Erich Sturk: Erinnerungen an die Humboldtschule in Geestemünde
“Erinnerungen an die Humboldtschule in Geestemünde” – das ist eine Chronik des Aufbauzuges der Humboldtschule des Jahrganges 1943 – 1947 aus der Feder des ehemaligen Schülers Erich Sturk. Zunächst erinnert Erich Sturk an die Planung und an den Bau der Humboldtschule in Geestemünde. Anschließend erzählt er in beeindruckender und oftmals in bedrückender Weise, was er dort als Schüler erlebt hat.
Im Jahre 1924 wurde von der sogenannten Volksschuldeputation der Stadt Geestemünde der Bau einer Volksschule in der Schillerstraße in Geestemünde beschlossen. Diesem Beschluss ging eine Planungsphase voraus, die sich bis in die Zeit vor dem 1. Weltkrieg zurück erstreckt. Der Plan begründete sich auf der Notwendigkeit, die Klassenfrequenz in den vorhandenen Schulen Geestemündes zu senken und gleichzeitig das Bildungsangebot zu erhöhen.
Die lange Planungsphase erklärt sich aus dem Ausbruch des 1. Weltkrieges und der nachfolgenden Inflation, die den Baubeginn wiederum verzögerte. Unter der Leitung von Stadtbaurat Dr. Wilhelm Kunz entstanden die Vorentwürfe und die Kostenschätzungen. Im Jahre 1928 konnte mit den Vorarbeiten begonnen werden. Die einsetzende Wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre verzögerte den Baubeginn erneut, da die erforderlichen Gelder für den Bau der Schule von der Stadt nicht aufgebracht werden konnten.
Dank der Bewilligung einer beantragten Staatshilfe konnte die Schule im April 1930 durch den damaligen Oberbürgermeister Walter Delius der Öffentlichkeit übergeben werden. Unter der Leitung von Rektor Graue entschloss sich das damalige Schulkollegium, der neuen Schule den Namen Humboldtschule zu geben.
Es war von vornherein beabsichtigt, der Volksschule gehobene Bildungsklassen für einen mittleren Bildungsgang anzugliedern. So entstanden 1933 vier gehobene Klassen, die sogenannten G‑Klassen. Die Aufnahmebedingungen für den G‑Zweig und die Leistungsanforderungen waren schon damals sehr hoch. Die Wiederholung eines Schuljahres war ausgeschlossen, wer die Anforderungen nicht erfüllte, musste den Zweig verlassen und zur Volksschule zurückkehren.
In der damaligen Stadt Wesermünde gab es in den dreißiger Jahren drei Schulen mit dem G‑Zweig. Dieses waren in Geestemünde die Humboldtschule, in Mitte die Pestalozzischule und in Lehe die Körnerschule. Die Schülerschaft für diesen Zweig kam bei der Humboldtschule aus den bestehenden Geestemünder Volksschulen, der Hermann-Löns-Schule, der Altgeestemünder Mädchenschule, der Neumarktschule, der Allmersschule und aus dem Volksschulzweig der Humboldtschule. Gleichzeitig stand der Zweig begabten Schülern aus den Wulsdorfer Schulen und den Schulen des südlichen Landkreises offen.
Am 15. Dez. 1939 wurde auf Anordnung des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung der G‑Zweig in den sogenannten Aufbauzug umgewandelt. Das Ziel dieser Schulreform war es, eine Alternative zu den Oberschulen und Gymnasien zu bilden und den Schulabgängern damit bessere Berufschancen zu bieten. Die Voraussetzungen für diese Pläne war ein hochqualifizierter Lehrkörper und ein Lehrplan, der erhöhte Anforderungen an die Fächer Deutsch, Leibeserziehung, Lebenskunde , Geschichte und Musik beinhaltete. Im Zuge des damaligen Zeitgeistes kam die politische Erziehung hinzu.
Für uns Schüler der Geburtenjahrgänge 1930/31 waren die Voraussetzungen für die Aufnahme in den Aufbauzug ein guter Notenquerschnitt und sowie eine Empfehlung des Schulleiters als Vermerk im letzten Schulzeugnis der Volksschule. Gleichzeitig musste der Nachweis über die erfolgreiche Teilnahme an einem zweijährigem vorbereitenden Englischunterrichtskursus an der Volksschule erbracht werden.
