Das Kraftverkehrsunternehmen Lunte & Sauer
Das Deutsche Reich hatte noch einen Kaiser, als am 1. Juli 1907 die Geschichte des Kraftverkehrsunternehmen Lunte & Sauer begann. An jenem Tag nahm der am 7. Juli 1867 geborene Johann Carl Nikolaus Lunte das Konfirmationsgeld seines zweiten Sohnes Heinrich in die Hand, kaufte davon ein Pferd und gründete sein Fuhrunternehmen.Wohn- und Firmensitz der Eheleute Johann und Anna Lunte war das Haus Nummer 31 in der Kistnerstraße. Die Kistnerstraße liegt auf der alten Leher Flur “Die Meide”. Das Wort kommt aus dem Ostfriesischen und bedeutet Grünland, Grasland oder Heuland.
Es waren arbeits- und entbehrungsreiche Jahre für das Ehepaar Lunte. Nicht nur das neu gegründete Fuhrunternehmen, dem das Kaiserliche Postamt die Leher Fernrufnummer 1479 zuteilte, verlangte den beiden viel Kraft ab. Es galt auch, sieben Kinder zu versorgen und eine kleine Nebenerwerbslandwirtschaft, bestehend aus einem Feld und ein paar Schweine und Kühe, zu betreiben.
In der Firmengeschichte spielt die Kistnerstraße aber keine große Rolle. Im Jahre 1912, also nur fünf Jahre nach der Firmengründung, kaufte Johann Lunte das Haus Nummer 18 a in der Auguststraße und verlegte seinen Wohnsitz und seinen Betrieb dorthin.
Dann kam der Erste Weltkrieg. Hunderttausende Pferde wurden requiriert und mussten ungeheure Rüstungsmengen zu den Fronten schleppen. Die meisten Pferde wurden den Bauern weggenommen, aber möglicherweise musste auch Johann Carl Nikolaus Lunte ein oder mehrere Pferde seines Fuhrunternehmens für den Kriegsdienst hergeben.
Für viele Adelige war es im Ersten Weltkrieg noch selbstverständlich, mit einem Pferd in die Schlacht zu ziehen. Als der Krieg dann im Jahre 1918 endlich vorüber war, kam ein deutscher Offizier mit seiner Stute von der Front zurück. Der Offizier bot sein Pferd zum Kauf an, und Johann Lunte erwarb das Tier für sein Fuhrunternehmen.
Arthur Wilhelm, das fünfte Kind von Johann und Anna Lunte, hat beim Lloyd Elektriker gelernt. Als sich der Firmengründer mit 62 Jahren zur Ruhe setzte, übernahm Arthur Wilhelm am 1. Juli 1929 — 22 Jahre nach der Firmengründung — das Ruder des Fuhrunternehmens. Aber auch ihre gut laufende Kohlenhandlung führten sie als Nebenbeschäftigung weiter.
Schon ein Jahr später – im Jahre 1930 – wurde das erste Auto angeschafft. Und irgendwann stand auch der erste Lastkraftwagen auf dem Hof. Ein Henschel mit Nierenkühlermaske. “Arthur Lunte – Eildienst” war auf der Beifahrertür zu lesen. Diese große Investition rief natürlich noch einmal den Firmengründer Johann Lunte auf den Plan. Klar, dass er es sich nicht nehmen ließ, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen.
Selbst fahren durfte er vermutlich nicht. Es ist nicht anzunehmen, dass Johann Lunte im Besitz einer Fahrerlaubnis war. Bereits am 3. Mai 1909 wurde nämlich die erste Reichs-Straßenverkehrsordnung eingeführt. Darin war festgelegt, dass zum Führen eines Kraftfahrzeuges mit einem Gesamtgewicht von über 2,5 Tonnen der Führerschein Klasse II erforderlich war. Und Rasen wurde auch verboten – innerorts durfte kein Fahrzeug schneller als 15 km/h unterwegs sein. Erst im Jahre 1923 wurde das Tempolimit auf 30 km/h erhöht. Die zuständige Verwaltungsbehörde konnte das Limit auf 40 km/h heraufsetzen.
Der Henschel musste wohl für eine lange Zeit seinen Dienst verrichtet haben. Eine Ersatzbeschaffung war während der Kriegsjahre ja unmöglich. Ab 1939 durften keine Lastkraftwagen von oder an privat gekauft oder verkauft werden.
