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Erinnerungen an die Georgstraße

Erin­ne­run­gen an die Georg­stra­ße – das sind Geschich­ten, die die drei Geest­e­mün­der Jun­gen Wal­ter Abbes, Erich Sturk und der im Jah­re 2013 lei­der ver­stor­be­ne Her­bert Ehlers in ihrer Jugend­zeit in den 1930er Jah­ren erlebt haben. Sie hat­ten die Idee, ihre Erin­ne­run­gen für die Nach­kom­men schrift­lich fest­zu­hal­ten. Hier sind die Erin­ne­run­gen von Erich Sturk:

Erinnerungen an die Georgstraße

Anhand einer Flur­kar­te der Georg­stra­ße ver­such­ten sie, die Häu­ser und Geschäf­te der Rei­he nach zu loka­li­sie­ren. Was der eine nicht mehr wuss­te, wuss­te der ande­re, und so kam die anlie­gen­de Lis­te zusam­men, die weit­ge­hend der dama­li­gen Loka­li­tät ent­spricht. Im Jah­re 2014 stell­ten Wal­ter Abbes und Erich Sturk die Auf­zeich­nun­gen der neu gegrün­de­ten Geschichts­werk­statt Geest­e­mün­de zur Verfügung.

Ples­se­eck

An der west­li­chen Sei­te der Georg­stra­ße befand sich ein keil­för­mi­ges Grund­stück, das durch den Ver­lauf der Par­al­lel­stra­ße (heu­te Ulmen­stra­ße) begrenzt wur­de. Es gehör­te zu der Spi­ri­tuo­sen­fa­brik Ples­se, die sich in Wuls­dorf in der Weser­stra­ße befand und haupt­säch­lich Liqueu­re herstellte.

Im Erd­ge­schoss befand sich ein Laden, der von Ger­hard Loop geführt wur­de und der die Erzeug­nis­se der Fir­ma Ples­se ver­kauf­te. Er war mit mei­nen Eltern befreun­det und wur­de von mir “Onkel Ger­hard” genannt. Mei­ne Mut­ter schick­te mich oft dort­hin, um eine Fla­sche Apfel­most zu kau­fen. Er hat­te eine ele­gan­te Art, sei­ne Ware anzu­prei­sen, hob die Fla­sche hoch, um das Eti­kett zu prä­sen­tie­ren, leg­te sie auf den Tre­sen und roll­te sie geschickt in Ein­kaufs­pa­pier und über­reich­te sie mir, als hät­te ich eine wert­vol­le Fla­sche Sekt gekauft. Herr Ples­se war übri­gens ein Meis­ter im Her­stel­len von Liqueu­ren. Er hat­te einen so genann­ten “Klos­ter­li­queur” in sei­nem Ange­bot, der im Geschmack einem Coint­reau nicht nach­ste­hen sollte.

Erinnerungen an die Georgstraße

An der Spit­ze des Hau­ses befand sich eine Filia­le des Buch­händ­lers Mem­min­ger, die von Fräu­lein Müg­ge geführt wur­de. Hier kauf­te ich mei­ne Jugend­bü­cher, meis­tens vom Schneider–Verlag, der nach dem Krieg wegen sei­ner Ten­den­zen sehr ange­fein­det wur­de. Mir ist der für mich ange­neh­me Geruch nach Büchern noch heu­te in Erinnerung.

Das Ples­se­eck wur­de nach dem Krie­ge wie­der auf­ge­baut und hat heu­te noch sei­nen Namen. Im Erd­ge­schoss wur­de der Spi­ri­tuo­sen­la­den wie­der ein­ge­rich­tet, dies­mal von den Söh­nen des Herrn Loop geführt, und im Ober­ge­schoss ent­stand ein Café, in dem an Wochen­en­den getanzt wurde.

Eis-Becker

Dem Ples­se­eck nörd­lich gegen­über stand ein klei­nes Haus aus roten Zie­gel­stei­nen, das der Reichs­bahn gehör­te. An die­ser Stel­le über­quer­ten die Eisen­bahn­schie­nen die Stra­ße Am Quai. Die Güter­zü­ge pas­sier­ten mehr­mals am Tage die Stra­ße und brach­ten Koh­le zu dem Gas­werk an der Elbe­stra­ße und kehr­ten abends mit Koks bela­den zurück. Beim Über­que­ren der Stra­ße kam ein Eisen­bah­ner aus dem Haus und sperr­te die Stra­ße mit­tels einer roten Fah­ne, die er in der Hand schwenk­te, ab. Die Bahn­li­nie führ­te vom Gas­werk aus noch wei­ter über die Geest­hel­le zur Rick­mers­werft, die auch durch Güter­zü­ge mit Mate­ri­al ver­sorgt wurde.

Eis-Becker Plesseeck

Das Gebäu­de beinhal­te­te außer­dem noch eine öffent­li­che Toi­let­te, eine Tele­fon­zel­le und einen Kiosk, der von der Fami­lie Becker geführt wur­de. Hier gab es im Som­mer das bes­te Eis in Geest­e­mün­de, und wenn im Mai die Sai­son eröff­net wur­de, sprach sich das unter uns Kin­dern schnell her­um. Mit­tags tra­fen sich dort die Schü­ler des Real­gym­na­si­ums mit den Schü­le­rin­nen der höhe­ren Töch­ter­schu­le aus der Stra­ße “Am Rat­haus” (heu­te Klus­smann­stra­ße) zum Eis­essen und Pous­sie­ren. Die Spitz­waf­fel mit einer Kugel kos­te­te 5 Pfen­nig, die Becher­waf­fel mit 2 Kugeln 10 Pfennig.

Loh­ren­gel und Hesse

Im nörd­li­chen Teil der Ost­sei­te der Georg­stra­ße befand sich die Fir­ma Loh­ren­gel und Hes­se, ein soge­nann­tes Eisen­wa­ren­ge­schäft. Im Gegen­satz zur Fir­ma Becken, deren Kund­schaft haupt­säch­lich aus Pri­vat­kun­den bestand, kauf­ten hier vor­wie­gend die Hand­wer­ker ihren Bedarf ein. Das Haupt­ge­schäft bestand aus Tür- und Fens­ter­be­schlä­gen und Klein­ei­sen­ma­te­ri­al, aber auch Her­de und Öfen wur­den ange­bo­ten. Der Laden war dun­kel und hat­te einen lan­gen Tre­sen, hin­ter dem der Geschäfts­füh­rer, Herr Witt­schen, die Ware anbot. Mein Vater kauf­te hier für sei­ne Tisch­le­rei sein gesam­tes Mate­ri­al ein, und ich beglei­te­te ihn oft bei sei­nen Ein­käu­fen. Nach der Aus­bom­bung bestand das Geschäft noch lan­ge im ehe­ma­li­gen Lager in der Paschstraße.

