Ein Mädchen (eine Frau) aus Bremerhaven-Lehe

Ein Mäd­chen (eine Frau) aus Bremerhaven-Lehe

 Ruth Sander

Das Bild zeigt Ruth San­der im Jah­re 1933

Ruth San­der wur­de 1933 in Bre­mer­ha­ven-Lehe in der Muschel­stra­ße 16 gebo­ren. Sie war das als ältes­te von 8 Kindern.

Ruth und ihre Oma (wohn­te in der Les­sing­stra­ße 7) im Jah­re 1935

Die Muschel­stra­ße ist eine Rei­hen­haus­sied­lung an der Rick­mers­stra­ße. Es war zu dama­li­ger Zeit eine gute Wohn­ge­gend. Doch die Kin­der aus der par­al­lel ver­lau­fen­den See­stra­ße, die eben­falls von Rei­hen­häu­sern geprägt ist, mein­ten, sie sei­en etwas Bes­se­res. So dul­de­ten sie es nicht, wenn jemand aus der Muschel­stra­ße eine Abkür­zung durch “ihre” See­stra­ße neh­men wollte.

ruthundrolf

Ruth und Rolf, etwa 1936

Ruth, Rolf, Gise­la und Hilde

Die Kind­heit war bis zum Beginn des 2. Welt­kriegs weit­ge­hend unbe­schwert. Dann muss­te der Vater mit der Mari­ne zur See. Lebens­mit­tel wur­den immer knapper.

ruth auf der schaukel

Ruth vor einem Erfri­schungs­haus in den Schre­ber­gär­ten — eine noch unbe­schwer­te Kindheit?

1943 trat ein neu­er Mann in das Leben von Ruths Mut­ter. Als der Vater von der Front zurück­kehr­te, muss­te Ruth ihren eige­nen Vater wegschicken.

ruth sander

Das Bild zeigt ein Kin­der­por­trait von Ruth Sander

Den neu­en “Vater” konn­te sie nie akzep­tie­ren. Hin­zu kamen Luft­an­grif­fe auf Bre­mer­ha­ven, bei denen auch die Muschel­stra­ße nicht ver­schont blieb. Ruth erzählt von einem Ein­schlag, der in dem 3‑stöckigen Haus das Wohn­zim­mer im EG zer­stör­te. Die Fami­lie, die im Kel­ler aus­harr­te, blieb unversehrt.

Ruth Sander im Garten

Das Bild zeigt Ruth San­der mit ihren Geschwistern

Durch die Zwangs­mit­glied­schaft beim BDM muss­te Ruth bei Auf­mär­schen an der Rick­mer­stra­ße mit aus­ge­streck­tem rech­ten Arm eine gefühl­te Ewig­keit stramm ste­hen. Wenn sie auch nur ver­such­te, den rech­ten Arm abzu­stüt­zen, wur­de sie hef­tig beschimpft, manch­mal sogar geschla­gen. Auch in der Schu­le war kör­per­li­che Züch­ti­gung und ein dik­ta­to­ri­scher Ton an der Tagesordnung.

Ruth mit Familie

Ruth in Brokel

Die Groß­el­tern hat sie als nicht beson­ders kin­der­lieb in Erin­ne­rung. Vom Lebens­ge­fähr­ten der Groß­mutter wur­den sie und ihre Geschwis­ter mit den Wor­ten „was wollt ihr denn schon wie­der“ begrüßt.

Im Jah­re 1943 wur­de Ruth von ihrer Fami­lie getrennt. Sie wur­de im Rah­men der Über­land­ver­schi­ckung nach Brockel ver­schickt. Ihre Geschwis­ter waren noch zu klein und muß­ten zuhau­se blei­ben. Ruth fühl­te sich von ihrer Fami­lie abge­scho­ben und litt sehr dar­un­ter – eigent­lich zeitlebens.

Ruth und Freundin

Ruth und Freundin

Am Bahn­hof von Brockel war­te­ten bereits die Bau­ern aus dem Kreis Roten­burg, die sich ein oder meh­re­re Mäd­chen aus­such­ten konn­ten. Ruth kam zur Fami­lie Mer­tens, denen eine Obst­ver­wer­tungs­fa­brik und ande­re land­wirt­schaft­li­che Güter gehör­ten. Ruth erin­nert sich an einen gro­ßen Hüh­ner­stall mit aus­schließ­lich wei­ßen Hüh­nern, aber auch Enten und Gän­sen. Aber auch an die Ern­te der Bick­bee­ren und an einen rie­si­gen Wal­nuss­baum. Mit den bei­den Schä­fer­hun­den muss­te sie oft spa­zie­ren gehen.

Von Brockel muss­te sie oft, zusam­men mit den ande­ren Kin­dern, nach Roten­burg lau­fen, wo sie vor Sol­da­ten san­gen. Vie­le der Sol­da­ten wein­ten bei dem Gesang und Anblick der Kin­der. Sie ver­mu­tet, dass die Män­ner ihre eige­nen Kin­der ver­miss­ten und des­halb ihre Emo­tio­nen und Trä­nen nicht unter­drü­cken konn­ten. Fami­lie Mer­tens und ihre bei­den Kin­der hat sie in guter Erinnerung.