Arthur und Erna Lunte hatten nur ein Kind – die Margot. Am 25. März 1943 legte Margot mit erst 17 Jahren erfolgreich die Prüfung für den Führerschein der Klasse II ab. Das war für eine Frau sehr unüblich, konnten sie doch bis zum Jahre 1958 nur mit Erlaubnis des Ehemannes oder Vaters einen Führerschein machen. Aber in den Kriegsjahren – die Männer sind an der Front — verrichten viele Frauen all die Arbeiten, die sonst die Männer verrichtet haben. Und das Fahren eines Lastwagens gehört nun mal dazu.
Allerdings sollten Lastwagen mit zwei Anhängern bald der Vergangenheit angehören. In den 1950er Jahren schränkte der damalige Verkehrsminister Hans-Christoph Seebohm Länge und Gewicht für Lastwagen drastisch ein.
Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden viele Lastkraftwagen mit einem Holzvergaser ausgeliefert. Das nationalsozialistische Deutschland wollte unabhängig von Erdöllieferungen aus dem Ausland sein. Und als der Treibstoff während des Krieges dauerhaft knapp wurde, blieb Benzin und Diesel nur noch den Wehrmachtsfahrzeugen vorbehalten. So musste auch der Fuhrunternehmer Lunte seine Fahrt immer wieder unterbrechen, um den Ofen hinter seinem Führerhaus mit frischem Holz zu befeuern.
Die Kessel für einen Holzgasgenerator konnten mit etwa 150 Kilo Holz befüllt werden. Das reichte bei einem Lastwagen für eine Strecke von ungefähr 150 Kilometer. War die Transportstrecke länger, musste unterwegs neuer Brennstoff organisiert werden.
Es war nicht immer einfach, einen Bauern zu finden, der Holz zu verkaufen hatte. Wenn das Holz dann aber erst einmal im Kessel brannte, hatten sich nach ungefähr fünf Minuten genügend Gase gebildet, um den Motor wieder anzutreiben. Dann konnte man seinem Ziel weiter entgegentuckern. Und an den Rändern der Landstraßen blieben kleine Aschehaufen zurück.
Margot Lunte heiratete am 24. Februar 1945 den Konditor Heinz-Wilhelm Sauer. Gut sieben Jahre später, am 1. Oktober 1952, wurde Heinz-Wilhelm Teilhaber in der Firma seines Schwiegervaters. Vor dem Firmentor steht jetzt ein Kaelble-Lastkraftwagen.
Warum der Firmenchef die Marke gewechselt hat, ist nicht bekannt. War es vielleicht dem Umstand geschuldet, daß die Firma Henschel aufgrund ihrer Kriegsgüterproduktion nach dem Krieg zunächst keine Fahrzeuge bauen durfte?
Wie dem auch sei, mit dem Kaelble scheint der Firmenchef eine gute Wahl getroffen zu haben. Das Fahrzeug hat mit einer Maschine 300.000 Kilometer abgespult.
Es waren harte Nachkriegsjahre für Johann Lunte und seinem Teilhaber und Schwiegersohn Heinz-Wilhelm Sauer. Die ersten Aufträge bekam das Fuhrunternehmen von der US-Armee. Die Güter für die amerikanischen Besatzungssoldaten in Deutschland kamen per Schiff nach Bremerhaven.
In den Lagerhallen am Roten Sand, dort wo heute das E‑Center steht, wurde alles zwischengelagert. Einige der Hallen stehen noch an der Rudloffstraße. Von dort wurde alles auf die US-Kasernen verteilt. Natürlich Unmengen Coca-Cola! Und aus Amerika eingeführtes Katzenstreu für die deutschen Katzen der GI’s. Und der damals noch unerreichbare Traum einer jeden deutschen Hausfrau – Waschmaschinen!
Geladen wurde von Hand. Eine Palette nach der anderen wurde verladen. Und so verschwanden auf den Ladeflächen der Lastwagen Konserven und Becks Bier, Waschpulver und das besagte Katzenstreu aus Amerika, Zigaretten und Coca-Cola. Und obenauf wurden die Waschmaschinen gehievt. Gut 2.200 Kartons passten auf die Lastwagen. Das waren 23,5 Tonnen Gewicht.
Wenn alles verladen war, ging die Tour zu den US-Kasernen los. Mit drei Lastwagen transportierte das Fuhrunternehmen Lunte & Sauer die Lebensmittel und Konsumgüter von Bremerhaven nach Kassel und Gießen, nach Friedberg, Karlsruhe, Ulm und Darmstadt. Und nach Oberammergau und Garmisch. Insgesamt mussten 56 Abladestellen angefahren und die Kartons einzeln entladen werden.
