Leher Platz — Siegesplatz — Platz der NSDAP — Freigebiet
Der im heutigen Bremerhaven als “Freigebiet” bezeichnete Platz markierte schon gegen Ende der 1820er Jahre die nordöstliche Grenze Bremerhavens. Die Grenzstraße war die letzte Straße, die zu Bremerhaven gehörte. Sie mündete in den erst im Jahre 1861 angelegten “Leher Platz”. Hier verließ die von Bremerhaven nach Bremerlehe führende Chaussee das Bremerhavener Gebiet. An der Hannastraße begann das hannoversche Lehe, das nach dem Deutschen Krieg im Jahre 1866 preußisch wurde.
Der Name “Leher Platz” sollte aber nicht lange beibehalten werden. Am 3. November 1888 wurde er in “Siegesplatz” umgetauft. Doch schon wesentlich früher, am “Sedantag” des Jahres 1876, wurde auf diesem Platz eine Grünanlage angelegt, in deren Mitte ein bronzenes “Siegesdenkmal” errichtet wurde. Es war ein Kriegerdenkmal, das an den Sieg und an die vier im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 gefallenen Söhne Bremerhavens erinnern sollte, die ihre Pflichttreue im Kampf gegen den Erbfeind mit dem Tod fürs Vaterland bezahlten. Im Jahre 1938 musste das Denkmal, ein Obelisk aus rotbraunem Granit, der neuen Trasse der Straßenbahn weichen. Es wurde zum Bürgermeister-Martin-Donandt-Platz verbannt.
Wenn man heute verstehen will, warum zu jener Zeit im Krieg getötete Soldaten als Helden gefeiert wurden, muss man weit in die Geschichte zurückblicken. Wer mag, den lade ich herzlich ein, sich mit mir auf eine (oberflächliche) Reise in die deutsche Vergangenheit zu begeben:
In den Freiheitskriegen 1813 – 1815 hatten viele deutsche Studenten begeistert gegen Napoleon mitgekämpft. Endlich, so hofften sie nach dem Sieg über Napoleon, endlich wird sich ihr Wunsch nach einem geeinten Deutschland erfüllen.
Zu ihrer großen Enttäuschung lehnten die europäischen Großmächte auf dem Wiener Kongress die Bildung eines großen deutschen Staates ab. Und die deutschen Fürsten wollten über sich keinen starken deutschen Kaiser dulden. Statt des ersehnten Deutschen Reiches gab es nur einen losen “Deutschen Bund” mit 35 Fürstentümern und vier freien Städten.
Viele Studenten gaben sich damit nicht zufrieden. Sie kämpften für die nationale Einheit und trugen stolz die schwarz-rot-goldenen Farben, die zum Symbol deutscher Einheit und Freiheit wurden. Die deutschen Regierungen überwachten Universitäten, zensierten Zeitungen und Schriften und unterdrückten mit Gewalt alle freiheitlichen und nationalen Bewegungen.
Wie in ganz Europa lehnten sich die Menschen auch in Deutschland gegen die politische und soziale Unterdrückung auf. 1848 erreichten die Revolutionen auch Berlin, weil der preußische König Friedrich Wilhelm IV. den Bürgern die versprochene Verfassung nicht mehr geben wollte.
In Frankfurt am Main sollte eine gesamtdeutsche Nationalversammlung zusammentreten, um einen einheitlichen deutschen Staat zu schaffen und diesem eine Verfassung zu geben. Der König von Preußen sollte Deutscher Kaiser werden. Friedrich Wilhelm IV. lehnte die ihm angetragene Kaiserkrone aber ab. Damit war Schaffung eines Deutschen Reiches wieder gescheitert.
Bismarck wollte alle deutschen Staaten in einem Deutschen Reich vereinen. Es sollte aber die “kleindeutsche Lösung” werden, also ein Deutsches Reich ohne Österreich. Preußen sollte die stärkste Macht in Deutschland werden.
Nach dem Deutsch-Dänischen Krieg (1864) und dem Deutschen Krieg (1866) hatte Bismarck sein Ziel erreicht. Österreich musste aus dem Deutschen Bund austreten. Hannover, Kurhessen, die Landgrafschaft Hessen-Homburg, Nassau, die Freie Reichsstadt Frankfurt am Main und Schleswig-Holstein wurden in Preußen eingegliedert. In Bremerhaven besetzten preußische Truppen die Forts von Bremerhaven. Preußen ist der mächtigste Staat in Deutschland geworden und schloss am 18. August 1866 mit den verbliebenen Staaten nördlich des Mains den “Norddeutschen Bund”.
Nach einer von Bismarck herbeigeführten diplomatischen Krise erklärte Frankreich im Jahre 1870 Preußen den Krieg. Die patriotische Begeisterung in Deutschland war groß, und die Truppen der süddeutschen Staaten Baden, Bayern und Württemberg, die mit Preußen geheime Bündnisse geschlossen hatten, marschierten in Frankreich ein. In der für sie siegreichen Schlacht von Sedan wurde der französische Kaiser gefangengenommen. Mit der Einnahme von Paris durch die deutschen Truppen wurde der Krieg beendet.