Im Aufbauzug wurde als Erziehungsform die Koedukation praktiziert, d. h. Jungen und Mädchen wurden gemeinsam unterrichtet. Diese Form war für uns neu, da die Volksschule nur eine nach Geschlechtern getrennte Erziehung kannte. Der Anteil an Jungen und Mädchen hielt sich die Waage, die Sitzplätze waren jedoch durch einen Gang getrennt.
Der Lehrkörper des Jahres 1943 bestand unter der Leitung von Rektor Graue aus den Damen Rothe (Zwiebel), Beckmann (Isabella), von Zobel (Zo — obel), die Englischunterricht erteilten, den Damen Müller für Turnunterricht der Mädchen und Passier für Musik, sowie den Herren Hagemann (Ferd) als Klassenlehrer und Fachlehrer für Deutsch, Geschichte und Erdkunde, Brase für Raum- und Naturlehre und Gabrich als Leiter der Leibeserziehung.
Die vorstehend genannten Fächerbezeichnungen waren neu und stellten eine Eindeutschung der Begriffe wie Mathematik, Physik und Biologie usw. dar. Besonderer Wert wurde auf die Leibeserziehung gelegt, die paramilitärischen Charakter hatte. Zu Beginn des Unterrichts musste die Klasse antreten und der Klassenälteste machte dem Lehrer Meldung über die Zahl der angetretenen Schüler und die Begründung der Krankmeldungen. Entsprechend hart war der Umgangston. Wurde ein Schüler beim Sprechen mit dem Nachbarn oder bei einer anderen Unaufmerksamkeit erwischt, musste er mit der Aufforderung “Du robbst, Du Schwein, Du Saupesel.….” drei Ehrenrunden auf dem Bauch robbend um die Turnhalle drehen. Die gleiche strenge Erziehung herrschte beim Schwimmunterricht im damaligen Marienbad. Nach dem vorangehenden Duschen wurde angetreten und der Körper auf Sauberkeit kontrolliert. Waren die Kriterien nicht ausreichend erfüllt, lautete der Spruch “Du hast Dich wohl seit Deiner Geburt nicht gewaschen. Zurück unter die Dusche, marsch, marsch… .”
Musikunterricht hatten wir bei Frau Passier, die sich sehr engagierte. Er fand im Musikzimmer der Schule statt, wo ein großer schwarzer Flügel stand. Wenn wir keine Lust zum Singen hatten, baten wir Frau Passier, uns den Erlkönig vorzutragen. Sie setzte sich dann an den Flügel und sang und spielte, und ich habe es als wundervolle Interpretation in Erinnerung.
Die Unterrichtszeit betrug an fünf Tagen der Woche jeweils sechs Einheiten á 45 Minuten und ging von 8.00 — 13.45 Uhr. Bei nächtlichen Fliegeralarm nach 22.00 Uhr begann der Unterricht um 9.30 Uhr und die Einheiten wurden in Kurzstunden umgewandelt, wobei die Fächerkombination bestehen blieb. Aber auch tagsüber wurde der Unterricht oft durch alliierte Bomberverbände, die über die Deutsche Bucht einflogen, unterbrochen, und der Luftschutzkeller der Schule musste aufgesucht werden. Die Klassenfrequenz schwankte dauernd, da einige Klassenverbände der Volksschulen erst Ende des Jahres 1943 bzw. Anfang des Jahres 1944 aus der Kinderlandverschickung und den besetzten Ostgebieten zurückkehrten. Hinzu kamen Sudetendeutsche und Siebenbürger Sachsen, die dem Ruf “Heim ins Reich” gefolgt waren.
Die schulischen Leistungen litten auch unter den außerschulischen Belastungen durch den Dienst im Jungvolk bzw. im Jungmädelbund mit vielen Aufgaben wie Spinnstoff‑, Altmaterial- und Heilkräutersammlungen, Straßensammlungen für das Winterhilfswerk, zusätzlichen Führerdienst, Ausbildung im Luftschutz und Einberufungen zu Lehrgängen in die Gebietsführerschulen Dibbersen und Hankensbüttel. In der Vorweihnachtszeit wurde Spielzeug gebastelt, das an die Kinder verteilt wurde, deren Väter im Felde standen.
Hinzu kam ein Dienst als Brandwache in der Schule, die tagsüber nach Schulschluss von den jüngeren und nachts von den älteren Jahrgängen gestellt wurde, für mich ein Flugmodellbaulehrgang der Flieger-HJ bei dem Modellbaulehrer Ernst Oltermann in der Mittelstrasse, ein Lehrgang im Morsen, der in der Hermann-Löns-Schule von der Nachrichten-HJ unter Leitung eines Offiziers des Flughafens Weddewarden erteilt wurde und der Hilfseinsatz bei den Bombenangriffen in den Jahren 1943 und 1944.
