Görlitzer Juden — ihre vergessenen und verfallenen Spuren
Unter dem Druck wachsender Diskriminierung und Verfolgung sind die meisten Görlitzer Juden im Laufe der 1930er Jahre ausgewandert, unter teilweise dramatischen Umständen. Die, die geblieben waren, wurden im Krieg in den Vernichtungslagern ermordet.
Zum baulichen Erbe der Görlitzer Juden gehört weit mehr als die Synagoge, die im letzten Jahr ihr hundertjähriges Jubiläum feiern konnte. Da ist der zum Glück erhaltene Friedhof. Da sind die Wohnhäuser, die Fabriken und Geschäfte, die Arzt- und Rechtanwaltspraxen. Bei einem Rundgang zu Stätten jüdischen Lebens in Görlitz kann man über mehrere Stunden vieles entdecken und erfahren, aber auch erschrecken über den heutigen Zustand vieler Baulichkeiten und Anlagen.
Gut, es gibt inzwischen neue Straßennamen, die an seinerzeit bekannte Persönlichkeiten erinnern. Es gibt einige “Stolpersteine” vor den ehemaligen Wohnstätten von Todesopfern. Darum hatte sich die hiesige christlich—jüdische Gesellschaft bemüht. Die Denkmalpflegebehörde konnte am ehemaligen Modehaus Meirowsky Ecke Obermarkt/Steinstraße die Monogramm-Kartusche über der Eingangstür zur Erinnerung an den Bauherren (“I.M.” für Isaac Mairowsky)retten.
Viele Bauwerke sind in einem fragwürdigen Zustand. Ursachen, Zusammenhänge und Zukunftsaussichten sind unterschiedlich und kompliziert. In der Gesamtheit ergibt sich ein Bild, das der Stadt keine Ehre macht. Das gilt ja schon für das bekannteste und am meisten beklagte Beispiel, das Warenhaus am Demianiplatz, dessen Bauherr der Kaufmann Louis Friedländer war. Es ist ein prägendes Gebäude im Stadtzentrum, bei der Bevölkerung und Architekturhistorikern in hohem Ansehen. Seine Zukunft ist ungewiss.
Besser geht es da dem Bau an der Postplatz-Nordseite, dessen Mittelteil bis nach 1918 das Viktoria-Hotel von Nathan Goldstein beherbergte. Das frühere Schuhhaus Rauch in der Berliner Straße 61 wird heute durch Fielmann-Optik genutzt. Ebenfalls sorgfältig saniert wurde das zweite Modehaus Meirowsky in der Hospitalstraße 36.
Schlechter sieht es in der Steinstraße aus, früher Standort mehrerer jüdischer Geschäfte. Das ehemalige Bekleidungshaus Totschek in der Steinstraße 2 — 5 ist ein besonders repräsentatives Handelshaus des späten 19. Jahrhunderts, an dem man etliche Spuren früheren Glanzes findet. Denkmalpflegerisch saniert und nichtmodernistisch verschandelt, könnte es ein Schmuckstück einer Einkaufsmeile werden.
Betrüblich ist auch der Zustand der früheren Fabrikantenvilla Bergstraße 1; sie gehörte Rosa Kaufmann, Mitinhaberin der Weberei und Färberei Müller und Kaufmann an der Uferstraße. Das außen und innen gediegene Gebäude im Stil des frühen 20. Jahrhunderts ist leider nach 1990 zunehmend verwahrlost, nachdem sich der Plan zerschlagen hatte, ein Seniorenheim für gehobene Ansprüche daraus zu machen.
