Die Jugendherbergen in Görlitz ab 1946
Die Jugendherbergen in Görlitz ab 1946
Ob einen östlichen Blick zur Lausitzer Neiße mit der Görlitzer Altstadtbrücke oder einen nordöstlichen Blick auf die Peterskirche mit ihren zwei weithin erkennbaren Türmen: Seit dem Jahre 2011 bietet die Europa-Jugendherberge Görlitz-Altstadt beides. Das Görlitzer Monatsjournal StadtBILD hat in seiner Ausgabe Nr. 207 vom Oktober 2020 einen Aufsatz von Herrn Wolfgang Stiller über die Jugendherbergen in Görlitz ab 1946 veröffentlicht:
Vom “Loensche Gut” in den Schönhof
Das “Loensche Gut” auf der Kastanienallee mit seinen Feldern wurde im Jahre 1833 von der Stadt Görlitz erworben. Es entstand ein Stadtgut. Zunächst wurde dieses Objekt als Haushaltschule genutzt, und danach waren Einrichtungen der SA und der NSDAP in diesem Objekt. Zwischen 1945 und 1946 wurde das Gut als Kinderheim und Flüchtlingslager genutzt.
In den Jahren von 1946 bis 1951 diente das “Loensche Gut” als Jugendherberge. Danach befand sich im Herrenhaus das Lehrlingswohnheim und die Berufsschule des VEG Obstproduktion Kunnerwitz. Damit entstand das Erfordernis, ein neues Objekt für eine Jugendherberge in Görlitz zu suchen.
Die Wahl fiel auf den Görlitzer Schönhof auf der Brüderstraße. In diesem Objekt befand sich die Jugendherberge ab etwa 1951 bis etwa 1978 mit ca. 60 Plätzen. Danach erfolgte Lehrstand und die Sanierung und Umbau zum Schlesischen Museum, welches 2006 eingeweiht wurde.
In der Folgezeit zeigten sich jedoch Änderungen der Nutzungsbedürfnisse an einer solchen Einrichtung. In und an diesem Objekt auf der Brüderstraße gab es keine Spiel- und Sportmöglichkeiten für die Kinder und Jugendlichen. Hinzu kam, dass die Ausstattung dieser Einrichtung nicht mehr den geltenden Anforderungen entsprach. In allen Zimmern gab es nur Ofenheizungen, die mit einem erheblichen Personalaufwand zu bedienen waren. Hinzu kam ein erheblicher Instandsetzungsaufwand am Dach und in den Zimmern.
Es bestand somit die Aufgabe, ein Objekt zu suchen mit genügenden Freiflächen für Spiel- und Sportmöglichkeiten sowie die Einrichtung von Grillplätzen. Außerdem sollte das neue Objekt an das öffentliche Nahverkehrsnetz angeschlossen sein, um den Bahnhof und die historische Innenstadt zu erreichen.
Vom Schönhof in die Ephraim Villa
Die Wahl fiel auf die Ephraim Villa auf der Goethestraße Nr. 17. Im Jahre 1905 wurde das Grundstück Goethestraße durch den Großkaufmann Martin Ephraim erworben und eine Villa nach den Plänen des Architekten Professor Hugo Bär errichtet und 1909 fertiggestellt. Nach zwischenzeitlicher Verpachtung kaufte die Villa 1922 der Kaufmann Gustav Glaser. Nach seinem Tod im Jahre 1950 gelangte diese Villa in den Besitz einer Erbengemeinschaft.
Im Grundstück befanden sich Mietwohnungen. Im Jahre 1975 erwarb das Grundstück die Stadt. Der Kauf war jedoch mit Problemen behaftet. Der Rechtsanwalt Dr Schwital war Bevollmächtigter der Eigentümer (Erbengemeinschaft) der Goethestraße Nr. 17 und 17a und gleichzeitig Vollzugsbeauftragter für das Testament. Das Problem bestand darin, dass im Testament ein Vermächtnis eingetragen war mit dem Vermerk, dass das Haus Goethestraße Nr. 17a (früher Haus des Chauffeurs der Firma) an diesen zu übertragen sei.
Die Problematik bestand darin: Im Rechtsverhältnis der DDR gab es den Passus Vermächtnisse nicht. Dieser Sachverhalt konnte folgendermaßen geklärt werden: Die Erben bekamen die Nr. 17a Goethestraße zugesprochen, und das Objekt der Villa wurde rechtmäßig mit Notar- und Kaufvertrag für ca. 250.000,- Mark der DDR durch die Stadt erworben. Damit konnte durch die Stadtverordnetenversammlung der Beschluss zum Ausbau einer Jugendherberge beschlossen werden. Den Mietern in diesem Grundstück wurden andere Wohnungen in der Stadt angeboten.
Villa wird zur Jugendherberge umgebaut
Im Jahre 1975 erfolgte die Planung und Projektierung in Eigenleistung der eigenen Abteilung Sportbauten des Ratsbereiches Jugendfragen und Sport unter der Leitung des Stadtrates Klaus Hoffmann. Die Planungs- und Ausführungskosten erfolgten aus Mitteln der Stadtverwaltung und Zuschüssen des Sonderfonds Jugend- und Sport des Rates des Bezirkes Dresden (Dieser Sonderfond wurde gespeist aus Mitteln von Lotto und Toto Gewinnen).
