Der Görlitzer Kreuzweg zur Nachfolge am Karfreitag
Die Monatszeitschrift StadtBILD hat in ihrer Ausgabe Nr. 93 vom April 2011 einen Aufsatz von Dr. Hans-Wilhelm Pietz über den Görlitzer Kreuzweg veröffentlicht.
“Bitte gehen Sie den Weg mit uns in Stille.” So heißt es auf dem Blatt mit Liedern, Gebeten und Hinweisen für den Görlitzer “Kreuzweg zur Nachfolge am Karfreitag”. Und wenn dann im Schein der Frühlingssonne oder auch unter Schneefall oder Regen mehrere hundert Erwachsene und Kinder von der Peterskirche zum Heiligen Grab ziehen, kehrt eine ganz eigene Sammlung und Stille ein in die Lebensgeschichten der Teilnehmenden und auf den Weg, der sonst von dem so mannigfachen Erzählen, Stöhnen und Staunen des Alltags geprägt ist. Die Erinnerung an das Leiden und Sterben Jesu, die auf dem Kreuzweg mit Bibellesungen und Gebeten laut wird, nimmt mit. Ja, das muss einen richtig mitnehmen, was da am Karfreitag einem Unschuldigen zugemutet wurde und was an jedem Tag so viele, viele zu tragen, auszuhalten, zu leiden haben.
Der “Kreuzweg zur Nachfolge” verbindet die Teilnehmenden mit den Opfern von Unbarmherzigkeit, Gewalt und Tod. Und er lässt dem nachgehen, der das Leid getragen, die Lieblosigkeit untergriffen und das Vertrauen auf Gott nicht aufgegeben hat – selbst in der Gottesfinsternis: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” In Görlitz hat dieser Weg eine lange Tradition. Dankbar und wach wird an sie angeknüpft in jedem Jahr. Vermutlich ist dieser Kreuzweg von frommen Pilgern und den Einwohnern der Stadt schon gegangen worden, als das Heilige Grab in Görlitz am Ende des 15. Jahrhunderts als Stätte der Einkehr und des Gebets gebaut wurde. Aus Jerusalem kamen damals nicht nur die Zeichnungen und Pläne für die vor den Toren der Stadt errichtete Kapellenanlage an die Neiße. Aus Jerusalem kam auch jener Ausdruck einer vor allem von den Franziskaner-Mönchen gepflegten Passionsfrömmigkeit hierher: Schon die Aufzeichnung der letzten Woche Jesu im Markusevangelium ist ja so gegliedert, dass man die Orte und die Zeiten des Leidensweges Jesu Schritt für Schritt aufsuchen und mitvollziehen kann. Und in Jerusalem war ein solches Nachgehen der Passion Jesu besonders im 14. und 15. Jahrhundert das Ziel derer, die aus Ost und West, aus Nord und Süd an den Ort des Leidens, Sterbens und Auferstehens Christi gekommen waren.
Die Sehnsucht danach, dem mit allen Sinnen nahe zu sein, das selber zu sehen und zu “begehen”, was die Bibel vom Geheimnis des Todes und der Auferstehung Jesu erzählt, gehörte ja durch lange Zeit hindurch zu den Lebenswegen in Europa. Und wenn sich heute wieder so viele auf Pilgerwege begeben, dann klingt darin noch etwas von jener Erwartung auf, die gerade auf dem Weg zu einer herausgehobenen Andachtsstätte Erfüllung des Glaubens, Erfahrungen von selbstloser Liebe, eine feste Zuversicht und Hoffnung sucht.
In Görlitz ist die Entstehung des Heiligen Grabes mit seiner Adams- und Kreuzkapelle, mit dem Salbhaus und der Nachbildung des Grabes Jesu von Anfang an auf eine geistliche Praxis, auf einen immer neu zu gehenden Frömmigkeitsweg hin ausgerichtet gewesen. Die Anlage entstand in einer Umgebung, die an die heiligen Stätten in Jerusalem erinnerte. Auf einem Friedhof der “verlorenen Seelen”, auf dem in jener Zeit ungetauft gestorbene Kinder, Selbstmörder, Namenlose bestattet wurden, errichtete man das Heilige Grab: Zeichen einer Hoffnung und eines Glaubens, die alle Abgrenzungen und menschlichen Urteile durchbrechen. Ein Weg, der mit knapp 1000 Schritten von der Peterskirche bis dahin führte, erinnerte an die “via dolorosa”, den letzten Weg Jesu. Und unmittelbar angrenzend an die Anlage des Heiligen Grabes verwies ein Tal mit einem kleinen Bach an das Kidron-Tal in Jerusalem und ein demgegenüber aufragender Hügel auf den Ort der Anfechtung und des Gebets Jesu im Garten Gethsemane auf dem Ölberg.