Für den im Jahre 1946 geborenen Sohn von Heinz-Wilhelm Sauer und seiner Ehefrau Margot, geborene Lunte, gehörten die amerikanischen Lastwagen ebenso zum Alltag, wie für Wilfried Lunte, ein Enkel des Firmengründers. Die großen Armee-Sattelschlepper standen immer am Leher Stadtpark. Dort hat Wilfried Lunte auch einmal versucht, Schokolade aus einem Führerhaus zu mopsen. Das ging aber schief, ein GI hat ihn erwischt und hochkantig aus den Lastwagen geschmissen.
Da hatte Jürgen Sauer später mehr Glück. Als 4‑Jähriger bekam er von einem im Hause Sauer einquartierten Militärpolizisten ein Stück Schokolade geschenkt. Klar dass der kleine Jürgen mit dem Soldaten gleich ewige Freundschaft schloss!
So hat Jürgen Lunte den Dieselgeruch sozusagen bereits mit der Muttermilch aufgesogen. Da war es nur natürlich, dass er seinen Vater Heinz-Wilhelm Sauer schon als Kind so oft wie möglich auf Fernfahrten begleitete. Und als Jugendlicher musste er kräftig mit anpacken. Eine unerwartete Begegnung in Friedberg sollte für den damals 13-jährigen Jürgen eine tolle Belohnung sein: Wie aus dem Nichts stand der uniformierte Elvis Presley plötzlich am Lastwagen.
Aber auch Zuhause gab es immer viel zu tun. Egal, ob ein Nummernschild neue Farbe brauchte oder ob ein defekter Motor ausgetauscht werden musste — viele Arbeiten wurden in der eigenen Werkstatt selbst erledigt.
Gewiss ahnte Jürgen Sauer in jenen Jahren noch nicht, dass er einmal in die Fußstapfen seiner Eltern treten würde. Zunächst deutete auch nichts darauf hin: Nach der Schule absolvierte er eine Lehre als Großhandelskaufmann. Und danach rief die Bundeswehr, und Jürgen Sauer leistete seine Wehrpflicht ab. Als Soldat erwarb er den Führerschein Klasse 2.
Irgendwann ab Anfang der 1970er Jahre saß Jürgen dann doch hinter dem Lenkrad eines Lkw. In jener Zeit führte ihn eine Tour ins Badische. Die Straße war spiegelglatt, und in der Nähe von Bretten ging es in Serpentinen abwärts. Mit jedem Bremsvorgang drohte der Lastwagen von der Straße zu rutschen. Also wurde möglichst wenig gebremst – oder gar nicht. Auch nicht, als im Tal die blinkenden roten Lichter eines Bahnüberganges auftauchten. “Augen zu und rüber über die Gleise”, war die Devise. Jürgen Sauer hat es auch gerade noch so geschafft. Kaum waren die Bahngleise überquert, da rauschte hinter dem Lastwagen der Zug vorbei. Der Schreck war so groß, dass die Fahrt am nächsten Gasthof unterbrochen wurde.
Wurden anfangs nur Lebensmittel transportiert, musste später auch der Hausrat der US-Soldaten, die alle paar Jahre zu einem anderen Standort wechselten, verladen werden. Der Hausrat wurde in Möbelkisten verpackt. Die hatten so große Ausmaße, dass die Plangestelle auf den 38-Tonner erhöht werden mussten. Damit erreichten die Fahrzeuge eine Höhe von vier Meter – und passten nun nicht mehr durch die Toreinfahrt.
Im Jahre 1976 machte sich der 78 Jahre alte Arthur Lunte an die Arbeit. Er riss die schöne alte Einfahrt ab, um die Hofeinfahrt zu vergrößern. Den größten Teil der Umbauarbeiten erledigte Arthur Lunte trotz seines Alters selbst.
Es ging nicht nur bergauf mit dem Fuhrunternehmen Lunte & Sauer. Natürlich gab es auch Rückschläge zu verkraften – wie wohl in vielen anderen Unternehmen auch.
Manchmal hatte der Betrieb ein gutes Jahr hinter sich gebracht, und alle blickten hoffnungsvoll in die Zukunft. Dann verunglückte ein Lastwagen und die ganze Freude war dahin. So riss der Unfall vom 15. Februar 1966 bei Kassel ein großes Loch in die Firmenkasse. Und gut zehn Jahre später gab es am 18. Februar 1977 auf der Sauerlandlinie einen Totalschaden an der Mercedes-Zugmaschine zu verkraften. Die letzte Rate war gerade mal vier Wochen vorher bezahlt worden.
