Die H. F. Kistner Baugesellschaft
Die H. F. Kistner Baugesellschaft wurde 1853 gegründet. Über einhundert Jahre war sie so eng mit der Seestadt verknüpft, dass sie wohl noch heute jeder Bremerhavener Bürger kennt. Doch wer war der Firmengründer? Und wer waren seine Nachfolger?
Als Heinrich Friedrich Kistner sich im Jahre 1842 von seinem Heimatort Huddestorf an der Mittelweser in das erst 15 Jahre zuvor gegründete Bremerhaven aufmachte, war er gerade mal 16 Jahre alt. Eigentlich wollte er sich in Bremerhaven nicht lange aufhalten. Wie viele andere Menschen in jenen Jahren, so hatte auch Heinrich Friedrich Kistner Auswanderungspläne.
Zunächst aber absolvierte der 20-Jährige eine Maurerlehre bei Maurermeister Jacob Eits. Er schloss seine Ausbildung erfolgreich ab, verlobte sich mit seiner Henriette und wollte nun schnell mit seinen bereits bezahlten Tickets nach Richmond in die USA. Aber die Umstände wollten es, dass der Paketsegler sich ohne die jungen Leute auf die Reise machte – die Aussteuer war nicht fertig geworden.
Heinrich Friedrich Kistner blieb in Bremerhaven und legte mit 27 Jahren seine Prüfung zum Maurermeister ab. Er erkannte, dass es hier in der aufstrebenden Hafenstadt für gute Bauhandwerker genug Arbeit gab. Als die Gemeinde Lehe ihm das Bürgerrecht verlieh, verfolgte Heinrich Friedrich seine Auswanderungspläne nicht weiter und gründete im Jahre 1853 in der Leher Poststraße seine Baufirma H. F. Kistner.
Zu seinen ersten Arbeiten gehörten Häuser, die der Werftbesitzer Clasen Rickmers für seine Arbeiter und Angestellten in Auftrag gab sowie das Privathaus an der Ecke Deich- und Keilstraße für den Kaufmann Daniel Claussen. Besonders große Aufmerksamkeit hat er mit seinen Arbeiten an der Bürgermeister-Smidt-Gedächtnis-Kirche auf sich gezogen. Man lobte ihn damals, dass er “auch die gefährlichsten Arbeiten an dem schlanken Turm mit seiner kunstvoll durchbrochenen Spitze in Ruhe und Besonnenheit ausgeführt” hat.
Bald hatte Maurermeister Kistner genügend Geld zum Bau eines eigenen Hauses angespart. Er erstellte es auf dem Süderfeld an der Poststraße und bezog es im Mai 1860 mit seiner Frau Henriette und seinem am 12.04.1855 geborenen ältesten Sohn Carl. Am 19.07.1860 wurde Johann, der zweite Sohn, geboren. Heinrich kam am 17.11.1863 als drittes Kind hinzu. Und im September 1865 machte schließlich Theodor das Quartett voll.
Im Jahre 1868 erwarb Maurermeister H. F. Kistner das an der Ecke Hafenstraße und der späteren Kistnerstraße stehende Haus mit dem Gelände der stillgelegten Ziegelei von Johann Krüger. Er baute hier weitere Häuser hin, aus denen bald eine neue Straße wurde, die im Mai 1890 aufgrund eines Magistratsbeschlusses den Namen “Kistnerstraße” erhielt.
Schließlich erwarb der Betrieb H. F. Kistner ein zwischen der Hafenstraße und dem Geestedeich belegenes Gelände. Hierauf baute der Maurermeister das Wohnhaus Hafenstraße 58, in das er im Herbst 1870 mit seiner Familie einzog und bis zu seinem Tode bewohnte. Das Haus entwickelte sich zum Mittelpunkt des Betriebes und war noch bis lange nach dem Zeiten Weltkrieg die Zentrale und das Hauptkontor der H. F. Kistner Baugesellschaft.