Am Ende des 15. Jahrhunderts mag es angesichts dieser Voraussetzungen einen zwei-gestaffelten Kreuzweg gegeben haben: Vom Altar in der Adamskapelle beim Heiligen Grab, wo an das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern erinnert wurde, ging es am Gründonnerstag über den Ölberggarten gegenüber zur Peterskirche. Dort wurde dann vielleicht in der Krypta, wo bis heute eine eindrücklich gekennzeichnete Säule auffällt, an die Verspottung und Geißelung Jesu erinnert. Auf der Südseite der Peterskirche konnte schließlich am Karfreitag der Verurteilung Jesu gedacht und der Stationsweg, der dann zur Kreuzkapelle beim Heiligen Grab führte, begonnen werden. Dieser Görlitzer Kreuzweg mit 7 Stationen hat seine Bedeutung durch alle Brüche und Aufbrüche, durch alle Veränderungen und Einschnitte der Zeit- und Glaubensgeschichte hindurch behalten.
Die Reformation, die in Görlitz 1525 ihren Anfang nahm, hat wohl deutlich vor Augen gestellt, dass die Teilnahme an einem solchen Kreuzweg kein “frommes Werk“ sein kann, mit dem man sich bei Gott gleichsam etwas “verdient”. Sie hat seine Bedeutung als Hilfe zur Erinnerung, als Einübung in die Nachfolge Jesu, als Weg des Betens und Schweigens und Singens aber nicht aufgegeben.
Ein immer wieder abgedruckter Görlitzer Kupferstich aus dem Jahr 1719 belegt eindrücklich die gängige Praxis des Kreuzweges mit 7 Stationen. Er bildet auch heute die Mitte des geistlichen Lebens in der Woche zwischen dem Sonntag Palmarum und dem Osterfest. Vom Montag nach Palmarum bis zum Gründonnerstag wird jeweils um 17.00 Uhr in der Adamskapelle beim Heiligen Grab Andacht gehalten. Dann beginnt am Karfreitag um 13.30 Uhr in der Krypta der Peterskirche der Kreuzweg. Seine Abschnitte und Themen sind ganz an der biblischen Überlieferung orientiert.
Seine Station 1 “Jesus wird zum Tode verurteilt” führt vor das Südportal der Peterskirche. An deren Süd-West-Ecke wird daran erinnert, wie Jesus sein Kreuz auf sich nimmt (Station 2).Die 3. Station “Simon von Kyrene hilft Jesus, das Kreuz nachzutragen” hat vor dem Nikolaiturm ihren Platz. Eine Stärkung mit Tränenbrot, die ein Motiv aus den Psalmen aufnimmt, erfolgt an der 4. Station beim “Jesus-Bäcker“. Durch die Lunitz führt der Kreuzweg zur Station 5 “Jesus ermahnt die Frauen von Jerusalem“. Nach dieser heute auch durch eine musikalische Vertiefung der Klage der Frauen charakterisierten Station geht es zum Gelände des Heiligen Grabes. An dessen Eingang befindet sich die 6. Station “Jesus wird seiner Kleider beraubt”. Der Kreuzweg mündet schließlich mit seiner 7. Station in die Andacht zur Todesstunde Jesu vor der Kreuzkapelle am Heiligen Grab um 15.00 Uhr. Nach dieser Andacht, die dem Sterben und Tod Jesu gilt, schweigt alles Singen, alles überflüssige Reden, schweigen auch die Glocken bis zum Osterfest. Seine Feier beginnt in Görlitz mit der Andacht zur Grabesruhe Christi am Karsamstag um 18.15 Uhr. Sie gilt dem Geheimnis des Ganges Jesu zu den Verlorenen. “Hinabgestiegen in das Reich des Todes” heißt es dazu als ein Hoffnungswort im apostolischen Glaubensbekenntnis. Am Ostermorgen um 6.00 Uhr schließlich führt die Andacht der Frauen am leeren Grab zur Freude an der Auferstehung Jesu, zur Freude am Sieg des Lebens. Alle, die zuvor ihren Weg “in Stille“ zu gehen hatten und gehen konnten, bringen dann vom Heiligen Grab aus den Ruf in die Stadt und die Welt: “Der HERR ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. Halleluja”.
Autor:
Dr. Hans-Wilhelm Pietz, 2011
Nachdruck
Text und Bilder mit freundlicher Genehmigung des StadtBILD-Verlages Görlitz