Die Kosten der Bauleistungen und Projektierung beliefen sich auf ca. 600.000,- Mark der DDR. Damit betrugen die Gesamtkosten für die Errichtung der Jugendherberge auf der Goethestraße für den Kauf des Grundstückes, Bau- und Projektierungskostenkosten sowie Ausstattung ca. 1 Million Mark der DDR. Ausführungsbetriebe waren: Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) Vorwärts Görlitz, Eigenleistung der Baubrigade der Fachabteilung Jugend- und Sport sowie durch weitere ehrenamtliche Helfer.
Einbruch in die Villa
Im Foyer der Villa befand sich ein großer Gobelin-Teppich, der für das Kulturhistorische Museum vorgesehen war. Ebenso wurde ein ca. 2,20 x 2,40 Meter großer bleiverglaster Fensterflügel ausgebaut und zur Vorbereitung einer Restauration in einem Kellerraum der Villa eingelagert. In diesen verschlossenen Kellerraum wurde eingebrochen und der Fensterflügel gestohlen. Hier mussten mehrere Leute mit Fahrzeug zu Werke gegangen sein, da das Fenster in dieser Größe und Gewicht nur mit 4 bis 6 Personen transportiert werden konnte. Gleichermaßen wurde in dem Keller ein Feuer gelegt, bei dem der Gobelin-Teppich versengt wurde und somit für das Kulturhistorische Museum wertlos geworden war.
Bei der Kriminalpolizei wurde vom Stadtrat Hoffmann wegen Einbruch, Diebstahl und Brandstiftung Anzeige erstattet. Die Ermittlungen blieben bis heute ergebnislos, und der Fall konnte nicht aufgeklärt werden. Der Verbleib des bleiverglasten Fensters wurde gleichermaßen nicht aufgeklärt. Im Jahre 1978 wurde der Autor dieses Artikels zum Stadtrat für Jugendfragen und Sport berufen. Ich war somit für die Fertigstellung dieses Objektes zuständig und verantwortlich.
Mein Vorteil war es, dass die finanziellen Mittel sowie die Baukapazitäten im Haushalt eingestellt und die Materialkapazitäten bilanziert und geplant waren. Der Bau zur Jugendherberge konnte zügig abgeschlossen werden. Im September 1978 war der Um- und Ausbau zur Jugendherberge beendet, und ich plante in der Stadthalle ein großes Bankett mit allen am Bau beteiligten Personen. Einladungen waren geschrieben, das Menü bestellt, Wimpel gedruckt.
Bauabnahme wurde verweigert
Eine Woche vor dem Termin dieser Dankesveranstaltung sollte die Bauabnahme der Jugendherberge erfolgen. Diese fand auch statt, aber die Freigabe der Jugendherberge wurde nicht genehmigt. Als Grund wurde der nicht vorhandene zweite Rettungsweg angegeben. Es lag mir aber eine gültige mit grünem Stempel versehene Baugenehmigung vor, und auf dieser wurde kein zweiter Rettungsweg gefordert. Nun war guter Rat teuer.
Innerhalb des Objektes konnte keine Treppe realisiert werden, da die Halle im Eingangsbereich bis in die 1. Etage reichte und unter Denkmalsschutz stand. Eine Feuerleiter am Objekt wurde auch nicht genehmigt, da es sich um eine Kindereinrichtung handelte. Die hinzu gezogenen Fachleute einigten sich dann darüber, aus der ersten Etage eine Stahltreppe über den Balkon und dann weiter in den Hof zu bauen. Wer macht das aber.
Wir hatten in unseren Einrichtungen eine gut organisierte Feierabend Arbeitsbrigade aus dem Waggonbau Görlitz im Einsatz. Dessen Leiter war Herr Lauer. Dieser erklärte sich bereit die Treppe zu bauen. Meine Bauhandwerker liquidierten in den oberen 2 Stockwerken jeweils ein Zimmer, beseitigten die Fußbodendecken und bauten eine monolithische Treppe ein.
Zweiter Fluchtweg über neue Treppe
Von der ersten Etage wurde zum Balkon im Parterre eine Stahltreppe eingebaut. Somit gab es den zweiten Rettungsweg. Das hatte jedoch zur Folge, dass durch den Wegfall von 2 Zimmern für die Treppe wir nicht mehr die geplanten 100 Plätze realisieren konnten. Denn erst ab 100 Herbergsplätze durften wir eine zusätzliche Haushaltstelle schaffen.
Nach dem Einbau der Treppe bestellte ich erneut die Abnahmekommission und die Herberge wurde im Komplex abgenommen. Das Einweihungs- und Eröffnungsdatum konnte ich somit belassen. Da mir bei der ersten Bauabnahme genehmigt wurde, nur die erste Etage der Jugendherberge zu belegen. Am 11. September 1978 zogen die ersten Gäste ein.