Eine besondere Leistung stellte für mich der Dienst als Luftschutzmelder in den Räumen der Ortsgruppe Neumarkt dar, zu dem ich abkommandiert war. Ich bekam einen Stahlhelm und eine Gasmaske gestellt und musste mich bei Fliegeralarm auf der Dienststelle der Ortsgruppe in der Max-Dietrich-Straße einfinden. Ein Ausweis erlaubte mir den Aufenthalt auf den Straßen bei Fliegeralarm. Den Flächenangriff mit Sprengbomben auf Geestemünde am 15. Juni 1944 erlebte ich in der Dienststelle, und ich musste gleich nach dem Angriff loslaufen und alle Schäden im Bereich der Ortsgruppe feststellen und melden. Dabei kam ich mir natürlich sehr wichtig und unentbehrlich vor.
Das Flächenbombardement wurde im Juni fortgesetzt. Am 17. Juni erfolgte der Angriff auf den Fischereihafen und am 18. Juni der Angriff auf den Stadtteil Lehe. Nach diesen Angriffen wurde ich zur Nachrichten-HJ abkommandiert, und wir erhielten die Aufgabe, das zerstörte Telefonnetz, das damals noch ein Freileitungsnetz war, durch Feldtelefone zu ersetzen, damit die Einsatzleitungen miteinander kommunizieren konnten. Das Material hierfür holten wir mit einem Handwagen vom Flugplatz Weddewarden und von der Marineschule. Mit Leitern, Steigeisen und Kabeltrommeln ausgestattet, verlegten wir ein provisorisches Freileitungsnetz auf den Straßen, das alle wichtigen Stellen miteinander verband. Die Vermittlung wurde auf der Banndienststelle in der Köperstraße und im HJ-Heim im Saarpark eingerichtet, und ich musste hier zusammen mit anderen Kameraden Vermittlungsdienste leisten.
Die außerschulische Belastung, die natürlich Auswirkungen auf die schulischen Leistungen hatte, wurde nicht von allen Kräften des Lehrkörpers akzeptiert. Ich erinnere mich, dass sich unsere damalige Englischlehrerin, Fräulein von Zobel, von der Klasse mit den Worten verabschiedete: “Ich habe mich aufgrund der Faulheit, die in den Klassen des Aufbauzuges herrscht, zur Volksschule zurückversetzen lassen.”
Eine Zäsur in der damaligen Schulzeit stellt der Beginn der Sommerferien 1944 dar. Durch die Gefahr der sich mehrenden Fliegerangriffe entschloss sich die Schulverwaltung, alle Schulen im damaligen Wesermünde zu schließen und die Kinder aufs Land zu evakuieren. Für die Klassen der Humboldtschule war der Raum Scheeßel — Rotenburg vorgesehen. Wir verließen Bremerhaven in einem Sammelzug unter der Leitung unseres Klassenlehrers Herrn Hagemann und der HJ-Zugbegleitung, Stammführer Erich Bohling, in Richtung Rotenburg. Die Fahrt ging über Bremervörde — Zeven, und ab Bremervörde wurden die ersten Klassen an den Bahnhöfen ausgesetzt.
Unser Fahrtziel war der Ort Lauenbrück in der Nähe von Scheeßel am Rande der Lüneburger Heide. Hier stand ein Ackerwagen bereit, auf den wir unser Gepäck verluden, und dann marschierten wir zum 4 km entfernten Ort Stemmen, einem kleinen Bauerndorf. Unter der Dorflinde mussten wir uns aufstellen, und die Bauern, die uns aufnehmen sollten, suchten sich aus unseren Reihen ihr Pflegekind aus. Dass sie im Hinterkopf den Gedanken an eine Arbeitskraft hatten, wird die Entscheidungen bei der Auswahl sicherlich beeinflusst haben.
Ich kam auf einen Hof etwas außerhalb des Ortes, nahe der damaligen Reichsstraße 75. Mein “Zimmer” war eine kleine Kammer, in der ein Bett stand und ein Stuhl Platz hatte, auf den ich meinen Koffer stellen konnte. Nachts hörte ich die Mäuse unter meinem Bett knabbern und die alliierten Bomberverbände nach Hamburg fliegen. Wenn es gar zu sehr brummte, weckte mich der Bauer, und ich musste mich anziehen. Waschen konnte ich mich draußen unter der Pumpe, der einzigen Wasserstelle des Hofes, die Toilette war ein Plumpsklo draußen neben dem Schweinestall.