Geestemünde, Georgstrasse, um 1895

Pho­to Müller

  • An der West­sei­te der Georg­stra­ße zwi­schen Ahron­heim und Ples­se lag das Pho­to­ge­schäft Mül­ler, ein Spe­zi­al­ge­schäft für Pho­to­ca­me­ras, Fil­me und Pho­to­ar­bei­ten. Mein größ­ter Wunsch als Kind war, so lan­ge ich den­ken konn­te, eine eige­ne Kame­ra zu besit­zen. Ich stand oft vor dem Schau­fens­ter und betrach­te­te die aus­ge­stell­ten Lei­cas, Con­tax und ande­re Kame­ras, deren Erwerb für mich uner­schwing­lich war.

Zu Beginn des Krie­ges 1939 tauch­ten auf­grund der Kriegs­be­wirt­schaf­tung in der Nord­west­deut­schen Zei­tung soge­nann­te Tausch­an­zei­gen auf. Durch Zufall las ich eine Anzei­ge mit dem Inhalt: “Suche Roll­schu­he, bie­te Foto.” Als Adres­se war der Sedan­platz ange­ge­ben. Ich putz­te also mei­ne Roll­schu­he, die ich schon lan­ge nicht mehr benutz­te, und zog damit zu der ange­ge­be­nen Adres­se. Mei­ne Roll­schu­he fan­den Anklang bei dem Tausch­wil­li­gen, und ich hielt eine 6 x 9 Box “Kod­ak Brow­nie”, unbe­nutzt mit Film in Ori­gi­nal­ver­pa­ckung. Ich war hoch­er­freut und mach­te unter dem Weih­nachts­baum mei­ne ers­ten Fotos mit dem “Seut­he­lin-Blitz­licht­pul­ver” am Besen­stiel. Die Fil­me ent­wi­ckel­te ich im Luft­schutz­kel­ler bei Rot­licht in einer Sei­fen­scha­le, nach­dem ich mir die ent­spre­chen­den Che­mi­ka­li­en bei Pho­to-Mül­ler gekauft hatte.

Nun wan­der­te mein Taschen­geld dort­hin, und ich erin­ne­re mich an die Atmo­sphä­re und an den Geruch im Laden nach Che­mie und Tech­nik, den ich als sehr ange­nehm und geheim­nis­voll emp­fand. Ich kauf­te dort regel­mä­ßig die monat­lich erschei­nen­den “Agfa Pho­to­blät­ter” und Bro­schü­ren aus der Rei­he “Der Pho­to­rat” vom Knapp­ver­lag Hal­le an der Saa­le für 75 Pfen­nig, die wert­vol­le Tipps und Anre­gun­gen zu ver­schie­de­nen Pho­to­the­men ent­hiel­ten. Lei­der gin­gen die­se beim Luft­an­griff ver­lo­ren, aber ich konn­te sie kürz­lich anti­qua­risch im Inter­net erwer­ben, sogar jahr­gangs­wei­se in Buch­form gebunden.

Die Box hat mich jah­re­lang in mei­ner Kind­heit und Jugend­zeit beglei­tet und steht heu­te noch in mei­ner Kame­ra­samm­lung. Sie beglei­te­te mich bei der Kin­der­land­ver­schi­ckung und über­leb­te zusam­men mit mei­nem Nega­tiv­ar­chiv die Brand­nacht vom 18. Sep­tem­ber 1944 im Luftschutzkeller.

Durch die heu­ti­ge Mög­lich­keit der digi­ta­len Bild­be­ar­bei­tung mit dem Com­pu­ter kann ich die Fotos in einer vor­her nicht erziel­ba­ren Qua­li­tät aus­dru­cken, und ich besit­ze damit unwie­der­bring­li­che Auf­nah­men aus alten Zeiten.

Metro­pol-Kino

An der Ein­mün­dung der Bucht­stra­ße in die Georg­stra­ße befand sich an der Nord­ost­ecke das Gebäu­de des Metro­pol­ki­nos. Im Erd­ge­schoss befand sich im Eck­la­den eine Nie­der­las­sung der Nord­west­deut­schen Zei­tung. Nach­mit­tags um 15.00 Uhr wur­de dort die Zei­tung ange­lie­fert, und es ver­sam­mel­ten sich dort die Zei­tungs­bo­ten zum Emp­fang und zur Aus­tra­gung. Im 1. Ober­ge­schoss lag die Gast­wirt­schaft Dam­mann mit Ein­gang von der Bucht­stra­ße her.

Kino Metropol

Zur Georg­stra­ße hin befand sich der Ein­gang zum Kino­saal, der tags­über mit einer Git­ter­tür ver­schlos­sen war. Neben dem Ein­gang befan­den sich ver­glas­te Schau­käs­ten mit Fotos von den aktu­el­len Fil­men, und über dem Ein­gang spann­te sich ein gro­ßes Trans­pa­rent mit Wer­bung für den Film. Zur Nach­mit­tags­vor­stel­lung wur­de das Git­ter des Ein­gan­ges von Herrn Ado­meit geöff­net. Herr Ado­meit war von Beruf Musi­ker, erteil­te Kla­vier­un­ter­richt und stand neben­bei hin­ter der Kas­se und riss die gekauf­ten Ein­lass­kar­ten ab.

Es gab jugend­freie Fil­me und Fil­me, die ab 14 bezie­hungs­wei­se 18 Jah­ren erlaubt waren. Herr Ado­meit ach­te­te streng dar­auf, dass die­se Vor­schrif­ten ein­ge­hal­ten wur­den. Der Besit­zer des Kinos war ein Herr Ada­mi, der noch ein zwei­tes Kino, das Atri­um, in der Stra­ße An der Müh­le betrieb.

Es gab nur eine Rol­le mit Auf­nah­men der Wochen­schau, die im Wech­sel zwi­schen bei­den Kinos hin- und her­ge­tra­gen wur­de. Für den Trans­port hat­te er Jugend­li­che ange­stellt, die um ihren Job von uns Kin­dern sehr benei­det wur­den, da sie sich alle Fil­me umsonst anschau­en konn­ten. Sonn­tags nach­mit­tags um 15.00 Uhr gab es eine Jugend­vor­stel­lung, in der Micky­maus­fil­me oder ähn­li­ches lie­fen. Die Ein­tritts­ge­bühr betrug 30 Pfen­nig, und es ver­sam­mel­te sich schon lan­ge vor­her eine gro­ße Men­ge Kin­der vor dem Ein­gang. Der Kino­saal befand sich ent­lang der Bucht­stra­ße, und dort waren auch die zwei Aus­gän­ge und die Toi­let­ten­fens­ter. Die Kin­der, die das Geld für den Ein­tritt nicht besa­ßen, ver­such­ten, durch die­se Fens­ter in den Saal zu klet­tern, was ihnen auch oft gelang.

