Die Befreiungskriege 1813/1815 – für Görlitz der Erinnerung wert
Die Monatszeitschrift StadtBILD hat in ihrer Ausgabe Nr. 118 vom Mai 2013 einen Aufsatz von Dr. Ernst Kretzschmar über die Befreiungskriege 1813/1815 veröffentlicht.
Vor genau 100 Jahren, also 1913, gab es in Görlitz wichtige Jubiläen und Einweihungen. Es war das letzte Friedensjahr, Höhepunkt der bisher unübertroffenen höchsten Blütezeit der Stadt. Man bewunderte die Neubauten: die Stadtsparkasse Berliner Straße, das Kaufhaus “Zum Strauß“ am Demianiplatz, die zwei Realgymnasien in der Südstadt und das Krematorium auf dem Städtischen Friedhof. Die Garnison, das Infanterie-Regiment Nr. 19, beging das 100. Regimentsjubiläum. In den Schaufensterauslagen der Buchhandlungen, in den vier örtlichen Tageszeitungen, im Schulunterricht und in den Militär-Traditionsverbänden rückte ein Thema in den Mittelpunkt — die Erinnerung an die siegreichen Befreiungskriege 1813/1815, mit denen die napoleonische Fremdherrschaft über weite Teile Europas ein Ende nahm. Ratsarchivar Professor Dr. Richard Jecht veröffentlichte 1913 eine gut lesbare und faktenreiche Überblicksdarstellung “Görlitz in der Franzosenzeit1806/1815”. Die 2. Auflage (1934) ist noch heute im Besitz zahlreicher Görlitzer Familien. Er verarbeitete zeitgenössische Tagebücher und Briefe, amtliche Dokumente aus dem Ratsarchiv sowie Presseberichte.
Besonders aufschlussreich ist auch das Buch von Johann Maaß “Kriegsdrangsale von Görlitz und der benachbarten Städte und Dörfer. Wanderungen über die verödeten Gefilde Sachsens und der Oberlausitz“ (1815/1816) mit einer kurz nach Kriegsende zusammengetragenen Aufstellung über Zerstörungen und Verluste der einzelnen Gemeinden, die in ihrer nüchternen Konkretheit erschüttert. Danach hinterließ das Jahr 1813 in Görlitz mit seinen etwa 9000 Einwohnern und 1100 Häusern 158 elternlose Kinder, 32 abgebrannte und 212 zerstörte Häuser und 1798 Tote in den Militärlazaretten. Die Stadt hatte in diesem einen Jahr 201.303 kranke und verwundete Soldaten zu verpflegen und 552.950 Mann Einquartierung. In zwei Kriegsjahren musste die Stadt fast 700.000 Taler Kriegskosten aufbringen. Aus beiden Büchern erfährt man viel über die Schicksale der Bevölkerung zwischen dem Sieg der preußischen Truppen an der Katzbach und der Völkerschlacht bei Leipzig, über Durchzüge und Stationierungen französischer, preußischer und russischer Truppen mit den damit verbundenen Belastungen, Aufenthalte bekannter Persönlichkeiten und die Stimmung der Einwohner.
Berichtet wird über Napoleon I. und seine Heerführer, über Zar Alexander I. und Preußenkönig Friedrich Wilhelm III., über Blücher, Yorck, Stein und Arndt. Auch städtische Repräsentanten wie Bürgermeister Sohr und zahlreiche Örtlichkeiten in Stadt und Land kommen vor. Danach ist nie wieder eine vertiefende wissenschaftliche Darstellung zum Thema Görlitz 1813/1815 erschienen. Die Veröffentlichungen über die Kriege 1866, 1870/1871 sowie über die zwei Weltkriege verdrängten die Ereignisse der Befreiungskriege aus dem gemeinsamen Gedächtnis.
Nur für politische Durchhalteappelle 1918 und 1945 waren Persönlichkeiten und Taten der legendären Kriege gegen Napoleon noch einmal gefragt. Weit wichtiger für die Zukunft der Stadt wurden die diplomatischen Folgen der Befreiungskriege. Der Wiener Kongreß bemühte sich um ein neues Kräftegleichgewicht in Europa nach dem Sieg über Napoleon. Sachsen als Verbündeter des Franzosenkaisers wurde durch den Verlust der Niederlausitz und der östlichen Oberlausitz hart getroffen. Für Görlitz als Mittelpunkt der preußischen Oberlausitz verband sich damit nach Anfangsschwierigkeiten ein eindrucksvoller und nachhaltiger politischer, wirtschaftlicher und kultureller Aufstieg bis 1914, der weitere 75 Jahre trotz aller Erschütterungen nachwirkte. Vor allem dadurch prägten sich die Befreiungskriege in das Selbstverständnis der Görlitzer ein.