Sonnabends ging es abends zusammen mit den französischen Kriegsgefangenen nach Wümmetal, wo die Wümme eine Furt bildete und man im seichten Wasser ein Vollbad nehmen konnte. Meine Hausgenossen waren der Bauer und seine Frau, eine mir gleichaltrige Tochter und drei polnische Zivilarbeiter, die ihre Mahlzeiten an einem gesonderten Tisch einnehmen mussten.
Der Schulunterricht wurde wieder aufgenommen. Das Dorf besaß eine einklassige Volksschule, und wir teilten uns die vorhandenen zwei Klassenräume mit der Dorfjugend, die von dem Lehrer Selig unterrichtet wurde. Turnunterricht hatten wir gemeinsam in Form einer Art Schlachtballspiel, das wir mit einem Medizinball austrugen. Herr Hagemann unterrichtete uns souverän in allen Fächern bis auf Englisch. Er fand bewundernswerter Weise sogar noch die Zeit, uns Unterricht in Stenographie zu geben. Zum Englischunterricht marschierten wir gemeinsam nach Lauenbrück, wo Fräulein Beckmann mit ihrer Klasse untergebracht war und sie die Möglichkeit hatte, uns nachmittags zu unterrichten.
Das Dorf lag in der Einflugschneise der alliierten Flieger nach Hamburg und Berlin, und wenn tagsüber die Bomberverbände in großer Höhe mit langen Kondensstreifen hinter sich herziehend das Dorf überflogen, mussten wir den im Schulhof befindlichen Splitterbunker aufsuchen, wo der Unterricht fortgesetzt wurde. Mehrere Male erlebten wir, dass eine von den viermotorigen Boing Fortress abstürzte und die Besatzungen gefangen genommen wurden. Anschließend durchstöberten wir die Maschinen, schauten uns alles an und nahmen verbotener Weise Leuchtspurmunition der Bordkanonen an uns. Gott sei Dank ist damit nie etwas ernsthaftes passiert, obwohl einmal bei einem Bauern wundersamer Weise der Kohleofen explodierte.
Neben dem Unterricht machten wir Ernteeinsatz bei den Bauern oder wurden gemeinsam zum Suchen von Kartoffelkäfern oder zum Sammeln von Bucheckern eingesetzt. Auch suchten wir in den Wäldern nach Reservekanistern, die von den neuerdings eingesetzten Focke Wulf 200, den ersten Düsenjägern, bei ihren Abfangeinsätzen abgeworfen wurden.
Der Dienst im Jungvolk trat in den Hintergrund. Wir wurden zwar dem bestehenden Jungzug im Ort eingegliedert, aber ein regelmäßiger Dienst fand nicht statt. Die Bauernjungen, deren Väter meistens eingezogen waren, hatten genug mit der Ernte und der Arbeit auf dem Hof zu tun. Nur wenn größere Veranstaltung geplant waren, mussten wir in Uniform teilnehmen. Ich erinnere mich an einen Bannappell in Scheeßel, bei dem der Bannführer in glühenden Worten den nahe bevorstehenden Endsieg ankündigte und uns, die Jahrgänge 1930/31 zu einer freiwilligen Meldung zum Dienst in der Waffen-SS, Division Hitlerjugend aufforderte. Es musste jedoch eine Einverständniserklärung der Eltern beigebracht werden, die keiner von uns erhielt.
Um die Herbstferien gab es einen Kampf. Die Bauern wollten uns zur Kartoffelernte dabehalten, aber wir wollten natürlich nach Hause zu unseren Eltern. Nach langem Hin — und Her durften wir am 16. September nach Wesermünde fahren. Es gab noch ein Hindernis mit der Bahn, denn am Schalter durften keine Fahrkarten ausgegeben werden, wenn die Fahrstrecke mehr als 100 km betrug. Wir umgingen dieses Problem, lösten eine Fahrkarte bis Rotenburg, fuhren dorthin und lösten dort eine Fahrkarte nach Wesermünde. Die Züge hatten einen flachen Güterwagen mit einem darauf montierten leichten Flakgeschütz hinter dem Tender und am Ende des Zuges — zur Abwehr feindlicher Tiefflieger, die oft und gerne die fahrenden Züge angriffen. Nachdem ich glücklich zu Hause angekommen war, erfolgte zwei Tage später, am 18. September 1944 der Großangriff alliierter Bomber auf Bremerhaven. Unser Haus brannte nieder, ich verbrachte die Nacht, im Splittergraben vor dem Feuersturm geschützt, auf dem Geestemünder Neumarkt.