Über den Aus­gangs­tü­ren waren Laut­spre­cher ange­bracht, über die Musik aus dem Kino­saal über­tra­gen wur­de, bevor der Film begann. Unser Haus in der Bucht­stra­ße lag dem Kino­saal direkt gegen­über, und an war­men Som­mer­aben­den, wenn wir noch auf unse­rem Hof spie­len durf­ten, tanz­ten wir zur Musik. Die­se Aben­de sind mir noch in guter Erinnerung.

Hirsch­apo­the­ke

An der Süd­west­ecke der Georgstraße/Grabenstraße (heu­te Ram­sau­er Stra­ße) befand sich die Hirsch­apo­the­ke von Herrn Ger­lach. Hier kauf­ten mei­ne Eltern und mein Groß­va­ter, der mit Herrn Ger­lach befreun­det war, Medi­ka­men­te und Ver­bands­stof­fe ein. Ich erin­ne­re mich beson­ders an ein Medi­ka­ment “Pan­fla­vin”. Das waren Tablet­ten, die ich bei Hals­schmer­zen schlu­cken muss­te, was mir nicht schwer fiel, weil sie nach Scho­ko­la­de schmeckten.

1944-2015 Hirschapotheke

In einem gewis­sen Alter beschäf­tig­te ich mich mit che­mi­schen Expe­ri­men­ten und benö­tig­te hier­für Che­mi­ka­li­en, die nor­ma­ler­wei­se nicht an Kin­der ver­kauft wer­den durf­ten. Kali­um Chlo­r­at — wofür brauchst du das? — zum Gur­geln. Oder Salmiak/Ammoniak – für unse­re Klin­gel­ele­men­te usw.

Ein­mal kam auch die Zeit der Ent­wick­lungs­pe­ri­ode, wo man rau­chen woll­te. Bei uns zu Hau­se wur­de nicht geraucht, also war dort nichts zu besor­gen. Eine Zeit lang ver­such­ten wir es im Freun­des­kreis mit Kamil­len­tee in der Ton­pfei­fe, die oft den “Wun­der­tü­ten”, die man für 10 Pfen­nig kau­fen konn­te, bei­gefügt waren. Mei­ne Freun­de sti­chel­ten: “Dein Opa kennt doch den Apo­the­ker gut, ver­such doch mal, Asth­ma­zi­ga­ret­ten zu kau­fen!” Ich lies mich über­re­den und ging in die Apo­the­ke und ver­lang­te die­se. Herrn Ger­lach war das wohl nicht ganz geheu­er und er frag­te mich, wofür ich sie haben woll­te. Ich ant­wor­te­te in mei­ner Nai­vi­tät: “Ach, ich bin so erkäl­tet.” Dar­auf­hin jag­te er mich aus dem Laden.

Hirschapotheke

Bei dem gro­ßen Angriff auf Bre­mer­ha­ven brann­te auch die Apo­the­ke aus, jedoch die Grund­mau­ern blie­ben erhal­ten. So steht sie auch heu­te noch fast unver­än­dert da. Beim Wie­der­auf­bau nach dem Krie­ge bekam mein Vater für sei­ne Tisch­le­rei den Auf­trag für die Anfer­ti­gung der Haus- und Laden­ein­gangs­tür. Ich war inzwi­schen Lehr­ling im väter­li­chen Betrieb und muss­te die­se Türen anfer­ti­gen. Es waren mei­ne ers­ten Außen­tü­ren, die ich anfer­tig­te, aus Eichen­holz mit Kreuz­spros­sen und Seg­ment­bö­gen und damit eine schwie­ri­ge Auf­ga­be. Sie haben lan­ge gehal­ten und wur­den irgend­wann durch Alu­mi­ni­um­tü­ren ersetzt.

Knob­lauch | Georg­stra­ße 43

Neben dem Kino Metro­pol lag das Haus von Uhr­ma­cher und Opti­ker Knob­lauch mit einer wun­der­schö­nen Fas­sa­de. Der Haus­ein­gang lag in der Mit­te des Hau­ses, links und rechts dane­ben die Schau­fens­ter. Die Knob­lauchs waren alte Leu­te und hat­ten sich schon zur Ruhe gesetzt. Sie bewohn­ten das 1. Ober­ge­schoss, das einen Erker besaß. Von hier­aus konn­te man die gesam­te Georg­stra­ße über­se­hen, zusätz­lich waren noch Spie­gel – so genann­te Spio­ne – ange­bracht und die bei­den Senio­ren saßen dort den gan­zen Tag und beob­ach­te­ten das Gesche­hen auf der Stra­ße. Soweit ich weiß, sind bei­de beim Bom­ben­an­griff im Sep­tem­ber 1944 ums Leben gekommen.

Geestemünde, Georgstraße 43, im Jahre 1904

Das Geschäft im Erd­ge­schoss wur­de von dem Schwie­ger­sohn, Herrn Franz Kelch gelei­tet. Es gab auch eine Toch­ter mei­nes Alters, Oda Kelch, mit der ich oft gespielt habe. Die Fami­lie Kelch besaß schon früh in den drei­ßi­ger Jah­ren ein Radio­ge­rät, das mit­tels eines ange­schlos­se­nen Auto­ak­kus betrie­ben wur­de. Dar­um habe ich sie sehr benei­det, denn bei uns zu Hau­se gab es zu der Zeit nur ein Grammophon.

Im Erd­ge­schoss war noch ein klei­ner Laden abge­teilt, wo ein Herr Hüb­ner einen Fri­seur­sa­lon betrieb. Dort­hin muss­te ich zum Haar­schnei­den gehen. Neben mir saßen in den Stüh­len, die mit einem Pedal hoch- und nie­der­ge­fah­ren wur­den, älte­re Her­ren, die ein­ge­seift und dann mit einem lan­gen Mes­ser rasiert wur­den. An den Wän­den hin­gen Wer­be­pla­ka­te für Dr. Dral­les Bir­ken­was­ser und Fromm’s. Es war mir immer sehr unan­ge­nehm, wenn mir der Nacken aus­ge­schnit­ten wur­de, denn ich war sehr kitzelig.