Um die 100 Plätze wieder zu erreichen entschlossen wir uns, im Gelände der Herberge einen Doppelbungalow zu errichten. Diesen boten wir dann Lehrern und unseren Partnern im Bezirk Dresden im Austausch als Urlaubsdomizil an. Somit konnten wieder 100 Beherbergungsplätze geschaffen werden und die zusätzliche Haushaltstelle durch das Jugendherbergswesen Dresden genehmigt werden.
Die Jugendherberge war damit in einer der schönsten Jugendstilvillen von Görlitz untergebracht. Sie verfügte über 92 Betten in Ein- bis Achtbettzimmern in der Villa plus 8 Betten im Doppelbungalow (gesamt 100 Betten). Die Jugendherberge auf der Goethestraße wurde dann später mit dem Titel “Schönste Jugendherberge der DDR” geehrt.
Probleme nach der Wiedervereinigung
Im Jahre 1990 mit der deutschen Wiedervereinigung wurden die Strukturen im Jugendherbergswesen völlig verändert. Die Übernachtungspreise stiegen über Nacht um das 36-fache. Im Jahre 1994 stellten die einstigen Besitzer der Ephraim Villa einen Antrag auf Rückübertragung des Hauses, was zur Folge hatte, dass Investitionen aller Art gestoppt werden mussten bis zur Klärung der Eigentumsverhältnisse. Im Jahre 1996 wurde der Antrag auf Rückübertragung an die früheren Eigentümer zurückgewiesen, da ja der Grundstückserwerb durch die Stadt mit Notarvertrag rechtsgültig abgeschlossen war.
Inzwischen aber hatten sich die Nutzungsansprüche der Jugendlichen für den Aufenthalt in Jugendherbergen erneut geändert. Der Trend ging wieder in die Zentren der Städte. Daher wurden Untersuchungen angestellt, ob sich in der historischen Altstadt ein geeignetes Objekt finden ließe. In der historischen Altstadt Peterstraße 15 und Hainwald 1 und 2 wurden entsprechende Objekte gefunden.
Gerade das unter Denkmalschutz stehende Gebäude Peterstraße 15 war erheblich gefährdet. Bereits im Dezember 2005 war die rückseitige Fassade eingestürzt. Im Hinterhaus (Hainwald 2) befand sich die ehemalige Feinkostfabrik der Firma Reibetanz und im Haus Hainwald 1 Ecke Neißstraße ein lange leer stehendes Internat der Medizinischen Fachschule. Für diese Objekte gab es keine Nutzungsvorschläge.
Erneuter Umzug der Jugendherberge
Es war ein Glücksumstand, dass der Investor Dr. Hans Peter Schlörb und Ingeborg Schlörb im Jahre 2010 die Grundstücke erwarben. Nunmehr wurden unter Leitung des Architekten Wolfgang Kück und unter der Bauleitung des Architekten Christian Weise diese Objekte zur Jugendherberge Görlitz-Altstadt umgebaut. Dies war auch dadurch möglich, dass der Umbau dieses Objektes durch die Bundesrepublik Deutschland und den Freistaat Sachsen sowie durch die Görlitzer Altstadtstiftung und durch die Deutsche Stiftung Denkmalschutz gefördert wurden. Die Investition betrug 4,5 Millionen Euro.
Am 1.10.2009 wurde Richtfest gefeiert und am 4.3.2011 wurde das Objekt feierlich übergeben. Durch den Investor wurde das Objekt an das sächsische jugendherbergswesen vermietet. Im Objekt befinden sich 47 Ein- und Mehrbettzimmer mit hochwertiger Ausstattung. Im Haus Peterstraße 15 und Hainwald 1 befinden sich die Gästezimmer und im Haus Hainwald 2 (ehemals Reibetanz) befinden sich der Speisesaal sowie Veranstaltungsräume.
Die ehemalige Jugendherberge auf der Goethestraße wurde der WBG (jetzt Kommwohnen) übergeben. Im Oktober 2010 wurde der Geschäftsbetrieb als Jugendherberge eingestellt und es begannen hochwertige Sanierungsarbeiten unter Führung der WBG Sanierungs- und Entwicklungsgesellschaft Görlitz mbH. Seit Mai des Jahres 2011 wird der Geschäftsbetrieb des Hauses Goethestraße nunmehr unter dem Namen ‚“Alte Herberge” für Übernachtungen, Tagungen, Feiern und weiterer Veranstaltungen einschließlich Gastronomie weitergeführt.
Im Jahre 2015 wurde der Name des Hauses erweitert und nannte sich nun Alte Herberge “Villa Ephraim”. Seit dem Jahre 2018 nennt sich das Haus nur noch “Villa Ephraim”. Damit soll zugleich an die Geschichte des Hauses erinnert werden. Der alte Doppelbungalow wurde abgebrochen und an dieser Stelle ein modernes Gebäude mit Appartements errichtet. Die “Ephraim Villa” bietet weiterhin preisgünstige Beherbergungen an und wird vielfältig für Familienfeiern genutzt.
Nachdruck über die Görlitzer Altstadtbrücke
Text und Bilder mit freundlicher Genehmigung des StadtBILD-Verlages Görlitz und Herrn Wolfgang Stiller