Ein Mädchen (eine Frau) aus Bremerhaven-Lehe
Ein Mädchen (eine Frau) aus Bremerhaven-Lehe
Ruth Sander wurde 1933 in Bremerhaven-Lehe in der Muschelstraße 16 geboren. Sie war das als älteste von 8 Kindern.
Die Muschelstraße ist eine Reihenhaussiedlung an der Rickmersstraße. Es war zu damaliger Zeit eine gute Wohngegend. Doch die Kinder aus der parallel verlaufenden Seestraße, die ebenfalls von Reihenhäusern geprägt ist, meinten, sie seien etwas Besseres. So duldeten sie es nicht, wenn jemand aus der Muschelstraße eine Abkürzung durch “ihre” Seestraße nehmen wollte.
Die Kindheit war bis zum Beginn des 2. Weltkriegs weitgehend unbeschwert. Dann musste der Vater mit der Marine zur See. Lebensmittel wurden immer knapper.
1943 trat ein neuer Mann in das Leben von Ruths Mutter. Als der Vater von der Front zurückkehrte, musste Ruth ihren eigenen Vater wegschicken.
Den neuen “Vater” konnte sie nie akzeptieren. Hinzu kamen Luftangriffe auf Bremerhaven, bei denen auch die Muschelstraße nicht verschont blieb. Ruth erzählt von einem Einschlag, der in dem 3‑stöckigen Haus das Wohnzimmer im EG zerstörte. Die Familie, die im Keller ausharrte, blieb unversehrt.
Durch die Zwangsmitgliedschaft beim BDM musste Ruth bei Aufmärschen an der Rickmerstraße mit ausgestrecktem rechten Arm eine gefühlte Ewigkeit stramm stehen. Wenn sie auch nur versuchte, den rechten Arm abzustützen, wurde sie heftig beschimpft, manchmal sogar geschlagen. Auch in der Schule war körperliche Züchtigung und ein diktatorischer Ton an der Tagesordnung.
Die Großeltern hat sie als nicht besonders kinderlieb in Erinnerung. Vom Lebensgefährten der Großmutter wurden sie und ihre Geschwister mit den Worten „was wollt ihr denn schon wieder“ begrüßt.
Im Jahre 1943 wurde Ruth von ihrer Familie getrennt. Sie wurde im Rahmen der Überlandverschickung nach Brockel verschickt. Ihre Geschwister waren noch zu klein und mußten zuhause bleiben. Ruth fühlte sich von ihrer Familie abgeschoben und litt sehr darunter – eigentlich zeitlebens.
Am Bahnhof von Brockel warteten bereits die Bauern aus dem Kreis Rotenburg, die sich ein oder mehrere Mädchen aussuchten konnten. Ruth kam zur Familie Mertens, denen eine Obstverwertungsfabrik und andere landwirtschaftliche Güter gehörten. Ruth erinnert sich an einen großen Hühnerstall mit ausschließlich weißen Hühnern, aber auch Enten und Gänsen. Aber auch an die Ernte der Bickbeeren und an einen riesigen Walnussbaum. Mit den beiden Schäferhunden musste sie oft spazieren gehen.
Von Brockel musste sie oft, zusammen mit den anderen Kindern, nach Rotenburg laufen, wo sie vor Soldaten sangen. Viele der Soldaten weinten bei dem Gesang und Anblick der Kinder. Sie vermutet, dass die Männer ihre eigenen Kinder vermissten und deshalb ihre Emotionen und Tränen nicht unterdrücken konnten. Familie Mertens und ihre beiden Kinder hat sie in guter Erinnerung.
Nach Kriegsende wurden die meisten lebenswichtigen Dinge durch Tauschgeschäfte beschafft. Die beste Tauschwährung waren Zigaretten und Kaffee, die Ruth manchmal mit etwas Glück bei den Amerikanern ergattern konnte. Sie musste auch öfters mit dem Zug nach Essen fahren, der Heimatstadt ihres Stiefvaters, um Salzheringe gegen Kartoffeln und Kohle zu tauschen.
1948 begann Ruth eine Ausbildung als Fleischereifachverkäuferin bei Fleischermeister Hanewinkel in der Goethestraße.
Alles andere als ihr Traumberuf, denn sie war sehr schüchtern und wäre viel lieber Schneiderin geworden.
Aber zu dieser Zeit musste man über eine solchen Arbeitsplatz froh sein, denn Ausbildungsplätze waren rar.
Die Erinnerungen an die Familie Hanewinkel sind nicht sehr positiv, deshalb bewarb sie sich nach der bestandenen Lehre auf eine Stellenanzeige in einer Metzgerei im hessischen Bad Homburg. 1951 oder 1952 packte Ruth ihre Koffer und ging nach Bad Homburg.
In Bad Homburg lernte sie ihren Mann kennen, der als Geselle in einer anderen Metzgerei arbeitete und dessen Vater ein eigenes Geschäft im hessischen Kraftsolms hatte (einem Dorf mit nur 600 Einwohnern). Als Ruth schwanger wurde und entschied, mit ihm nach Kraftsolms zu gehen, wurde sie ausgelacht, weil sich niemand ein Stadtmädchen wie Ruth in einem “Bauerndorf” vorstellen konnte.
Ruth und ihr Mann Siegfried bauten das Geschäft in Kraftsolms erfolgreich aus, aber es war ein steiniger Weg, von der Dorfbevölkerung akzeptiert zu werden. Sie sprach anders, kleidete sich anders und malte sich auch noch die Lippen an, was man in diesem Dorf zu der Zeit gar nicht kannte. Kinder riefen “Aminutte” und mein Vater wurde abschätzig gefragt “was willst du denn mit so einer”.
Es sind Wunden, die nie verheilt sind. Ruth lebt heute in einem Pflegeheim, wo sie ihr Mann täglich besucht. Sie kann sich zwar nicht daran erinnern, was sie zu Mittag gegessen hat, dafür aber an jedes Detail aus ihrer Kindheit und Jugend.