Überlandverschickung

Hier ver­brach­te Ruth eini­ge Zeit

Nach Kriegs­en­de wur­den die meis­ten lebens­wich­ti­gen Din­ge durch Tausch­ge­schäf­te beschafft. Die bes­te Tausch­wäh­rung waren Ziga­ret­ten und Kaf­fee, die Ruth manch­mal mit etwas Glück bei den Ame­ri­ka­nern ergat­tern konn­te. Sie muss­te auch öfters mit dem Zug nach Essen fah­ren, der Hei­mat­stadt ihres Stief­va­ters, um Salz­he­rin­ge gegen Kar­tof­feln und Koh­le zu tauschen.

Bei Hanewinkel hinter dem Thresen

Im Jah­re 1948 begann Ruth eine Leh­re zur Flei­sche­rei­fach­ver­käu­fe­rin in der Flei­sche­rei Hane­win­kel in der Goethestraße.

1948 begann Ruth eine Aus­bil­dung als Flei­sche­rei­fach­ver­käu­fe­rin bei Flei­scher­meis­ter Hane­win­kel in der Goethestraße.

bei Hanewinkel

Ruth bei Hane­win­kel 1951

Alles ande­re als ihr Traum­be­ruf, denn sie war sehr schüch­tern und wäre viel lie­ber Schnei­de­rin geworden.

Ruth Sander

Berufs­schü­ler

Aber zu die­ser Zeit muss­te man über eine sol­chen Arbeits­platz froh sein, denn Aus­bil­dungs­plät­ze waren rar.

Berufsschule

Berufs­schul­klas­se

Berufsschule

Unter­richt in der Berufsschule

Die Erin­ne­run­gen an die Fami­lie Hane­win­kel sind nicht sehr posi­tiv, des­halb bewarb sie sich nach der bestan­de­nen Leh­re auf eine Stel­len­an­zei­ge in einer Metz­ge­rei im hes­si­schen Bad Hom­burg. 1951 oder 1952 pack­te Ruth ihre Kof­fer und ging nach Bad Homburg.

Ruth Sander

Ruth mit Freundin

In Bad Hom­burg lern­te sie ihren Mann ken­nen, der als Gesel­le in einer ande­ren Metz­ge­rei arbei­te­te und des­sen Vater ein eige­nes Geschäft im hes­si­schen Kraft­solms hat­te (einem Dorf mit nur 600 Ein­woh­nern). Als Ruth schwan­ger wur­de und ent­schied, mit ihm nach Kraft­solms zu gehen, wur­de sie aus­ge­lacht, weil sich nie­mand ein Stadt­mäd­chen wie Ruth in einem “Bau­ern­dorf” vor­stel­len konnte.

Ruth und ihr Mann Sieg­fried bau­ten das Geschäft in Kraft­solms erfolg­reich aus, aber es war ein stei­ni­ger Weg, von der Dorf­be­völ­ke­rung akzep­tiert zu wer­den. Sie sprach anders, klei­de­te sich anders und mal­te sich auch noch die Lip­pen an, was man in die­sem Dorf zu der Zeit gar nicht kann­te. Kin­der rie­fen “Ami­nut­te” und mein Vater wur­de abschät­zig gefragt “was willst du denn mit so einer”.

Es sind Wun­den, die nie ver­heilt sind. Ruth lebt heu­te in einem Pfle­ge­heim, wo sie ihr Mann täg­lich besucht. Sie kann sich zwar nicht dar­an erin­nern, was sie zu Mit­tag geges­sen hat, dafür aber an jedes Detail aus ihrer Kind­heit und Jugend.

3 Antworten

  1. Karin Guterding sagt:

    Ruth wur­de in der Bür­ger gebo­ren und wuchs in der Muschel­stra­ße auf. Die Fami­lie muss­te in der Muschel­stra­ße ein­mal umzie­hen, da das Haus, in dem sie leb­te von Brand­bom­ben getrof­fen wur­de. Im Hin­ter­hof hat­te die Fami­lie Kanin­chen, die bei jedem Flie­ger­alarm erbärm­lich schrien. In der Nähe soll es eine Kir­che gege­ben haben, vor der die Lei­chen­ber­ge, nach Kon­fes­si­on getrennt, auf Abho­lung zur Bestat­tung war­te­ten. Sie besuch­te für eini­ge Jah­re die Pestalozzischule.

  2. Matthies sagt:

    Ein von der Zeit gepräg­ter har­ter Lebens­lauf. Gut gemacht. Sehr aussagekräftig.

    • Karin Guterding sagt:

      Dan­ke für die Rück­mel­dung. Der Bericht ist mei­ne Form, die Vita mei­ner Mut­ter zu wür­di­gen. Es ist nur ein klei­ner Aus­zug aus einer 70-sei­ti­gen Fami­li­en­chro­nik, die ich mei­nen Eltern gewid­met habe.

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