Auf dem Hof des Hau­ses stand das Gebäu­de der “Weser­dru­cke­rei Lüdecke & Gras­see”, bei der mein Vater sei­ne Geschäfts­pa­pie­re dru­cken lies.

Scho­cken | Merkur

Das Haus von Schocken/Merkur grenz­te in der Neu­markt­stra­ße direkt an das Wohn­haus mei­ner Eltern in der Bucht­stra­ße 8 – 10 und war mir von Kind an wohl­be­kannt. Ich schau­te oft aus unse­rem Wohn­zim­mer­fens­ter in der Neu­markt­stra­ße und beob­ach­te­te die Pfer­de­fuhr­wer­ke, die dort ihre Ware anlie­fer­ten. Beson­ders gefie­len mir die Wagen vom Gemü­se­groß­händ­ler Veh­mei­er — wegen der Pfer­de. Die Platt­wa­gen waren immer zwei­spän­nig und wur­den paar­wei­se jeweils von 2 Apfel­schim­meln oder Rap­pen gezo­gen. Als ich grös­ser war, ging ich schon mal hin­un­ter und gab ihnen ein Stück Zucker und strei­chel­te sie.

Mei­ne Eltern kauf­ten als selbst­stän­di­ge Geschäfts­leu­te im Ein­zel­han­del und nicht in Waren­häu­sern ein. Die Ein­zel­händ­ler waren ja auch Kun­den mei­ner Eltern und erwar­te­ten von ihnen das­sel­be. So erga­ben sich Kurio­si­tä­ten: Fleisch wur­de beim Schlach­ter Mül­ler in der Bucht­stra­ße, Leber­wurst beim Schlach­ter Selt­mann in der Johan­nes­stra­ße, gekoch­ter Schin­ken beim Schlach­ter Tost­mann in der Fried­rich­stra­ße und Rot­wurst beim Schlach­ter Gärt­ner in der Georg­stra­ße gekauft. Das Glei­che galt für den Brot­e­in­kauf: Voll­korn­brot beim Bäcker Gers in der Rosen­stra­ße, Bröt­chen lie­fer­te der Bäcker Schr­a­der aus der Pasch­stra­ße, und auch bei den Bäckern Bull­win­kel in der Schil­ler­stra­ße und Eden in der Nel­ken­stra­ße wur­de eingekauft.

1905 Bäckerei Mehl

In das Geschäft von Scho­cken kam ich nur mal in Beglei­tung mei­ner Spiel­ka­me­ra­den aus dem Pasch­vier­tel, wenn sie hier­her zu Ein­kau­fen geschickt wur­den. Es war für mich inter­es­sant, durch den Laden zu bum­meln und die gro­ße Aus­wahl an Waren zu betrach­ten. Spä­ter wäh­rend des Krie­ges ging ich öfter mal in die Schall­plat­ten­ab­tei­lung des Kauf­hau­ses, das nun unter dem Namen Mer­kur fir­mier­te und spä­ter dem Hor­ten­kon­zern ein­ver­leibt wur­de. Hier konn­te man Schall­plat­ten mit den neu­es­ten Sol­da­ten­lie­dern erwer­ben, wenn man eine alte Schel­lack­plat­te dafür abgab. Außer­dem konn­te man zeit­wei­se Bat­te­rien für die Taschen­lam­pen erwer­ben, die es sonst nir­gend­wo mehr gab.

Eine schreck­li­che Erin­ne­rung für mich ist das Gesche­hen in der so genannten“Kristallnacht” am 9. Novem­ber 1938. Mein Schlaf­zim­mer lag zur Neu­markt­stra­ße hin, und ich wur­de durch das Schep­pern von Glas geweckt. Ich mach­te das Licht aus und schob das Ver­dun­ke­lungs­rol­lo ein Stück hoch, um hin­aus­zu­schau­en und sah im Schein der gegen­über­lie­gend Gas­la­ter­ne Gestal­ten auf der Stra­ße hin- und her­lau­fen, und es war ein gro­ßer Lärm dort unten. Als ich am nächs­ten Mor­gen zur Schu­le ging, kam ich auf mei­nem Wege in der Neu­markt­stra­ße an den Schau­fens­tern vor­bei und sah die zer­split­ter­ten Schei­ben und das Cha­os im Inne­ren des Geschäf­tes. Vor den Fens­tern stand ein Mann in SA-Uni­form als Wache gegen Plün­de­run­gen. Nach­mit­tags fuhr ein Last­wa­gen der NSV vor und die Lebens­mit­tel wur­den aus dem Laden getra­gen und auf­ge­la­den. Ich habe als Kind nicht begrif­fen, was in der Nacht vor­ge­gan­gen ist.

Radio Wapp­ler

Rechts neben dem Kauf­haus stand das Haus von Radio Wapp­ler. Hier kauf­te ich Klin­gel­draht und klei­ne Schal­ter für mei­ne elek­tri­schen Bas­te­lei­en, spä­ter mei­ne Schall­plat­ten. Mit dem Sohn der Fami­lie, Hans-Georg, habe ich des Öfte­ren gespielt. Das Haus wur­de auch total zer­stört, aber nach dem Krieg an glei­cher Stel­le wie­der aufgebaut.

1924 Musikhaus Birnbaum

Musik­haus Birnbaum

Im anschlie­ßen­den Haus wei­ter nach Süden befan­den sich zwei klei­ne Läden. Das Ehe­paar Birn­baum han­del­te mit Musik­in­stru­men­ten, und Herr Birn­baum kam ab und zu zum Kla­vier­stim­men in unser Haus. Wir kauf­ten bei ihm auch unser ers­tes Radio, und er ver­leg­te für den Anschluss die Anten­ne auf dem Dach, in dem er eine Kup­fer­lit­ze von Schorn­stein zu Schorn­stein spann­te. Nach dem Krie­ge betrieb Frau Birn­baum das Geschäft in der Hafen­stra­ße im Pavil­lon über der Aue.

Im rech­ten Teil des Hau­ses betrieb Frau Rook ein Spe­zi­al­ge­schäft für Scho­ko­la­de. Sie führ­te nur Mar­ken­wa­re, und ihre gefüll­ten Reli­ef­pra­li­nen sind mir in guter Erinnerung.

