“Früher war alles besser als heute”, wird die “Die Gute Alte Zeit” oftmals glorifiziert. Doch wie war es früher wirklich? Damals, als technischer und wirtschaftlicher Fortschritt gerade erst anfingen, die Lebensbedingungen zu verbessern.
Heinrich Zille gibt uns darüber Auskunft, wie die armen Leute um die Jahrhundertwende gelebt haben. Als seine Eltern mit dem neunjährigen Heinrich 1867 nach Berlin ziehen — wie Hunderttausende andere Arbeitssuchende auch — hausten sie bis zu seinem 14. Lebensjahr unter ärmlichen Bedingungen in einer Kellerwohnung. In den Hinterhöfen herrscht Armut und Kriminalität, Schmutz und Elend. Von den Häusern blättert der Putz ab, in den dunklen Hinterhöfen quellen die Mülleimer über. Zu den Treppenaufgängen mit den ausgetretenen Stufen gelangt nur spärlich das Tageslicht.
Wohnungen sind knapp in Berlin, damals schon. Die Nachfrage übersteigt ständig das Angebot. Und eine skrupellose Grund- und Bauspekulation sorgt dafür, dass es auch so bleibt. Wer kein Geld hat, der strandet in den Mietskasernenvierteln der armen Leute – in den feuchten Gassen, dort, wo das “Lumpenproletariat” lebt. Vier bis sechs Stockwerke sind die heruntergekommenen Häuser hoch, quadratisch um einen düsteren und stickigen Hinterhof angelegt, der erfüllt ist vom Lärm der kleinen Handwerksbetriebe.
Das Klopfen, Hämmern und Sägen aus den Werkstätten übertönt das Kindergeschrei und das Rufen und Schwatzen der Mütter. Hier auf den Hinterhöfen stehen die Mülleimer und manchmal auch der Abort gleich daneben.
Viele Wohnungen haben nur ein beheizbares Zimmer, das in der Regel gleichzeitig als Küche, Wohn- und Schlafstube dient. Die Gemeinschaftstoilette auf dem Treppenpodest oder eben im Hof neben den Mülleimern wird manchmal von mehr als 40 Personen benutzt. Fenster haben die Wohnungen nicht, Licht und Luft kommen spärlich über Lichtschächte – wenn die Wohnung nicht gleich im lichtlosen Keller liegt. Drangvolle Enge herrscht überall. Kinder, Kranke und zwischendrin viel zu schnell gealterte Frauen, die für sieben Pfennig die Stunde bis zur Erschöpfung auf ihrer auf Raten gekauften Nähmaschine treten, um für einen Zwischenhändler Kindermäntel oder Malerkittel zu fabrizieren.
Um ihre Miete bezahlen zu können, sind viele gezwungen, in den ohnehin schon überfüllten Wohnungen “Schlafburschen” aufzunehmen. Dann müssen die Kinder ihr Bett frei machen und auf dem Fußboden schlafen.
Am 1. April und am 1. Oktober ist “Ziehtag”, dann herrscht reger Umzugsverkehr. Beladen mit ihren wenigen Habseligkeiten ziehen die Mieter von einer trostlosen Wohnung in eine noch trostlosere – womöglich in einen Keller oder in einen soeben fertig gestellten, noch feuchten Neubau.
“Trockenwohnen” nennt man jene Mieter, die eine frisch verputzte Wohnung gerade so lange bewohnen dürfen, bis sie genügend ausgetrocknet ist und zahlungskräftigeren Mietern angeboten werden kann.
Bremerhaven ist nicht Berlin, hier strömten die Menschen nicht zu Tausenden in die Stadt. Aber die Wohnverhältnisse werden hier nicht besser gewesen sein. Doch hier in Bremerhaven sollte das ändern, hier gab es Menschen in der Verwaltung, die Verantwortung übernahmen und alles taten, um die Wohnungsnot in Bremerhaven zu lindern.
Von 1905 bis 1933 war der ehemalige Bremerhavener Stadtbaumeister Johann Heinrich Julius Hagedorn auch für den Wohnungsbau verantwortlich und setzte sich in den 1920ger Jahren maßgeblich für den sozialen Wohnungsbau in Bremerhaven ein. Unter seiner Regie entstand auf dem zwischen Gneisenaustraße, Kaiserstraße, Kantstraße und Waldemar-Becké-Platz gelegenem Areal ein neues Wohnquartier mit rund 520 neuen Wohnungen.
Das in der Weimarer Republik neue, verfassungsrechtlich abgesicherte Grundrecht auf gesunden Wohnraum setzte die Stadt Bremerhaven in diesem Neubaugebiet auf vorbildlicher Weise um. Viel früher als andere deutsche Städte schuf Bremerhaven zu Beginn des 20. Jahrhunderts die gesetzlichen Maßgaben für die Errichtung gesunden Wohnraums.
