Görlitzer Winterzauber in Vorkriegszeiten — vor 1914 und vor 1939
Der Görlitzer Historiker Herr Dr. Ernst Kretzschmar schrieb Erinnerungen über die Winter in den Zeiten vor den beiden Weltkriegen 1914 und 1939 nieder, die in der StadtBILD im Dezember 2009 veröffentlicht wurden.
Viele Leser werden sich sicherlich noch an die Zeilen aus Schillers “Lied von der Glocke” erinnern:
”Holder Glocke, süße Eintracht
weilet, weilet
freundlich über dieser Stadt!
Möge nie der Tag erscheinen,
wo des rauhen Krieges Horden
dieses stille Tal durchtoben,
wo der Himmel,
den des Abends sanfte Röte
lieblich malt,
von der Dörfer, von der Städte
wildem Brande schrecklich strahlt!”
In der Rückschau erscheinen gerade die Jahre kurz vor den Weltkriegsbränden in freundliches Licht getaucht, obwohl auch sie, wie wir wohl wissen, ihr Für und Wider hatten. Wir hörten darüber von unseren Eltern und Großeltern, die uns über die Erlebnisse der Kinder und Erwachsenen 1913 erzählten, und wir erlebten es als Kinder selbst noch 1938. Zwar konnte man in beiden Jahren in den Görlitzer Tageszeitungen über internationale Konflikte und militärische Rüstungen lesen, aber viele wollten den Tag genießen, schon gar im Advent, zu Weihnachten und Neujahr. Die Begüterten zeigten nun gern, was sie sich leisten konnten an reich bestückten Gaben unterm Weihnachtsbaum. Auch die Ärmeren fanden und suchten ihre Freude, oft aufrichtiger und prägender als jene.
Manchmal gab es sogar schon etwas Schnee im Dezember und die ersten Eisblumen an den Fenstern. In den Nebenstraßen verbreiteten die Gaslaternen ihr mildes Licht, an den Hauptstraßen aber strahlten die großen Schaufenster hell bis über die breite Fahrbahn, wo die Straßenbahn tiefe Furchen in das feuchte Weiß gegraben hatte. Die Staketenzäune oder Eisengitter der Vorgärten hatten weiße Schneekappen aufgesetzt. Meisen und Spatzen balgten sich in den Futterhäuschen, die vor den Küchenfenstern angebracht oder neben der Gartenlaube aufgestellt waren. Schulkinder drängelten sich 1913 bei Straßburg, Bargou oder Friedländers gerade eröffneten Kaufhaus vor den Schaufenstern mit Spielzeugeisenbahnen, Dampfmaschinen, Soldatenfiguren und Puppenstuben, 1938 auch vor den Läden von Zippel und Dittmann. In Hausaufsätzen mussten die Kleinen in der Schule I an der Schulstraße ihre Weihnachtsvorbereitungen schildern, weil die Lehrer so neugierig waren, wie sie meinten. Hinter die Bilderrahmen in den Klassenräumen steckte man Tannenzweige. Bald sah man morgens auf dem Schulweg zur Annenschule auf dem Wochenmarkt Elisabethstraße Weihnachtsbäume zum Verkauf ausgelegt.
Verglichen mit dem heutigen Gedudel und Gewummer aus den Lautsprechern waren die vorweihnachtlich geschmückten Christkindelmärkte doch so ruhig, dass man den frischen Schnee unter den Fußsohlen knirschen hörte. Was man jetzt in den Marktbuden vor der Post oder auf dem Untermarkt fast als exotisch empfindet – einheimisches Pfefferkuchengebäck, handgezogene Kerzen und Holzspielzeug aus hiesigen Werkstätten – war vor den Kriegen (und erst recht danach) das Übliche. Man nahm das Geläut der Kirchenglocken wahr und vernahm sogar die Texte vorweihnachtlicher Lieder der kleinen Kurrende-Sänger. Weihnachtskarten mit handgeschriebenen Grüßen warfen die Kinder in die Postbriefkästen, die es fast an jeder Straßenecke gab, auch am Bahnpostamt oder auf dem Postplatz; sie gingen an Tanten und Großeltern in den Nachbarorten oder in ferne Garnisonsstädte. Ansichtskarten, Meisterfotografien oder unbeholfene Schnappschüsse überlieferten die Stimmung den Heutigen. Den Zauber abendlicher Spaziergänge mit den Klassenkameraden durch den verschneiten Schellergrund oder über die rutschigen Treppen und Wege hinauf zur Landeskrone bewahrte man lange im Gedächtnis. An den Weihnachtsfeiertagen lockte es die Familien und die Einsamen 1913 zur stillen Augustastraße oder 1938 zu den Neubauten an der Büchtemannstraße, wo hinter den Fensterscheiben noch einmal die brennenden Baumkerzen erstrahlten und ungetrübtes Familienglück zu vermuten war.