I.G. Schmidt

Die Lie­fer­wa­gen sind mir in beson­de­rer Erin­ne­rung. Es waren Last­wa­gen mit beson­de­ren Auf­bau­ten für den Trans­port von Bau­stahl, da sich die Bau­wei­se aus Beton durch­ge­setzt hat­te. Die Wagen hat­ten eine auf­fäl­li­ge Lackie­rung in einer Art“Mimikri”, die an den Anstrich von Kriegs­schif­fen erin­ner­te, nur das es grel­le Far­ben waren. Die Wagen stan­den immer in der Neu­markt­stra­ße vor dem Lagerplatz.

Franz­ke

An der West­sei­te zwi­schen der Max-Died­rich-Stra­ße und der Eins­war­der Stra­ße befand sich das Fahr­rad­haus Franz­ke. Im Gegen­satz zu dem “Bast­ler” im Nor­den der Georg­stra­ße führ­te Herr Sarah nur Mar­ken­rä­der in sei­nem Sor­ti­ment. Mit 8 Jah­ren bekam ich mein ers­tes Fahr­rad zum Geburts­tag. Es war ein Kna­ben­fahr­rad — eine Zwi­schen­grö­ße vom Kin­der­fahr­rad zum Her­ren­fahr­rad — und hat­te die Mar­ke “Rufran”.

Rad­fah­ren lern­te ich im Fische­rei­ha­fen in der Hal­le X. Mein Vater hat­te sich die­sen Platz aus­ge­sucht, da dort Sonn­tag­mor­gens kein Betrieb war und da der Beton­bo­den sehr eben war. Mein Vater schob mich an, und ich dreh­te mei­ne Run­den. Das Auf- und Abstei­gen war mein größ­tes Pro­blem, aber bald konn­te ich auch dieses.

Nun besaß die gan­ze Fami­lie Fahr­rä­der, und unse­re Sonn­tags­aus­flü­ge gin­gen über die Schiff­dor­fer Chaus­see nach Hoser­müh­len. Der Sonn­tags­ku­chen wur­de in einem so genann­ten “Stadt­kof­fer” auf dem Gepäck­hal­ter ver­staut. In Hoser­müh­len hat­te Herr von Hol­len einen “Som­mer­gar­ten”, und er ser­vier­te in wei­ßer Jacke den Kaf­fee und für mich eine “Oran­gea­de”. Nach dem Kaf­fee spann­ten mei­ne Eltern die mit­ge­brach­ten Hän­ge­mat­ten im Som­mer­gar­ten zwi­schen den Bäu­men auf und ruh­ten dort. Mei­ne Schwes­ter und ich spiel­ten im Gar­ten und an einem klei­nen Bach in der Nähe.

Dro­ge­rie Petrasch 

An der süd­öst­li­chen Ecke der Georg- und Max-Diet­rich-Stra­ße befand sich die Dro­ge­rie Petrasch, die auch Säme­rei­en führ­te. Mein Groß­va­ter besaß einen Schre­ber­gar­ten in der Hart­wig­stra­ße und kauf­te sei­ne Säme­rei­en bei Petrasch. Da er ein guter Kun­de war, bekam er am Anfang des Krie­ges noch ab und zu einen Roll­film für mei­ne Kod­ak-Box. Fil­me waren zu der Zeit schwer zu bekom­men, weil sie kriegs­wich­ti­ges Mate­ri­al darstellten.

Georg Ecke (damals Bahnhofstr.) jetzt Max-Dietrich

Kugel-Bake

Im Nach­bar­haus von Petrasch befand sich im links gele­ge­nen Laden die Fir­ma Kugel-Bake. Herr Bake han­del­te mit Berufs­be­klei­dung, vor­wie­gend für die Werf­ten und den Fische­rei­ha­fen. Als Blitz­licht taucht bei mir die Erin­ne­rung auf, dass Herr Bake mit sei­nem roten Bart oft vor der Laden­tür stand — den Ver­kehr beob­ach­tend oder im Gespräch mit Pas­san­ten. Sein Ange­stell­ter war ein Herr Becker, den ich als klei­nen schüch­ter­nen Mann in Erin­ne­rung habe. Er war nach dem Krie­ge als Kir­chen­die­ner an der Chris­tus­kir­che tätig.

Uhren-Stu­te

Im rech­ten Laden des vor­ge­nann­ten Hau­ses hat­te Robert Stu­te ein Uhren­fach­ge­schäft mit Werk­statt zum Hof hin. Sei­nen Sohn Wal­ter lern­te ich in der Schu­le ken­nen, und wir waren lan­ge Zeit eng befreun­det. Ich kam dadurch oft in das Haus und in den Laden. Wenn die Laden­tür geöff­net wur­de, erklang ein vier­tei­li­ger Gong. Wir mach­ten den Klang nach und san­gen dazu: “Schön — gu — ten – Tag/Auf – wie – der – sehn.”

Georgstrasse suedoestliche EckeMax-Dietrich

Hin­ten in der Werk­statt saß ein Herr Jakob mit der Lupe im Auge am Tisch und repa­rier­te die Uhren. Wal­ters Mut­ter war immer sehr nett zu mir, und sein Vater hat­te im Flur der im 1. Ober­ge­schoss lie­gen­den Woh­nung eine Reck­stan­ge aus Holz anbrin­gen las­sen, an der wir Auf­schwung, Knie­wel­le und Sitz­wel­le üben konn­ten. Lei­der ver­starb Wal­ters Vater kurz nach dem Bom­ben­an­griff am 18. Sep­tem­ber. Ursa­che war wohl die Auf­re­gung, denn die Fami­lie konn­te nur unter schwie­ri­gen Umstän­den das bren­nen­de Haus verlassen.

Sei­ne Mut­ter bau­te nach dem Krie­ge das Geschäft wie­der auf, erst in der Max-Diet­rich-Stra­ße, spä­ter an alter Stel­le in der Georg­stra­ße. Mein Vater bau­te in unse­rer Werk­statt die Laden­ein­rich­tun­gen für bei­de Läden, und ich war als Lehr­ling dar­an betei­ligt. — Lei­der ist auch Wal­ter im Jah­re 2013 verstorben.

Bau­ern­häu­ser

Ecke An der Mühle/Georgstraße stan­den zurück­lie­gend noch 2 alte Bau­ern­häu­ser. In einem wohn­te mein Klas­sen­ka­me­rad Gün­ter Sachs. Im ande­ren Haus mein Klas­sen­ka­me­rad Sep­pel Sel­grath. Es waren neben eini­gen Häu­sern am Bau­ern­wall und an der Tal­stra­ße die letz­ten Res­te vom alten Geest­en­dorf. Sie wur­den alle beim Bom­ben­an­griff am 18. Sep­tem­ber 1944 vernichtet.