Mangel, Humanismus und sozialpolitische Verantwortung standen am Beginn einer Entwicklung, die in einer vorbildlichen Bauordnung von 1908 und einem reformierten Straßenplan von 1913 mündete. Auf Grundlage dieser neuen Gesetze konnte der Kampf gegen Feuchte und Schimmelbildung, Typhus und Krankheiten im traditionellen Mietwohnungsbau aufgenommen werden.
Damit auch die unteren Wohnungen vom Tageslicht erreicht werden konnten und eine Querlüftung möglich war, sahen die neuen Vorschriften einzuhaltende Bauhöhen in Abhängigkeit zur Straßenbreite vor. Auch wurden Toiletten und ein Wasseranschluss zur Auflage gemacht. Leicht geschwungene Straßen und versetzte Einmündungen sollten die Monotonie einer Blockrandbebauung entgegenwirken.
Unterstützung bei diesem großen Neubauvorhaben rings um die Scharnhorststraße fand der Bremerhavener Stadtbaumeister beim Berliner Stadtplaner Prof. Theodor Göcke. Gemeinsam wollten sie ein neues Wohnquartier für sozial Schwache bauen, in dem Arbeiterfamilien großzügige und gesundheitlich unbedenkliche Wohnverhältnisse vorfinden.
Sie haben darauf geachtet, dass die in Blockrandbebauung gestalteten Wohnhäuser mit Fenstern ausgestattet werden, durch die ausreichend Tageslicht und frische Luft in die für damalige Verhältnisse großen Wohnräume gelangen kann. Außerdem sollten Balkone oder Loggias den Mietern einen Ort der Erholung an der frischen Luft bieten. In den Bauten drücken sich die Ideale einer humanistischen Reformbewegung aus.
Aber nicht nur die Qualität der Wohnungen waren den Planern wichtig. Auch auf die Ästhetik der Gebäude legte man großen Wert. Aufwendig gestaltete Klinker- aber auch strukturierte Putzfassaden, plastisch gemauerte Hauseingänge, Stuckaturen und Werksteinskulpturen sind so charakteristisch für diese stilistisch am Expressionismus orientierten Bauten, dass einige Fassaden in der “alten Bürger” unter Denkmalschutz gestellt wurden.
Die Genossenschaft der Staatsbediensteten reichten 1913 den ersten Bauantrag für die Häuser an der Ecke Hardenberg- und Gneisenaustraße ein. Und dieser Antrag brachte sie erstmals alle zusammen: Waldemar Becké, den späteren Stadtdirektor und Oberbürgermeister, Julius Hagedorn, den Stadtbaudirektor, der ja bereits federführend bei der neuen Bauordnung und dem Straßenplan mitgewirkt hatte, und der Oberlehrer Friedrich Burk, Vorsitzender des Bremerhavener Mietervereins, 1927 Mitbegründer der heutigen GWF und zu dieser Zeit als konservativer Stadtverordneter Wortführer für den sozialen Wohnungsbau. Gemeinsam lernten sie die Wohnungen ohne Tageslicht und Toiletten kennen — Wohnungen ohne fließend Wasser und fingerdickem Schimmel auf Wände und Mobiliar. Sie bekamen ein Bild von den Wohnverhältnissen der unteren Einkommensschichten und legten den Grundstein für eine städtische Wohnungsfürsorge.
Und plötzlich machte sich der Wohnraummangel spürbar bemerkbar. Der 1. Weltkrieg war vorbei, und die Soldaten kehrten heim, heirateten und gründeten Familien. Zählte Bremerhaven im Jahre 1917 noch knapp 18.000 Einwohner, so waren es nur zwei Jahre später fast 22.000.
Die Zahl der Wohnungssuchenden explodierte. 1921 waren es mehr als 1.000 Menschen, vorwiegend Familien mit geringem Einkommen, aber auch Erwerbslose. Und ihr Anspruch auf gesunden Wohnraum war ja nun in der Weimarer Verfassung festgeschrieben – eine sozial-liberale Errungenschaft der neuen Demokratie nach dem Zusammenbruch der Monarchie.
Aber wie sollte Bremerhaven diesem verfassungsmäßigen Anspruch gerecht werden? Der private Wohnungsbau lag am Boden, weil Baustoffmangel und Mietpreisbindung niemandem eine Aussicht auf eine angemessene Rendite bot. Und auch alle Bemühungen, eine Baugenossenschaft zu gründen, verliefen im Sande.
Es half nichts, die Stadt Bremerhaven musste selbst tätig werden — und sie wurde es. Auf Antrag Hagedorns beschloss die damals nur 22.300 Einwohner zählende Stadt Bremerhaven im Jahre 1921 ein städtisches Wohnungsbauprogramm – einerseits ein sozialpolitischer Beschluss, andererseits aber auch ein öffentliches Konjunkturprogramm für die Bauwirtschaft.