Mit Beendigung der Herbstferien mussten wir nach Stemmen zurück, wenn wir in der Klasse verbleiben wollten. Der Platz auf dem Hof wurde enger, ausgebombte Familien aus Hamburg, Bremen und Wesermünde mussten aufgenommen werden, und im Januar 1945 erreichten die ersten Flüchtlingstrecks aus Ost- und Westpreußen das Dorf.
Die Schulräume wurden beschlagnahmt und dienten nunmehr einer flämischen Waffen- SS-Einheit als Unterkunft. Herr Hagemann bewirkte, dass uns der Clubraum des Dorfkruges vormittags zur Verfügung gestellt wurde, und so fand der Unterricht nunmehr bei “Schulten Johann” statt. Draußen marschierten schneidig und laut singend die Flamen vorbei. Im Saal des Dorfkruges waren die französischen Kriegsgefangenen untergebracht, die tagsüber bei den Bauern arbeiteten und nachts von einem Volkssturmmann im Saal eingeschlossen wurden. Anschließend kamen sie durch die Fenster wieder heraus und trafen sich im Dorf.
Der Krieg kam näher, und Herr Hagemann erhielt eine Einberufung zum Volkssturm. Es gelang ihm jedoch, eine Freistellung zu erwirken. So konnte der Unterricht bis zu den Osterferien 1945 fortgesetzt werden. Neben all den ernsten Ereignissen, die die Zeit und die Umstände mit sich brachten, gab es aber auch schöne Erlebnisse, an die ich mich gerne erinnere.
Zum einen war dieses das hautnahe Erleben der Natur, das für mich als Stadtkind ein völlig neues Gefühl bedeutete. Zum anderen war es das Gefühl der Notgemeinschaft, das uns zusammenhalten ließ.
In schönster Erinnerung sind mir die winterlichen Sonntagnachmittage auf der Diele beim Bauern Hoops. Hier kamen wir beim Schein der Petroleumlampe mit der Dorfjugend zusammen. Annegret Bässmann spielte auf dem Akkordeon, und wir tanzten dazu, während die Kühe in den Verschlägen mit den Ketten rasselten und brummten. Unser schönstes Lied war das Lied der KLV, das wohl von Millionen Schulkindern in allen Landverschickungslagern des Deutschen Reiches und der angrenzenden Ostgebiete gesungen wurde und mit dem ersten Vers begann:
Abends am Lagerfeuer sitzen wir,
gedenken der Heimat und plaudern von ihr.
Zu Vater und Mutter daheim
kehr’n die Gedanken ins Elternhaus ein.
Nach den Osterferien wurde der Schulunterricht nicht wieder aufgenommen. Die Front der englischen Truppen waren unserem Aufenthaltsort bedenklich nahe gerückt. So entschloss sich unser Klassenlehrer, Herr Hagemann, mit Unterstützung von einem angereisten Vater eines Mitschülers zu einer abenteuerlichen Heimreise mit drei verbliebenen Schülern. Sein Plan war, mit dem Fahrrad Bremervörde zu erreichen und dort eine Fahrgelegenheit mit dem Zug nach Wesermünde zu ergattern. Unsere Polen auf dem Hof hatten heimlich am Radio feindliche Propagandasender abgehört und dabei vernommen, dass um Bremervörde schon Kämpfe stattfanden. Trotz ihrer Warnungen schloss ich mich der Gruppe an.
Wir starteten gegen Mittag in Stemmen und fuhren über die Landstraßen, die vollgestopft waren mit Panzern, Lastwagen und Sturmgeschützen und den dazugehörigen Landsern. Durch eine Panne am Fahrrad blieb ich zurück und verlor den Anschluss an die Gruppe. Landser halfen mir beim Flicken des Rades, es wurde spät, und ich hatte den Mut verloren, Bremervörde bei Tageslicht zu erreichen So entschloss ich mich, nach Zeven zu fahren. Alle Augenblicke musste ich anhalten und vom Rad springen, da Tiefflieger in niedriger Höhe die Landstraßen abflogen und auf alles schossen, was sich bewegte.