Nie­der­sach­sen­hof

An der West­sei­te der Georg­stra­ße in Höhe der Stra­ße An der Müh­le befand sich im Erd­ge­schoß des Hau­ses eine Gast­stät­te mit dem Namen Nie­der­sach­sen­hof. Es war eine gut­bür­ger­li­che Gast­stät­te, in der auch mein Groß­va­ter ab und zu ver­kehr­te. Das Beson­de­re des Lokals war die Innen­ein­rich­tung. Ich weiß nicht, ob der Inha­ber ein­mal zur See gefah­ren oder ein Lieb­ha­ber von chi­ne­si­schem Inte­ri­eur war. Mein Groß­va­ter nahm mich ein­mal mit dort­hin und zeig­te mir die Rari­tä­ten. Der Raum stand vol­ler Pago­den, Bam­bus und an den Wän­den hin­gen chi­ne­si­sche Tusche­zeich­nun­gen. Dies war damals eine Rari­tät, denn es gab mei­nes Wis­sens nach sei­ner­zeit noch kei­ne Chi­na­re­stau­rants, wie sie heu­te üblich sind.

Fisch­brat­kü­che

Im glei­chen Hau­se oder gleich neben­an wur­de eine Fisch­brat­kü­che betrie­ben. Ich glau­be, daß es die ein­zi­ge in Geest­e­mün­de der­zeit war. Wenn bei uns zu Hau­se Fisch­tag war, bekam ich eine gro­ße Por­zel­lan­scha­le in die Hand gedrückt, die in Hand­tü­chern und alten Zei­tun­gen zum warm­hal­ten ein­ge­packt war. Ich hol­te immer gro­ße Por­tio­nen, da ich in einer Groß­fa­mi­lie auf­wuchs und die Haus­hal­tung zusam­men mit mei­nen Groß­el­tern erfolgte.

Plesseeck

Schmie­de

Ecke Georg- und Schmie­de­stra­ße war eine Huf­schmie­de, die sich dort bis zum Kriegs­en­de befand. In den drei­ßi­ger Jah­ren und auch wäh­rend des Krie­ges gab es kaum Autos, und der Last­ver­kehr erfolg­te mit Fuhr­wer­ken und Pfer­de­ge­span­nen. Die Pfer­de stan­den zum Beschla­gen auf dem Geh­weg der Stra­ße, und ich habe als Jun­ge oft dort gestan­den und zuge­schaut. Inter­es­sant war das Schmie­de­feu­er inner­halb der Schmie­de, das mit einem Bla­se­balg betrie­ben wur­de. Die Huf­ei­sen wur­den dort glü­hend erhitzt, auf dem Amboss mit dem Ham­mer bear­bei­tet und mit eine lan­gen Zan­ge nach drau­ßen gebracht. Einer der Schmie­de hielt ein Bein des Pfer­des in Hän­den und auf dem Knie und bear­bei­te­te den Huf mit einem schar­fen Mes­ser. Dann leg­te der ande­re mit der Zan­ge das glü­hen­de Eisen auf den Huf, wobei ein zischen­des Geräusch ent­stand und sich Qualm und Geruch nach ver­brann­tem Horn aus­brei­te­te. Nach der Abküh­lung wur­den die Huf­nä­gel ein­ge­schla­gen. Ein­mal bekam ich ein altes Huf­ei­sen und ein paar neue Huf­nä­gel geschenkt. Huf­ei­sen gal­ten damals als Glücks­brin­ger und wur­den zur Zier­de an die Wand gehängt.

Nach­satz

Es gäbe noch viel zu erzäh­len! Scha­de, dass Her­bert Ehlers nicht mehr unter uns weilt. Wir könn­ten beim Nach­den­ken bestimmt noch eine Fort­set­zung schreiben. 
Bre­mer­ha­ven, im Janu­ar 2014 | Erich Sturk

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Geestemünde in alten und neuen Ansichten — Teil 10

Geest­e­mün­de in alten und neu­en Ansich­ten — Teil 10

Im Volks­mund gibt es vie­le Gelän­de­be­zeich­nun­gen, die für den Ein­hei­mi­schen eine genaue Orts­an­ga­be dar­stel­len. Die­se oft­mals schon vie­le hun­dert Jah­re alten Bezeich­nun­gen gera­ten lang­sam in Ver­ges­sen­heit. Dar­um ist es wich­tig, die­se alten Flur­be­zeich­nun­gen für unse­re Nach­kom­men zu erhal­ten, sind sie in ihrer Bedeu­tung doch ein Stück Hei­mat und Geschichte.

In Geest­e­mün­de gibt es die Bezeich­nung “Pasch­vier­tel”. Das Wort “Pasch“ soll vom Nie­der­rhein stam­men und setz­te sich auch im nord­deut­schen Sprach­ge­brauch durch. Sei­nen Ursprung fin­det es jedoch in der latei­ni­schen Spra­che. Es stammt von “pascua” ab, was Wei­de oder Wei­de­land bedeu­tet. Wer heu­te durch die mit dich­ten Häu­ser­rei­hen bebau­te Pasch­stra­ße geht, kann sich viel­leicht nicht mehr vor­stel­len, dass die­ses Gebiet ein­mal Wei­de­land gewe­sen sein soll.

Paschviertel

Geest­en­dorf ent­stand wohl aus dem bereits 1139 erst­ma­lig erwähn­ten  Kirch­dorf Ges­ten­thor­pe. Das mit­tel­al­ter­li­che Geest­en­dorf gehör­te zum Amts- und Gerichts­be­zirk Viel­and und befand sich auf dem Geest­rü­cken rund um die Mari­en­kir­che. 1813 leb­ten in Geest­en­dorf 491 Men­schen, noch 1823 sol­len es nur 576 gewe­sen sein. Doch mit der Grün­dung der Stadt Bre­mer­ha­ven und den Häfen kamen immer mehr Men­schen in das ver­schla­fe­ne Geest­en­dorf. Bereits 1858 leb­ten hier 2.296 Ein­woh­ner. Vor allem Arbei­ter und Hand­wer­ker sie­del­ten sich hier an, da in Bre­mer­ha­ven und dem 1845 eben­falls neu ent­stan­den Geest­e­mün­de die Zuzugs­be­din­gun­gen sehr restrik­tiv waren.