Oftmals fuhr aber auch das Glück auf der Beifahrerseite mit. Wer jemals mit einem Kraftfahrzeug auf Englands Straßen unterwegs war, hat die Situation bestimmt selbst erlebt: Man passt höllisch gut auf, dass man immer auf der linken Straßenseite fährt. Dann geht es hinein in einen Kreisverkehr, von denen es in England reichlich viele gibt. Man fährt also linksherum in den Kreis hinein und landet bei herausfahren plötzlich auf der rechten Straßenseite. Oder es gibt die hartgesottenen Fahrer, die fahren – wie sie es auf dem Kontinent gewohnt sind – gleich rechts in den Kreisverkehr hinein. So einen unerfahrenen Fahrer gab es auch beim Fuhrunternehmen Lunte & Sauer. Es ist alles gut gegangen, das Glück saß ja auf der Beifahrerseite.
Am 1. Juli 1979 mag auch Arthur Lunte ein paar Glückstränen vergossen haben. An diesem Tag konnte er sein 50-jähriges Firmenjubiläum feiern. Gleichwohl wird ihm nicht so recht zum Feiern zumute gewesen sein, ist doch seine liebe Ehefrau Erna sieben Monate zuvor verstorben.
Erna Lunte fehlte überall im Betrieb. Im November 2013 trafen sich noch einmal ein Dutzend früherer Kollegen auf dem Betriebsgelände des ehemaligen Leher Traditionsunternehmens. Erinnerungen an das tolle Betriebsklima wurden wach, und Döntjes wurden ausgetauscht: Ja, der Seniorchef Arthur und seine Frau Erna waren schon die Seelen des Betriebes. Alles war sehr familiär, sehr kollegial. Jeder kannte jeden. Und wenn sonnabends die Laster im Hof standen und fertig geputzt und repariert waren, dann haben sich alle zusammengesetzt und es wurde gemeinsam gefrühstückt. Dabei wurden Probleme besprochen, und es wurde auch viel gelacht. Etwa über den Kollegen, der ein Pferdenarr war. Eigentlich sollte er Bananen nach Stuttgart bringen. Aber im Hessischen zog ein Pferdetransporter seine Aufmerksamkeit auf sich. Dem fuhr er bis zum Stall hinterher und bewunderte dort das Pferd – und in Stuttgart kamen die Bananen nicht pünktlich an!
Am 1. Oktober 1981 übernahm Jürgen Sauer, der schon als Kind seinen Vater Heinz Wilhelm Sauer auf Fernfahrten begleitete, von seinem Großvater Arthur Lunte den Betrieb. Ob es für dieses Datum einen besonderen Anlass gab, ist nicht überliefert. Wer nun nachzählt kommt zu dem Ergebnis, dass nach dem Firmengründer Johann Lunte, seinem Sohn und Nachfolger Arthur Lunte und Johanns Enkeltochter Margit Sauer (geborene Lunte) mit Jürgen Sauer nun die vierte Generation das Firmenruder übernahm.
Wenn es schwierig wurde im Betrieb, holte sich Jürgen von seinem Großvater gerne einen Rat. Aber nur für kurze Zeit sollte er auf den langjährigen Erfahrungsschatz seines Großvaters zurückgreifen können. Nur wenige Wochen nach der Betriebsübergabe stürzte Arthur Lunte am 27. November 1981 im Treppenhaus und brach sich einen Oberschenkel. Trotz einer Operation starb am 5. Dezember 1981 – nur drei Tage vor seinem 83. Geburtstag.Im Jahre 1982 konnte das 75-Jährige Firmenjubiläum gefeiert werden. Ob sich da schon abzeichnete, dass es zum 80. Geburtstag keine Feier mehr geben wird? Lunte & Sauer hat all die Jahre für die Amerikaner transportiert und gut an ihnen verdient. Gleichwohl wurde in den 1980er Jahren das Geschäft immer schwieriger. Mit den Dumpingpreisen der Konkurrenz aus Osteuropa konnten die drei Lastwagen der Spedition Lunte & Sauer nicht mithalten.
Viele Nächte beriet sich Jürgen Sauer mit seiner Frau Barbara – es gab keinen Ausweg. Im Jahre 1986 fiel die Entscheidung die Spedition zu schließen. Ein Jahr später wurden die Transportkonzessionen verkauft und der Traditionsbetrieb schloss für immer seine Tore. Jürgen Sauer verdiente seinen Lebensunterhalt fortan als Fahrer bei einem anderen Fuhrunternehmen.Geblieben ist aber das Betriebsgrundstück mit dem Haus Nummer 18a in der Auguststraße in Lehe. An der Fassade prangt noch immer das Schild:Quellen:
Festschrift: “75 Jahre Kraftverkehr Lunte & Sauer, 1907 — 1982″
W. Ehrecke: “In England falsch abgebogen”, Nordsee-Zeitung vom 4.11.2013
W. Ehrecke: “Cola, Becks und die Waschmaschinen”, Nordsee-Ztg. v. 23.1.2015
hansebubeforum.de