Ich erreichte jedoch den Bahnhof von Zeven vor Einbruch der Dunkelheit und musste dort den Luftschutzkeller aufsuchen, da Fliegeralarm herrschte. Plötzlich ging ein Raunen durch den Luftschutzraum: “Der Zug kommt!” Alles stürmte nach draußen, und es gelang mir, einen Platz im Zug zu finden. Bei der Einfahrt in Bremervörde schaute ich aus dem Fenster und sah die Gruppe mit Herrn Hagemann auf dem Bahnsteig stehen. Um Mitternacht erreichte der Zug tatsächlich den Hauptbahnhof von Wesermünde.
Am 8. Mai 1945 war mit der Kapitulation und mit dem Einmarsch der Highland Division in das Stadtgebiet der Krieg zu Ende. Die Wirrnisse der Zwischenzeit stellen eine Geschichte für sich dar und gehören nicht in diese Chronik. Dazu gehört jedoch der Tod unseres Rektors Graue in den letzten Kriegstagen: Er hatte sich nach Kührstedt evakuiert, um dort das Kriegsende abzuwarten. Beim Beschuss des Dorfes durch die Engländer von Bederkesa aus verließ er das schützende Haus und wurde von einer krepierenden Granate tödlich verletzt.
Das Kriegsende mit dem unglücklichen Ausgang stellt erneut eine Zäsur für die Entwicklung der Schule dar. Die Besatzungsmacht setzt eine Militärregierung ein, die wiederum kommissarisch eine Stadtverwaltung aus politisch unbelasteten Leuten zusammenstellt. Die ersten Aufgaben dieser Verwaltung sind die Rückführung und Unterbringung der evakuierten Bevölkerung und deren Versorgung. Die Verwaltung wird in die Pestalozzischule einquartiert und nimmt hier ihre Arbeit auf. Die Schulen bleiben auf unbestimmte Zeit geschlossen, da die Lehrerschaft durch die von der Militärregierung eingesetzten sogenannten Spruchkammern erst auf ihre politische Unbedenklichkeit geprüft wird. Außerdem sind keine Räumlichkeiten vorhanden, da die meisten Schulen der Stadt zerstört sind. Die Aussichten auf die Zukunft sind ungewiss, da noch immer die Festsetzungen des Morgenthauplanes über die zukünftige Neuordnung Deutschlands Gültigkeit besitzen. Das Deutsche Reich ist in Besatzungszonen aufgeteilt, und die zuständigen Militärregierungen haben hier die Bildungshoheit.
Die Amerikaner beginnen mit der Umerziehung der deutschen Jugend, der “Reeducation” durch den GYA, den German Youth Aktivities und durch die Einrichtung der sogenannten Amerikahäuser. In diesen Institutionen soll bei den Jugendlichen ein neues Demokratieverständnis aufgebaut werden.
Auf Veranlassung meines Vaters beginne ich eine Tischlerlehre, aber da die Werkstatt zerstört ist, verbringe ich meine Lehrzeit mit Trümmerbeseitigung. Als im Herbst 1945 die Schulen wieder geöffnet werden, breche ich die Lehre ab und kehre zur Humboldtschule zurück. Unsere Lehrerschaft ist fast vollständig wieder in alter Besetzung anwesend, die “Persilscheine” sind erteilt. Hinzu kommen neue Lehrkräfte aus den ehemaligen Marineschulen und aus den Schulen, die zerstört sind.
Die Leitung der Schule wird Rektor Rabens anvertraut. Unsere Klassenlehrerin wird Frau Dr. Bohm vom Lyzeum Geestemünde mit dem Fach Deutsch. Geschichte und Erdkunde unterrichtet Herr Hagemann, Mathematik Herr Karsch, Englisch Fräulein Rothe, Physik und Chemie Herr Prenzlow und Zeichnen und Musik das Lehrerehepaar Biermann. Die Klassenfrequenz schwankt zwischen 40 und 50 Schülern. Da die Pestalozzischule durch die Stadtverwaltung und die American Highschool belegt ist, werden die Schüler dieser Schule auf die Humboldt- und Körnerschule verteilt. Das Kriterium für die Umverteilung, wer auf welche Schule kommt, stellt kurioserweise das Vorhandensein einer Straßenbahnhaltestelle in der Nähe der Wohnung dar.