Paschviertel

Das Are­al des heu­ti­gen Neu­mark­tes befand sich im Eigen­tum des Amts­ho­fes, dem spä­te­ren Amt Viel­and. Der Amts­hof lag schräg gegen­über der Mari­en­kir­che und war mit ver­schie­de­nen Wohn- und Wirt­schafts­ge­bäu­den bebaut. Auch gehör­ten ein gro­ßer Gar­ten und umfang­rei­che Län­de­rei­en dazu. Die­se erstreck­ten sich im Nor­den bis zur Bucht­stra­ße und wur­den im Osten durch die Bül­ken­stra­ße begrenzt.

1936 Bismarckstrasse

Nach der Grün­dung von Bre­mer­ha­ven und Geest­e­mün­de nahm Geest­en­dorf – wie bereits erwähnt – als Wohn­vor­ort für die bei­den klei­nen Hafen­or­te inner­halb weni­ger Jahr­zehn­te einen erheb­li­chen Auf­schwung. Als Fol­ge hat­te sich die Wohn­be­bau­ung in Geest­en­dorf erheb­lich Rich­tung Osten und Nor­den erwei­tert und Geest­en­dorf wuchs ent­lang der heu­ti­gen Georg­stra­ße all­mäh­lich auf Geest­e­mün­de zu.

1905_Bülkenstrasse

Zur glei­chen Zeit ent­stand für die vie­len Neu­bür­ger auf einem nörd­lich des Geest­en­dor­fer Geest­rü­ckens gele­ge­nen Wei­de­land ein neu­es Wohn­ge­biet, dass man spä­ter in Anleh­nung an die alte Flur­be­zeich­nung den Namen “Pasch­vier­tel” gab. Die­ses von  der Georg­stra­ße, der Bis­marck­stra­ße, der Schil­ler­stra­ße und der Bucht­stra­ße begrenz­te Wohn­ge­biet besteht aus eng bei­ein­an­der lie­gen­den Gas­sen, die in einem leich­ten Bogen ver­lau­fen und von der Bucht­stra­ße schräg ange­schnit­ten wer­den. Das Pasch­vier­tel ent­wi­ckel­te sich zu einem dicht­be­sie­del­ten Orts­teil, der vom alten Geest­en­dor­fer Dorf­kern räum­lich getrennt war.

Mit dem Eisen­bahn­bau und der Erwei­te­rung der Geest­e­mün­der Hafen­an­la­gen wur­de für das Pasch­vier­tel 1856 eine wei­te­re Aus­deh­nung unmög­lich gemacht. Als 1863 der Handelshafen,der Nord­ka­nal und der Quer­ka­nal fer­tig­ge­stellt waren, muss­te die Chaus­see um das neu ent­stan­de­ne Zoll-“Freigebiet” her­um­ge­führt wer­den. Die zwi­schen 1859 und 1862 gebau­te Leher Stra­ße (spä­ter Bis­marck­stra­ße)  und  die  Leher  Chaus­see (spä­ter  Rhein­stra­ße) bil­de­ten die Bebau­ungs­gren­ze für das neue Wohn­vier­tel. Und der 1877 ange­leg­te Holz­ha­fen mach­te klar, dass es für das Pasch­vier­tel kei­ne wei­te­re Aus­deh­nung in nörd­li­cher Rich­tung geben kann.

1912 Buchtstrasse Ecke Keilstrasse

Also wur­de gen Süden wei­ter­ge­baut — zunächst ent­lang der bereits vor­han­de­nen Pasch­stra­ße, Bül­ken­stra­ße und Kur­ze Stra­ße (heu­te Tul­pen­stra­ße) — bis man die Bucht­stra­ße erreich­te. Hier war dann auch wie­der Schluss, denn das  jen­seits der Bucht­stra­ße gele­ge­ne Amts­hof­ge­län­de bil­de­te eine wei­te­re Gren­ze und so wur­de aus dem “Pasch”, ein­ge­zwängt zwi­schen Bucht­stra­ße und Bis­marck­stra­ße,  ein eng begrenz­tes und dicht­be­sie­del­tes Vier­tel mit klei­nen Arbei­ter- und  Hand­wer­ker­häu­sern  vom Typ “Leher Haus“.

Nelkenstraße

Zwi­schen Pasch­stra­ße, Bül­ken­stra­ße und Kur­ze Stra­ße wer­den wei­te­re Stra­ßen gebaut; Anfang der 1860er Jah­re ent­steht die Rosen­stra­ße und Mit­te der 1860er Jah­re die Nel­ken­stra­ße, in der heu­te noch ein paar Gebäu­de des Typ “Leher Haus” erhal­ten sind.

Die Grund­stü­cke waren sehr klein, sie reich­ten nur etwa zehn Meter in die Tie­fe. Dar­aus erga­ben sich Grund­stücks­grö­ßen von maxi­mal 100 Qua­drat­me­ter, oft­mals waren sie sogar noch klei­ner. So waren auch die Wohn­räu­me, jeden­falls gemes­sen an den heu­ti­gen Wohn­ver­hält­nis­sen, recht klein. Häu­fig muss­ten die Gewer­be­trei­ben­den auch ihre Werk­statt in den Woh­nungs­grund­riss ein­pla­nen, da die klei­nen Grund­stü­cke kein zusätz­li­ches Werk­statt­ge­bäu­de zuließen.

Kleingärten

Zwi­schen den Gebäu­den gab es schma­le Gän­ge, die zu den sehr klei­nen Hof­räu­men führ­ten. Die Anla­ge von Haus­gär­ten war in den klei­nen Hin­ter­hö­fen aller­dings nicht mög­lich. Zur Auf­bes­se­rung ihrer gerin­gen Ein­künf­te waren die Bewoh­ner dar­auf ange­wie­sen, in außer­halb gele­ge­nen Klein­gär­ten etwas Gar­ten­bau und auch Klein­vieh­hal­tung zu betrei­ben. Die­se Gär­ten wur­den am Ran­de des Pasch­vier­tels öst­lich der Schil­ler­stra­ße und Rhein­stra­ße ange­legt und zogen sich bis zum Gebiet des heu­ti­gen Haupt­bahn­ho­fes hin. Die Gär­ten ver­schwan­den erst in den 1950er Jahren.

Malergeschäft B. Hayen in der Friedrichstraße Ecke Tulpenstraße

Nur dort, wo irgend­wann ein­mal zwei Grund­stü­cke zusam­men­ge­legt wur­den, konn­ten die Hand­wer­ker und ande­re Gewer­be­trei­ben­de ihre Werk­statt außer­halb des Wohn­rau­mes unter­brin­gen. Nörd­lich der Fried­rich­stra­ße wur­den die Grund­stü­cke im Bebau­ungs­plan vom Anfang der 1850er Jah­re groß­zü­gi­ger ver­mes­sen. Hier konn­te man des­halb auch präch­ti­ge­re Gebäu­de mit grö­ße­rem Wohn­raum erstellen.