Noch heute sind im Stadtbild die materiellen und geistigen Spuren dieses Wiederaufstiegs preußischer Prägung überall sichtbar, trotz der Rückgliederung an Sachsen durch die Besatzungsmacht 1945. Auch einige Straßennamen mit Bezug auf die Befreiungskriege (Fichtestraße, Arndtstraße, Theodor-Körner-Straße, Sohrstraße) und Gedenktafeln am Obermarkt (Napoleon, Zar Alexander L), an der Langenstraße (Arndt) und der Steinstraße (Freiherr vom Stein) sind für Einheimische und Touristen aufschlussreiche Denkanstöße.
1945 verschwand der Name Hardenbergstraße von der Kreuzkirche. Insbesondere in der Oststadt erinnerten bis 1945 in der Nähe der Kasernen Straßennamen an preußische Militärs aus der Zeit der Befreiungskriege: Courbière, Scharnhorst, Gneisenau, Yorck, Blücher, Kleist, Clausewitz, Lützow — in dieser Fülle wohl selten in einer anderen Stadt. In seinem Buch “Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich von Stein” erwähnte Ernst Moritz Arndt auch seinen Aufenthalt in Görlitz (3. Auflage 2005 bei der Weidmannschen Verlagsbuchhandlung Hildesheim).
Von einem langen Nachhall der Befreiungskriege ist heute in Görlitz kaum noch etwas zu spüren, obwohl es ja unübersehbare aktuelle Bezüge gäbe. Nur die Schrecknisse von 1945 brachten noch einmal das unmittelbare Kriegserlebnis in die Stadt und die Landschaft. Das wirkte nach bis heute. 1913 erschien eine Gedenkmünze des Deutschen Reiches zur Erinnerung an den Sieg über die Fremdherrschaft 100 Jahre zuvor. Auch für 2013 bemühten sich die Numismatiker um eine ähnliche Gedenkprägung durch die Bundesrepublik Deutschland, wohl auch ermutigt durch die gelungene Gedenkmünze zum 300. Geburtstag Friedrichs des Großen 2012.
Von Regierungsseite gab es kein Entgegenkommen. Man verwies auf das Bündnis mit dem westlichen EU-Partner und brachte daher ein anderes Münzmotiv heraus. Darauf sind zwei Strichmännchen mit einiger Mühe erkennbar, bei denen es sich um de Gaulle und Adenauer handeln soll, die seinerzeit das historische Nachbarschaftsabkommen unterzeichneten. In Görlitz erschien kürzlich beim “Regio Kultur-Verlag Görlitz” das illustrierte Heft “Spurensuche — Napoleon I. in der Region Görlitz” von Michael Gürlach. Darin sind zahlreiche Gedenkstätten abgebildet, darunter auch der Findling mit der Jahreszahl 1813 im Stadtpark. Die Steintafel, die früher an der Fassade Obermarkt 29 zu sehen war, ist nach der Sanierung des Hauses in eine Ecke der Eingangshalle verbannt; die eingetiefte Inschrift mit den Namen der prominenten Gäste (Napoleon I., Alexander I.) ist kaum noch lesbar, weil die Färbung entfernt wurde.
Die Freiheitskämpfer von damals haben wahrlich mehr verdient, auch in Görlitz. Aber die überregionale Presse und andere Medien haben schon wieder die gut honorierten Hinterfrager und Aufarbeiter in Stellung gebracht. Sie sollen den Deutschen einschärfen, die Kriege hätten gar keine Freiheit gebracht (im Gegensatz zu den USA und Frankreich, versteht sich), und der Aufschwung der nationalen Bewegung für ein einheitliches Deutschland habe schlimme Folgen gehabt. Und schließlich seien Nation, Volk, Vaterland und Unabhängigkeit gar nicht mehr zeitgemäß. Dennoch wird im Herbst das restaurierte Völkerschlachtdenkmal in Leipzig 100 Jahre nach seiner Einweihung wieder eröffnet. In unserer Geschichte behalten die Befreiungskriege 1813/1815 dennoch ihren unverlierbaren Platz als Beispiele ehrenhaften patriotischen Handelns und nationalen Selbstbewusstseins. Die Zeit wird kommen, dass man dies wieder versteht und beherzigt. Ich wünschte mir, dass wir, stellvertretend für alle Freiheitskämpfer von 1813, Theodor Körner ehren — an seinem Gedenkstein auf der Landeskrone und an seinem 200. Todestag. Er fiel am 26. August 1813 als Kämpfer des Lützowschen Freikorps. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung des StadtBILD-Verlages Görlitz