Schon 1925/1926 entstanden in der Hardenbergstraße die ersten Putzbauten; zwar mit klassischem Grundriss, aber doch mit attraktiv großen Wohnungen mit eigenen Toiletten und Badezimmer, mit Balkon oder Loggia. Schnell kamen weitere Bauten an der Gneisenaustraße hinzu. Hier errichtete in den Jahren 1926/1927 der Bremische Staat ein Gebäudekomplex mit Wohnungen für die Polizisten der benachbarten Kaserne. Ab 1927 beteiligte sich die gemeinnützige Wohnungsfürsorge GmbH des Reichsbundes deutscher Mieter, die heutige GWF Wohnungs- und Immobilien GmbH, mit fünf Baugruppen am städtischen Wohnungsbauprogramm.
Die beiden ersten bis 1929 fertiggestellten Baugruppen an der Hardenberg- und Scharnhorststraße wurden detailverliebt ausgeführt und erhielten eine expressive Fassadengliederung. Auch die Bremerhavener Wohnungsbaugesellschaft mbH nahm hier ab 1930 ihre Bautätigkeit auf. Sie alle hatten das gemeinsame Ziel, die Wohnungsnot in Bremerhaven zu lindern. Sie stellten der Bevölkerung innerhalb von sieben Jahren rund 500 neue Wohnungen zur Verfügung.
Mit der Fertigstellung der Baublocks zwischen der Stein- und Kantstraße und den Häusern der Bremerhavener Wohnungsbaugesellschaft an der Fichtestraße endeten 1931 die Bautätigkeiten im Erhaltungsgebiet. Mit der Schließung der Tecklenborg-Werft 1928 nahm die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Bremerhaven ihren Anfang. Und ab dem Jahreswechsel 1929/1930 machte sich auch die einsetzende Weltwirtschaftskrise dramatisch bemerkbar. Für weitere Bauvorhaben fehlte der Stadt das Geld.
Das Wohnquartier rund um die Scharnhorststraße kann man aber wohl zu den größten kommunalpolitischen Leistungen Bremerhavens zählen kann. Hier im Erhaltungsgebiet lässt sich noch heute der in der Weimarer Republik stattgefundene Wandel in Städtebau und Architektur gut erkennen.
Natürlich nagt auch an diesen Gebäuden der Zahn der Zeit so gewaltig, dass umfangreiche Sanierungsmaßnahmen erforderlich geworden sind. Die Stadt, die GWF Wohnungs- und Immobilien GmbH und die Städtische Wohnungsgesellschaft Stäwog wollen in diesem und in den nächsten beiden Jahren in Gebäude, Straßen und in das Wohnumfeld vier Millionen Euro investieren.
Für eine denkmalgerechte Sanierung hat die Stadt Bremerhaven insgesamt 2,2 Millionen Euro eingeplant. Darin sind die Fördermittel für die Wohnungsgesellschaften enthalten – ein Drittel stammt aus dem Bundesprogramm “Städtebaulicher Denkmalschutz”.
Für die Sanierung der Scharnhorst- und der Hardenbergstraße hat die Stadt Bremerhaven 1,1 Millionen Euro veranschlagt. Dafür sollen die Straßen nach historischem Vorbild erneuert werden. Die Hauszugänge sollen mit Mosaikpflaster und eingerahmten Betonplatten wieder eine Gestaltung wie in den 1920er Jahren annehmen. Die irgendwann verschwundenen Ligusterhecken, die einmal die Vorgärten vom Straßenraum abgrenzten, sollen wieder angepflanzt werden.
Schließlich hat die zuständige Bremerhavener Baubehörde den neuen Bebauungsplan Nr. 436 “Erhaltungsgebiet Scharnhorststraße” aufgestellt, der den Bebauungsplan “Steinstraße” aus dem Jahre 1978 insoweit ersetzt, als dieser das Erhaltungsgebiet tangiert.
Die Gebäude an der Bürgermeister-Smidt-Straße bis in Höhe der Scharnhorststraße sind nun als Baudenkmale (Ensemble) in die Denkmalliste des Landes Bremen eingetragen. Zudem soll entsprechend seiner baugeschichtlichen Bedeutung das gesamte Plangebiet als Erhaltungsgebiet festgesetzt werden, was eine grundsätzliche Genehmigungspflicht baulicher Anlagen und ihrer Nutzung zur Folge hat.
Wer sich intensiver über die Erhaltung der das Stadtbild prägenden Gestaltungsmerkmale informieren möchte, kann sich die sehr informative Broschüre “Städtebaulicher Denkmalschutz – Erhaltungsgebiet Scharnhorststraße” bei der GWF Wohnungs- und Immobilien GmbH als pdf-Datei herunterladen.
Quellen:
GEO-Epoche Nr. 12: Deutschland um 1900, Seiten 154 bis 161
gfw-bremerhaven.de, Broschüre “StädtebaulicherDenkmalschutz…”
sonntagsjournal.de, vom 31.08.2014, Seite 6
staewog.de, Mieterzeitung vom März 2014, Seite 8