Heute gibt es hier auch das Malergeschäft von B. Hayen längst nicht mehr.

So befand sich etwa das Maler­ge­schäft B. Hay­en seit 1888 in dem klei­nen im Grün­der­haus­stil erbau­ten Wohn- und Geschäfts­haus an der Ecke Fried­rich­stra­ße und Tul­pen­stra­ße. Ein ande­res Gebäu­de, dass hier drei­ßig Jah­re lang stand, wur­de abgerissen.

Auch die heu­te noch bestehen­de Bäcke­rei Engel­brecht ent­stand hier zum Anfang des letz­ten Jahr­hun­dert an der Ecke Fried­rich­stra­ße zur Schil­ler­stra­ße in einer bereits vor­han­de­nen Bäckerei.

Bäckerei Engelbrecht in der Schillerstraße Ecke Friedrichstraße

Neben dem Maler­ge­schäft B. Hay­en ent­stan­den im Pasch­vier­tel vie­le ande­re Betrie­be. Max Sieg­hold, spä­te­rer Besit­zer der bekann­ten Sieg­hold-Werft, pach­te­te 1925 in der Nel­ken­stra­ße 2 von Fried­rich Nagel eine Schmie­de und begann sei­nen Betrieb mit einem Lehrling.

Möbelfabrik Schlüter

Pols­ter­meis­ter Lou­is Schlü­ter begann in der Nel­ken­stra­ße in einer klei­nen Werk­statt, bevor er um die Wen­de zum 20. Jahr­hun­dert sei­ne Möbel­fa­brik aufbaute.

Möbelfabrik Schlüter

Für die Tisch­ler­ar­bei­ten stell­te Lou­is Schlü­ter den im Jah­re 1898 gebo­re­nen Tisch­ler­meis­ter Karl Jüch­tern ein. Auch meh­re­re Gesel­len waren in der Möbel­fa­brik beschäftigt.

Möbelfabrik Schlüter

Der Betrieb bestand noch bis weit in die 1970er Jah­re hinein.

Karl Jüch­terns Vater hieß Hein­rich Jüch­tern, der hat­te ein klei­nes Transportunternehmen.

Transportunternehmen Heinrich Jüchtern

Mit sei­nem Pfer­de­fuhr­werk trans­por­tier­te er unter ande­rem das Gepäck der Rei­sen­den von und zum Bre­mer­ha­ve­ner Bahnhof.

1910 | Bierverlag Lehnert

Schräg gegen­über von Engel­brecht befand sich der Bier­ver­lag von Hein­rich Leh­nert, der eigent­lich eine Fleischwaren‑,  Margarine‑,  Bier- und Spi­ri­tuo­sen­groß­hand­lung war. Zwar gibt es das Leh­nert­sche Anwe­sen eben­falls nicht mehr, aber das

2014 | wieder aufgebaute Eckhaus an der Schillerstraße Ecke Raabestraße

Eck­haus wur­de zusam­men mit wei­te­ren Gebäu­den für einen Super­markt der­art wie­der auf­ge­baut, dass optisch eine his­to­ri­sche Ver­bin­dung zum alten Leh­nert­schen Gebäu­de­kom­plex her­ge­stellt wurde.

15. Mai 2014 Paschstrasse Blick Richtung Kreuzstrasse

Über das All­tags­le­ben im Pasch­vier­tel gibt kaum Auf­zeich­nun­gen. Es scheint aber ein Vier­tel gewe­sen zu sein, in dem die wohn­bau­li­chen und auch die hygie­ni­schen Ver­hält­nis­se anspruchs­los waren. Auch die Kana­li­sa­ti­on soll so unzu­rei­chend gewe­sen sein, dass die tie­fer gele­ge­nen Grund­stü­cke bei star­ken Regen­fäl­len unter Was­ser standen.

Paschschule

Dadurch, dass das Amts­hof­ge­län­de für die Geest­en­dor­fer Neu­bau­be­bau­ung eine Gren­ze dar­stell­te, blieb der Cha­rak­ter des Geest­en­dor­fer Orts­kern mit sei­nen alten Bau­ern­häu­sern bis weit ins letz­te Vier­tel des 19. Jahr­hun­derts erhal­ten. Das Pasch­vier­tel bekam sogar eine eige­ne Schu­le. 1863 wur­de in der Schil­ler­stra­ße 14 die Pasch­schu­le gebaut.

25. Mai 2014 | An der Schillerstraße/Ecke Raabestraße wurde im Frühjahr 1863 die neue vierklassige Paschschule bezogen.

1902 bezog die Katho­li­sche Volks­schu­le das Gebäu­de und blieb hier 37 Jah­re – bis zum Ver­bot im Jah­re 1939. Neben 13 wei­te­ren Schu­len wur­de durch den Luft­an­griff im Sep­tem­ber 1944 auch die Pasch­schu­le zerstört.

Kirche

Bei die­sem Angriff wur­de auch die 1911 ein­ge­weih­te Hei­li­ge Herz-Jesu-Kir­che durch Brand­bom­ben erheb­lich beschädigt.

Die alt­ein­ge­ses­se­nen Bewoh­ner Geest­en­dorfs blie­ben also “unter sich”, wäh­ren im Pasch­vier­tel die in Bre­mer­ha­ven und Geest­e­mün­de beschäf­tig­ten Arbei­ter ihre neue Hei­mat fan­den. Aber auch klei­ne­re Hand­werks­be­trie­be wie Bäcke­rei­en, Schlach­te­rei­en, Schus­te­rei­en und Milch­ge­schäf­te oder Koh­len­hand­lun­gen fan­den hier ihr Auskommen.

Bülkenstraße

Das blieb so, bis das Wohn­ge­biet durch den Luft­an­griff am 18. Sep­tem­ber 1944 fast völ­lig zer­stört wur­de und die an Stel­le der einst­mals klei­nen Wohn­häu­ser gebau­ten gro­ßen Wohn­blö­cke dem Vier­tel einen voll­kom­me­nen ande­ren Cha­rak­ter gaben.
Quel­len:
Dr. Hart­mut Bickel­mann, Nie­der­deut­sches Hei­mat­blatt Nr. 757 aus Janu­ar 2013
Daten zur Geschich­te der Katho­li­schen Schu­le…
His­to­ri­sche Bül­ken­stra­ße in neu­em Gewand (pdf-Datei)
Hart­mut Bickel­mann: Von Geest­en­dorf nach Geestemünde,
de.wikipedia.org