Der Unterricht gestaltet sich für den Lehrkörper sehr schwierig. Die alten Schulbücher dürfen aus politischen Gründen nicht benutzt werden, neue Schulbücher gibt es nicht, Schreibpapier ist ebenfalls nicht zu bekommen. So muss der Unterricht aus dem Stegreif gestaltet werden. Die Überbelegung der Schule erfordert die Einführung des Schichtunterrichtes, wobei sich die Klassenverbände abwechselnd den Unterrichtsraum teilen. Die Kerngruppe unseres Klassenverbandes erweitert sich um die zu uns gewechselten Schüler der Körner- und Pestalozzischule, um Flüchtlinge und ehemalige Flakhelfer und Militärdienstverpflichtete.
Wichtigster Teil der Schule für uns ist die Schulspeisung, die von der Besatzungsmacht im Laufe des Jahres 1946 eingeführt wird. Aus Mitteln der Hooverspeisung wird in Großküchen abwechselnd Erbsensuppe beziehungsweise Milchsuppe bereitet und in Thermoskübeln an die Schulen geliefert. In der großen Pause erhält jeder Schüler hiervon einen sogenannten Schlag. Dieser Schlag stellt für viele Kinder die Hauptmahlzeit des Tages dar. Grund dafür ist die knappe Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, die im strengen und langen Winter 19946/47 ihren Tiefpunkt erreicht. Ich bin oft mit anderen Klassenkameraden zum Schulschluss nachmittags um 16.30 Uhr erneut in der Hoffnung zur Schule gegangen, um von den Resten des Tages einen Nachschlag zu erhalten.
Außerschulische Verpflichtungen gab es auch zu dieser Zeit. Um einen Anspruch auf Lebensmittelkarten zu erwirken, mussten Pflichtstunden bei der Enttrümmerung der Stadt nachgewiesen werden. Diese Pflichtstunden wurden im Klassenverband abgearbeitet. Pflicht war auch der gemeinsame Besuch einer Ausstellung der Gräueltaten in den KZ’s, die in der Aula der Wilhelm-Raabe-Schule aufgebaut war und die mich sehr schockiert hat, und der Besuch mehrerer Filmveranstaltungen, die der Reeducation dienen sollten. Keine Pflicht, aber allgemein üblich war an Winterabenden in der Dämmerstunde das Besorgen von Bunkerkohle von den Zügen am Fischereihafen, um daheim ein warmes Zimmer zu haben. Dieses “Besorgen” galt zu der Zeit als Kavaliersdelikt und diente dem Überleben.
Mit Beginn des neuen Schuljahres 1946 wechselte die Besetzung unseres Lehrkörpers. Herr Nordhoff war aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, hatte sein Spruchkammerverfahren hinter sich gebracht und wurde nun unser Klassenlehrer, der uns in Deutsch, Englisch und Musik unterrichtete. Auch der Turnunterricht wurde wieder aufgenommen, aber nur im Sommer, da unsere Turnhalle zerstört war. Wir mussten daher zum Turnunterricht den Städtischen Sportplatz im Bürgerpark aufsuchen. Da sich für eine Stunde der lange Anmarsch nicht lohnte, wurde der Unterricht alle 14 Tage auf einen Mittwochvormittag gelegt und für drei Klassen gleichzeitig erteilt. Herrn Gabrichs Lieblingssportart war nun Hand- und Fußballspiel. Die Asse in dieser Sportart, Bagenda und Gulbis, stellten ihre Mannschaften auf und spielten, wobei Herr Gabrich schiedsrichterte. Der Rest der Klassen wurde zum Langlauftraining auf die Aschenbahn rund um den Sportplatz geschickt. Nun weiß ich auch, warum mir Sport immer verhasst war!
Mit Anbruch der Weihnachtsferien setzte der Winter mit starkem Frost und Schneefall ein. Der Januar brachte klares Frostwetter mit Ostwind und Tiefsttemperaturen bis zu ‑18°, das sich bis weit in den März hinein hinzog. Die in der Schule vorhandenen Kohlevorräte waren aufgebraucht, Nachschub gab es nicht und so konnte die Schule nicht mehr geheizt werden. Nach Ablauf der Weihnachtsferien ruhte der Schulbetrieb bis auf weiteres. Die Verteilung der Schulspeise wurde fortgesetzt, und so gingen wir mit unserem Blechnapf jeden Morgen um 9.30 Uhr auf den Schulhof, um uns unseren Schlag Suppe abzuholen.Herr Nordhoff engagierte sich in selbstaufopfernder Weise und kam jeden Morgen mit der Straßenbahn von Altwulsdorf aus zur Schule gefahren. Nachdem wir die Schulspeisung empfangen hatten, gingen wir mit ihm gemeinsam in den Klassenraum, der Temperaturen unter dem Gefrierpunkt hatte. In Hut und Mantel mit aufgeschlagenem Kragen stand er eine Stunde an der Schultafel und gab uns Unterricht und Hausaufgaben und bereitete uns so auf die bevorstehende Abschlussprüfung vor, die mit Ablauf des Schuljahres im März 1947 stattfinden sollte.