Noch vor Beendigung des Krieges gründete Bismarck aus den Königreichen Preußen, Bayern, Württemberg und Sachsen, sechs Großherzogtümern, fünf Herzogtümern, sieben Fürstentümern und den drei Freien Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck ein Deutsches Reich unter der Führung von Preußen. Die süddeutschen Staaten willigten ein, dass der Norddeutsche Bund künftig den Namen “Deutsches Reich” tragen soll, sein Oberhaupt den Titel “Deutscher Kaiser”.
Am 18. Januar 1871 war es endlich soweit. An diesem Tag fand im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles die feierliche Proklamation des deutschen Kaisers statt. Das deutsche Volk sah seine nationalen Wünsche als erfüllt an. Und der Sieg über die Franzosen wurde vielerorts als Vergeltung für die Knechtung in der napoleonischen Franzosenzeit empfunden worden sein.
Blut und Begeisterung waren die Zutaten, aus denen das neue Kaiserreich entstand. Endlich Frankreich besiegt, endlich ein einheitliches deutsches Reich! Das deutsche Volk war euphorisch. Frankreich wurde geschlagen, man hatte einen Kaiser und das deutsche Kaiserreich schickte sich an, zu einer führenden Industriemacht aufzusteigen. Die Deutschen wurden selbstbewusst und überheblich gegenüber anderen Nationen. Sie waren stolz auf ihren neuen Staat. Orden und Uniformen prägten das Straßenbild.
Die Franzosen mussten die ungeheure Summe von fünf Millionen Francs als Entschädigung zahlen. In plombierten Zugwaggons wurden die Silbermünzen in das Deutsche Reich gekarrt — und entfesselten die Wirtschaft des jungen Staates und die Gier seiner Bürger. Die Zeit der Gründer (Gründerzeit) begann. Und sollte gut 30 Monate später schon wieder vorbei sein. Am 10. Oktober 1873 stürzten die Aktienkurse, dann stürzte die Berliner Quistorp’sche Vereinsbank, und schließlich taumelten die Menschen dem Abgrund entgegen…
Einen Nationalfeiertag gab es im Deutschen Kaiserreich noch nicht. Als patriotischer Feiertag wurde statt dessen zum Gedenken an die Kapitulation der französischen Armee nach der Schlacht bei Sedan jedes Jahr am 2. September der “Sedantag” gefeiert. Die jährliche Feiern am “Sedantag” hielten im Volk die Erinnerungen an die Demütigung Frankreichs aufrecht. An diesem Tag wurden überall im Deutschen Kaiserreich an zentralen Plätzen Siegesdenkmäler errichtet und feierlich eingeweiht. Jede Stadt wetteiferte unter sich in der Produktion von Schaustücken und Mahnfeiern über den großen Sieg.
Der “Sedantag” wurde nie zum offiziellen Feiertag erklärt und nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg am 27. August 1919 abgeschafft.
In Bremerhaven behielt der “Siegesplatz” aber noch bis 1933 seinen Namen. Das von Bismarck so mühsam errichtete Kaiserreich gab es längst nicht mehr, und auch die am 9. November 1918 ausgerufenen Weimarer Republik war schon wieder in das Dunkel deutscher Geschichte abgetaucht, als der Siegesplatz in jenem Jahr umgetauft wurde in “Platz der NSDAP”. Diesen “schönen” Namen behielt der Platz bis 1945. Dann ging er mitsamt seinen Namensgebern unter. Und trotz des verlorenen Krieges bekam er – welche Ironie — seinen alten Namen “Siegesplatz” zurück.
Im Jahre 1949 mussten die Anwohner abermals neue Visitenkarten drucken lassen. Die Stadtväter besannen sich, dass es mit dem Siegen ja wohl vorbei war und tauften den “Siegesplatz” noch einmal um. Zur Erinnerung an die Zeit bis 1888, als der südlichste Teil von Lehe, das sogenannte Freigebiet, als Zollausland an Bremerhaven angeschlossen und von zwei Zollhäusern bewacht war, bekam der Platz seinen heutigen Namen “Freigebiet”.
Quellen:
Fritz Stern: Gold und Eisen – Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Seite 208 + 209
Herbert Körtge: Die Straßennamen der Seestadt Bremerhaven, Seite 88
H. und R. Gabcke und Körtge: Bremerhaven früher, gestern, heute, Seite 52
Harry Gabcke: Bremerhaven in zwei Jahrhunderten 1827–1918, Seite 147
Harry Gabcke: Bremerhaven in alten Ansichten, Seite 38
Gert Schlechtriem: Bremerhaven in alten Ansichtskarten, Seiten 46, 48, 49
Dr. Hans Heumann Unser Weg durch die Geschichte, Hirschgraben-Verlag
Hermann Schröder: Geschichte der Stadt Lehe, Seiten 540 und 542
Georg Bessel: Geschichte Bremerhavens, Seiten 451, 509
Rogasch und Scriba Die Reichsgründung 1871, Lebendiges Museum Online
GEO EPOCHE: Otto von Bismarck 1815–1898, Seiten 92 und 94