Die berühmte Villa Ephraim in der Goethestraße 17, ein Werk des Ruhmeshallen-Architekten Hugo Behr, war bis Anfang der 1920 Jahre Wohnsitz des Eisenwarenhändlers, Stadtverordneten und Museumförderers Martin Ephraim und bis vor kurzem [Ende 2010] eine Jugendherberge. Ihr kostbarer architektonischer Grundbestand konnte durch die Wohnungsbaugesellschaft weitgehend erhalten werden, braucht aber dringend eine stilgerechte Sanierung und angemessene Nutzung, es ist ein Juwel der damaligen örtlichen Baukultur und zugleich Erinnerungsort für eine herausragende Persönlichkeit (Ephraim starb 1944 als 84jähriger im KZ Theresienstadt) [Nachdem 2010 die Jugendherberge hier auszog, hat die Wohnungsbaugesellschaft die Villa sanieren lassen. Heute ist hier das Gästehaus Alte Herberge untergebracht].
Auch das frühere Wohnhaus Epharim (Jakobstraße 5, später Franz Grunert) hat inzwischen gelitten. Das Verwaltungsgebäude der Firma Ephraim Eisenhandel in der Zitterstraße 56 (vor dem Schützenhaus) errichtete 1927 der in Görlitz durch zahlreiche Großbauten vertretene Architekt Alfred Hentschel; es steht leer und verfällt.
Die Sitzbank mit Brunnen, Ausstellungsstück der Gewerbe- und- Industrieausstellung1905 in Görlitz für die Granitfirma Theodor Alexander Katz, erwarb der Fabrikant Richard Raupach und stellte sie an der Zittauer Straße vor seinem Werkgelände auf;dort verfällt sie heute nach und nach, würde aber gut in das Umfeld der Stadthalle passen.
Ein Opfer der oberflächlichen Schnellsanierungen Anfang der 1990er Jahre wurde das frühere Textilhaus Frankenstein/Markus in der Berliner Straße 10. Die ehemalige Fassade ist nur noch in der Grundaufteilung erkennbar, das Innere eine gesichtslose Halle mit langen Regalen zum raschen Austausch der Gewerbemieter, architektonisch tot.
Die Villa Alexander Katz neben dem Ständehaus (früher Promenade 14) wurde noch 1945 durch Bomben zerstört und ist heute Müllhalde und Urwald, eine Schande in Grenznähe. Die Textilfabrik Müller und Kaufmann an der Uferstraße ist Ruine und teils abgetragen, die Kofferfabrik in Moys (Ujazd) ist stillgelegt.
Die Aufstellung ließe sich fortsetzen. Es ist nicht zu übersehen: Diese Erbe ist weitgehend vergessen.Im öffentlichen Bewusstsein und in der denkmalpflegerischen Dringlichkeitsliste kommt es kaum vor. Irgendwann werden vermutlich nur noch Synagoge und KZ Biesnitzer Grund (dieses auch überbaut) mit der Geschichte der Görlitzer Juden in Zusammenhang gebracht werden, nicht mehr ihre Wohn- und Wirkungsstätten vor 1933, also aus den Jahrzehnten ihrer Vielfältigen Tätigkeit für das Wohl der Stadt.
Nicht einmal bescheidene Täfelchen erinnern an den Dichter Paul Mühsam (Bismarckstraße 4) oder an den Kommerzienrat und Stifter Lesser Ephraim (Jakobstraße 5). Es wäre an der Zeit, Grundstückskäufer und Investoren auf dieses verpflichtende Erbe aufmerksam zu machen und für dessen Erhaltung zu werben. Anfänge sind gemacht. Auf die Dauer kann sich die Stadt nicht vor der moralischen Last der Geschichte davonstehlen. Dies nur als Fußnote zum gelungenen Synagogenjubiläum.
Von Dr. Ernst Kretschmar, Görlitz
Mit freundlicher Genehmigung des StadtBILD-Verlages Görlitz
Die in eckigen Klammern kursiv eingefügten Hinweise stammen nicht vom Autor.
Weitere Informationen:
Zeitensprünge-Projekt
Synagoge. Juden in Görlitz
Die Synagoge in Görlitz
Sehr geehrte Damen und Herren, im Rahmen meiner Familienforschung suche ich die jüdischen Rechtsanwälte, die bis 1930–33 in Görlitz tätig waren. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir weiter helfen könnten.
Mit freundlichen Grüssen
Christian Rogos