Die Hoffnung auf einen erneuten Unterrichtsbeginn erfüllte sich nicht. Der Dauerfrost hielt an, und als Prüfungstermin wurde nach mehreren Verschiebungen der 20. März 1947 festgesetzt. Prüfungsort sollte die Zwinglischule in der Langen Straße in Lehe sein, die als eine der ältesten Schulen der Stadt zur Beheizung noch Kohleöfen besaß und so ein Raum für uns geheizt werden konnte. Wer die Kohle besorgt hat, weiß ich nicht. Ausgerechnet in diesen Tagen hatte Tauwetter eingesetzt und die vereisten Straßenbahnschienen überflutet, so dass die Straßenbahnen nicht fahren konnten. So trafen wir Geestemünder uns rechtzeitig am Hauptbahnhof und marschierten gemeinsam über die Straße der Freiheit, die heutige Stresemannstraße, in Richtung Lehe.
Wir kamen aufgrund der schlechten Fußbekleidung mit durchnässten Schuhen dort an und hingen unsere Schuhe und Strümpfe zum Trocknen an den riesigen eisernen Ofen. Der Prüfungsausschuss, dem es ähnlich ergangen war, machte es ebenso. Als Prüfungsausschuss unter dem Vorsitz des Beauftragten des Senators für Schulen und Erziehung, Schulrat Zimmermann zeichneten Rektor Rabens, Herr Nordhoff, Herr Hagemann, Fräulein Rothe, Frau Dr. Bohm und Herr Prenzlow verantwortlich.
Die schriftliche Prüfung begann unter Herrn Rektor Rabens in Mathematik unter strengster Klausur. Wer vor Aufregung zur Toilette musste, konnte dieses nur in Begleitung eines Lehrers verrichten. Es folgten die anderen Prüfungsfächer. Wer bei einer späteren Begutachtung durch den Prüfungsausschuss mit einer Zensur zum Guten oder Schlechten auf der Kippe stand, wurde mündlich nachgeprüft. Ich muss an dieser Stelle für ihr Verhalten in der mündlichen Prüfung lobend Fräulein Rothe erwähnen, die sich uns gegenüber loyal zeigte und durch ihre Mimik und durch geschickte Zwischenfragen manche gespannte Situation rettete.
Zur Belohnung für die Anstrengungen stand der Klasse in der Pause ein ganzer Kübel Schulspeisung zum Sattessen bereit. Entspannt und in gelockerter Atmosphäre traten wir in hellem Sonnenschein den Rückweg nach Hause über die Hafenstrasse an. Die offizielle Schulentlassungsfeier fand am 29. März 1947 vormittags um 11.00 Uhr im Musikzimmer der Schule statt. Nachmittags trafen wir uns noch einmal in der Schule, um mit Heißgetränk die bestandene Prüfung zu begießen.
Rückblickend möchte ich noch einmal unserer Lehrerschaft meine Hochachtung ausdrücken, die uns unter widrigsten Umständen ein Bildungsniveau vermittelt hat, das den heutigen schulischen Leistungen in keiner Weise nachsteht. Dieses Wissen kam uns in den1950er Aufbaujahren allen zu Gute und bildete die Basis für unsere berufliche Karriere und stellte für viele auch den Grundstock für den zweiten Bildungsweg dar. Ohne jemanden zurückzustellen, möchte ich die ruhige, besonnene und väterliche Art des Herrn Hagemann erwähnen, der uns durch all die schweren Jahre begleitete und der mit seinem versteckten Humor manche Eskalation vermeiden half. Bei Herrn Rektor Rabens bewundere ich die Art seiner Pädagogik und Dialektik, mit der er den Unterricht führte und seine Autorität zum Ausdruck brachte. Ich meine, dass er mit dieser Art auch bei der heutigen Schuljugend mit Erfolg bestehen könnte!
Bremerhaven, im Juli 1997 | Erich Sturk
Vielen Dank an Herrn Erich Sturk, dass er die Leser des DeichSPIEGELS an seinen Erinnerungen an die Humboldtschule teilhaben lässt.