lange vermissten Fleisch- und Wurstwaren. Die Hungerjahre sind vorbei!
Ein erneuter Blick in das Adressbuch der Jahre 1949/1950 verrät uns, dass der Schlachtermeister Nothnagel hier keine Schweine mehr schlachtet. Nun betritt Fleischermeister Diedrich Hanewinkel die Bühne und freut sich, als im Jahre 1950 die Lebensmittelkarten endlich abgeschafft werden. Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges gerieten langsam in Vergessenheit, als das “Wirtschaftswunder” Deutschland überfällt.
Wenn die Hausfrau einen Sonntagsbraten auf den Tisch bringen wollte, kaufte sie ihn bei ihrem Metzger um die Ecke, bei Hanewinkel. Irgendwann waren sie ja auch “alteingesessen”, irgendwann konnte sich kaum jemand noch an Schlachtermeister Nothnagel erinnern. Und so stehen im Adressbuch der Jahre 1980/81 auch gleich drei Hanewinkel: Fleischermeister Karl Hanewinkel, Dietrich Hanewinkel und Heinz-Dirk Hanewinkel.
Zehn Jahre später wohnt in dem Hause Goethestraße 11 nur noch Heinz-Dirk Hanewinkel. Was aus dem Meister geworden ist, könnte uns vielleicht das Haus verraten, aber das schweigt. Also muss wieder das Adressbuch zu Rate gezogen werden. 1987 betreibt Fleischermeister Ewald Ellermann den Fleischerladen. Vielleicht zehn Jahre sind seinem Betrieb vergönnt, vielleicht weniger. Wahrscheinlich haben ihn die Supermärkte verdrängt. Im Adressbuch ist jedenfalls kein Fleischermeister mehr verzeichnet. Der Schlachterladen steht leer, seit mindesten 20 Jahren schon.
Eine Eisdiele zieht ein
Doch plötzlich sieht das Haus in der Goethestraße 11, wie sich zwei Frauen für das Ladenlokal interessieren. Seltsame Dinge geschehen, die das Haus zunächst nicht einordnen kann. Aber irgendwann öffnet sich der Vorhang, und das Haus wartet auf mit einem neuen Akt. Zwei Frauen, Marika Büsing und Katrin Hantke, haben aus dem ehemaligen Schlachterladen eine tolle Eisdiele gezaubert. Kronleuchter baumeln von der Decke herunter, und schickes Mobiliar wurde auf den erhaltenen Fliesenfußboden gestellt.
Und nun kommen die Kinder und können aus 16 Eissorten auswählen. Einige sind sogar laktose- und glutenfrei. Und veganes Eis soll es auch bald geben. Wer kein Eis mag, der lässt seine Seele bei einer der vielen Kaffeespezialitäten oder bei einer Tasse Maya-Tee baumeln. Für den kleinen Hunger stehen Kuchen und warme Snacks auf der Karte.
Vielleicht entwickelt sich das so liebevoll eingerichtete Eiscafé ja zu einem Szenetreff für Studenten. Da hätte das Haus in der Goethestraße 11 bestimmt seine Freude dran.
Eiscafe Faust schließt wieder
Das Haus an der Goethestraße 11 liegt wieder im Dornröschenschlaf. Das Eiscafé in dem ehemaligen Schlachterladen hatte sich zu einem beliebten Treffpunkt entwickelt. Aber Marika Büsing und Katrin Hantke haben sich entschieden, das “Faust” aus persönlichen Gründen nach zweieinhalb Jahren wieder zu schließen.
Ein neuer Pächter wurde wohl nicht gefunden, und so ist es wieder still um das Haus geworden.
Quellen:
R. Donsbach: Aus Schlachterladen wird ein Eiscafé, Nordsee-Zeitung v 2.4.2015
Adressbücher des Stadtarchives Bremerhaven
Fleischerei Piehler, Brüderstraße 1, 08412 Werdau
M. Berlinke: Eiscafé Faust schließt: Lehe verliert beliebten Anlaufpunkt, nord24.de vom 22.08.2017
Karin Guterding: Kommentare und Lebenslauf
Ich habe diesen Bericht mit großem Interesse gelesen, da ich einen direkten Bezug zu Hanewinkel habe. Meine Mutter erlernte dort den Beruf als Fleischereifachverkäuferin. Sie wurde 1933 in der Muschelstraße geboren. Demnach dürfte ihre Lehrzeit um 1949 begonnen haben. Ich habe auch noch Fotos davon.