Das Aue-Viertel — ein verschwiegener Winkel in Lehe
Als ich an einem Sommermorgen früh morgens um sechs Uhr das Aue-Viertel betrat, schien mir, ich sei in eine Welt gekommen, in der die Zeit stehengeblieben ist. Fast wie auf Zehenspitzen schlich ich durch die stille Oase der Ruhe. Keinesfalls wollte ich den Bewohnern dieser so stillen Gassen den Schlaf stehlen. Nur die Anwesenheit einer alten Dame, die mit ihrem Dackel gedankenverloren mitten auf der Straße stand, bürgte dafür, dass das Aue-Viertel noch bewohnt ist.
Östlich der lauten Bremerhavener Hafenstraße findet der Suchende die stille Oase — das Aue-Viertel. Das aus vielen kleinen Gassen bestehende alte Wohngebiet wird im Osten von der bis an den Geestebogen heran reichenden Werftstraße begrenzt. Im Norden bildet die Auestraße den Abschluss des Viertels, während der südliche Teil des Aue-Viertels ebenfalls auf die dort in die Hafenstraße einmündende Werftstraße trifft.
Hier waren die Werftarbeiter Zuhause, die auf den anliegenden ersten Geestewerften ihr Geld verdienten. Diese Arbeiterhäuser sind nicht so pompös wie die mehrstöckigen Gründerzeithäuser, die an der Hafenstraße oder in der Goethestraße stehen. Nein, es sind kleine spitzgieblige Ein- und Zweifamilienhäuser, von denen die ersten wohl schon um 1850 gebaut worden sein mögen.
Vorbei an den Häusern ziehen sich die alten Gassen. Da ist zum Beispiel die Gorch-Fock-Straße, die von der Hafenstraße kommend heute kurz vor der Werftstraße endet und wahrscheinlich schon um 1880 angelegt wurde. Aber damals hieß sie noch Geeststraße und beheimatete im Jahre 1893 schon 20 Häuser. Erst im Jahre 1925 bekam die Straße ihren heutigen Namen.
Die Werftstraße ist aus einem alten Geestedeich, dem sogenannten Schafdeich, hervorgegangen. Namensgeber der Werftstraße war die ehemalige Schiffbaugesellschaft Unterweser AG. An der Südseite der Werftstraße findet man das Firmengelände der untergegangenen Baugesellschaft H. F. Kistener.
Zwischen Werft- und Gorch-Fock-Straße verläuft parallel die ebenfalls sehr alte Straße: Auf den Sülten ist wohl eher als Gasse zu bezeichnen, die um 1860 angelegt wurde. Ebenfalls um 1960 wurde eine Straße angelegt, die im Jahre 1875 den Namen Grabenstraße bekam. Seit 1925 heißt die Straße Wasserweg, sie verbindet die Gorch-Fock-Straße mit Auf den Sülten.
Zwischen all diesen Straßen gibt es noch viele weitere kleine Gassen: Auestraße, Thorner Straße, Am Siel und die Luisenstraße, die der Eisenbahnbeamte Carl Cordes mit den ersten Häusern bebaute. So machte er den Vorschlag, der Straße den Vornamen seiner Nachbarstochter Louise Roentsch zu geben.
Es scheint, als haben wohl auch die Bremerhavener Stadtväter das Aue-Viertel neu entdeckt. Jedenfalls berichtete die Nordsee-Zeitung, das dieses “Netz aus kleinen Seitengassen auf historischem Boden” aufgewertet werden soll. Dabei ist dem Stadtplanungsamt die seit 15 Jahren dahingammelnde Kneipe an der Ecke Wasserweg zur Gorch-Fock-Straße ein Dorn im Auge. Das Gebäude soll – wenn es nicht zu sanieren ist – abgerissen werden. Ein Abriss wäre schade.
Über viele Jahrzehnte war diese Traditions-Gastwirtschaft eine der Stammkneipen der Werftarbeiter. Der Bremerhavener G. Lehmann erzählte mir am Telefon von den vielen Kneipen und kleinen Geschäften, die es in den 1950er Jahren im Aue-Viertel gegeben hat. Und er schwärmte von der Zeit, als er regelmäßig in “seine Stammkneipe” Gaststätte Ihlemann ging. Natürlich war die Gaststätte Ihlemann nicht identisch mit dem Lokal “Delphin”, das sich ja in der Straße Auf den Sülten befand.
Die Werften haben ihre Tore schon vor langer Zeit für immer geschlossen, und viele Häuser haben ihr ursprüngliches Antlitz längst verloren. Aber das, was noch an alten Bauten vorhanden ist, hält der Landesdenkmalpfleger für erhaltenswert. In Zusammenarbeit mit der Eigentümer-Standortgemeinschaft ESG Lehe soll nun das Aue-Viertel im Rahmen des Stadtumbauprogramms Lehe kartiert und geprüft werden. Was nicht mehr erhaltenswert ist, soll abgerissen werden. Die Stadtplaner hoffen, dass von der Belebung des Kistner-Geländes auch das Aue-Viertel profitieren wird.
Seinen Namen hat das Aue-Viertel von dem kleinen Flüsschen Aue, das sich vom Norden kommend durch das Viertel schlängelte, um sich an seinem Ende bei Ebbe in die Geeste zu ergießen. Bei Flut wurde die Mündung der Aue durch Sieltore verschlossen. In den 1960er Jahren wurde das Flüsschen seines Bettes beraubt und durch Rohre geleitet. 1971 wurde die Aue zugeschüttet.
Quellen:
Susanne Schwan, “Auftrieb fürs alte Aue-Viertel”, Nordsee-Zeitung vom 21.05.2016
Herbert Körtge, “Die Straßennamen der Seestadt Bremerhaven”