Der richtige kalte Winter kam oft erst vor oder nach Silvester. Es schneite mitunter tagelang, und es war auch weit kälter als heute. Gehwege und Straßen mussten von den Anwohnern beräumt werden. Hohe Schneehaufen zogen sich zwischen freigehaltener Abflussrinne und Straßenmitte an den Häuserfluchten entlang. Den Schnee der Hauptstraßen ließ die Stadt mit Pferdefuhrwerken zur Eiswiese an der Straße nach Biesnitz bringen und dort zum Abtauen abladen.
Nun zog es die Schlittenfahrer zum Blockhaus und zum Weinberghaus zu den sanften Hängen oder zur Lutherkirche mit dem steilen Abhang, die Kühnen aber zur Landeskrone mit der 1910 eingeweihten Rodelbahn. Die Schlittschuhläufer traf man auf dem Ausstellungsteich an der Ruhmeshalle oder auf der Eisbahn am Lindenweg. Zu einem Glas Punsch oder Grog kehrten die Erwachsenen im Weinberghaus ein. Die Kleinen mit ihren klammen Fingern und rotgefrorenen Näschen trieb es nach Hause, wo man den Rücken an den warmen Kachelofen lehnte und dabei die restlichen Pfefferkuchen vom Weihnachtsteller unterm Weihnachtsbaum verdrücken durfte.
Junge Paare schlenderten 1913 in die Varietés (Reichshof Berliner Straße, Wilhelmstheater hinter dem Warenhaus, Europäischer Hof an der Ecke Jakobstraße/Bahnhofstraße) und 1938 in eines der sechs Kinos, wo in der Wochenschau über Winterfreuden in den Alpen berichtet wurde. Dennoch war in den Wintermonaten der Blick mehr nach innen gerichtet, auf die Familie, die Freunde und Schulkameraden. Man genoss die Geborgenheit in der Gemeinschaft. Die Kinder vergnügten sich mit Kaufmannsläden Kasperletheater und Puppenstuben, die Älteren blätterten in einem Heft mit Wintermoden oder lasen einen Roman von Ganghofer. Gern besuchte man ältere oder kränkliche Verwandte und Freundinnen.
Die meisten Erinnerungen aus späteren Lebensjahrzehnten verblassten früher oder später, aber den Winterzauber in der Heimat, vor allem in der Kindheit, trugen viele ihr Leben lang als kostbaren Schatz im Herzen, gerade auch in den schweren Zeiten, die darauf folgten, die zwei Weltkriege und die Notjahre nach 1918 und 1945. Ob die Reizüberflutung durch Fernsehen und Internet und die kulturelle Verflachung durch die ideologischen Globalisierer das tiefe Erlebnis winterlicher Ruhe und weihnachtlicher Freude für die nächsten Generationen beschädigen oder gar zerstören können? Solange es noch Familien gibt, liegt es an ihnen, den Kindern Augen und Herzen für den Winterzauber zu öffnen. Denn wir Älteren werden vor allem unseren Eltern gerade dafür bis zuletzt dankbar bleiben.
Mit freundlicher Genehmigung des StadtBILD-Verlages Görlitz.
Der DeichSPIEGEL wünscht allen Lesern ein frohes neues Jahr 2013, Gesundheit, Glück und Zufriedenheit. Danke für die Treue im vergangenen Jahr und viel Spaß mit meinen Blogs im neuen Jahr.