Konsequenterweise verlegte Maurermeister Kistner im Jahre 1870 auch seinen Firmensitz hierher in die südliche Hafenstraße, wo sich bereits andere Betriebe der Baubranche (zum Beispiel das Holzsägewerk W. Rogge und die Kalkbrennerei Wilms) mit ihren Lagerplätzen angesiedelt hatten. Der Standort war ideal — die Hafenstraße und die rückwärtige Geeste boten eine hervorragende Verkehrsanbindung.
In diesen Jahren hat die Firma Kistner das Bremerhavener Stadtbild entscheidend mitgeprägt. Viele Kistnerbauten erkennt man an den mit tiefroten Ziegeln verblendeten Häuserfassaden. Beispiele hierfür sind die Kaserne der Matrosen-Artillerie von 1886 – 1887 und die beiden Häuser an der Hafenstraße Ecke Kistnerstraße. Auch an dem Ausbau des Geschäfts- und Wohnviertels an der Kaiserstraße (heutige “alte Bürger”) hatte die H. F. Kistner Baugesellschaft einen erheblichen Anteil.
Auch die Lutherische Kreuzkirche, die Kochsche Töchterschule, das Marienbad und das Gymnysium an der Prager Straße (früher Grüne Straße) gehört zu den vielen anderen Bauten, an denen die Firma H. F. Kistner vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gearbeitet hat und die von der Leistungskraft der H. F. Baugesellschaft Zeugnis ablegten.
Auch die Kreuzkirche, das Hafenhaus, das spätere Stadthaus, verschiedene Wassertürme, die große Maschinenhalle des Norddeutschen Lloyd, die Leuchttürme “Meyers Legde” und “Evers Sand”, der Ausbau des Fischereihafens in den Jahren 1891 bis 1896 und die Erweiterung des Kaiserhafens mit der Kaiserschleuse in den Jahren 1892 bis 1897 bleiben auf immer mit dem Namen H. F. Kistner verbunden.
Später als andere Unternehmer, die in diesen Jahren schon in ihren stattlichen Villen an der Hafenstraße wohnten, errichtete Johann Kistner seine heute denkmalgeschützte Villa. Sie wurde erst im Jahre 1897 nah an H. F. Kistners Lagerplatz an der Geeste gebaut und erhielt die Anschrift “Hafenstraße 50” zugeteilt. Das prunkvolle Gebäude mit seiner reich verzierten Fassade ließ keinen Zweifel aufkommen: Dies ist das Domizil eines überaus erfolgreichen Geschäftsmannes.
Carl Kistner indessen war Eigentümer des an der Hafenstraße 60 Ecke Werftstraße belegenem repräsentativen Wohnhauses. Eine der Wohnungen war an den Werftdirektor Max Rindfleisch, von 1910 bis zu seinem Tode 1930 Leiter der Schichau Unterweser AG, vermietet. Nach dem Tode von Carl Kistner im Jahre 1918 ging das Gebäude zeitweise in den Besitz der Schichau Unterweser AG über. Weitere leitende Werftangestellte fanden in dem Haus eine Wohnung. Ende der 1960er Jahre wurde es abgerissen. Auf dem Grundstück entstand der neue Kistner-Baumarkt.
Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert brachte riesige Bauaufgaben mit sich. So war es nicht verwunderlich, dass man danach suchte, wie man Steine aus Kalkmörtel herstellen kann. Schon im Jahre 1854 presste der deutsche Arzt und Naturwissenschaftler Dr. Anton Bernhardi mit einer hölzernen Hebelpresse den ersten gehärteten Kalkmörtelstein. Aber die Steine waren nicht fest genug. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis der Baustoffchemiker Dr. Wilhelm Michaelis im Jahre 1880 den ersten brauchbaren Kalksandstein herstellen konnte. Nun wollte man die Kalksandsteine industriell in großen Mengen herstellen. 1894 wurde im schleswig-holsteinischen Neumünster eine aus England importierte Presse aufgestellt, die drei Arbeitsgänge — Füllen, Pressen und Ausstoßen – selbständig ausführte. Es war der Beginn der industriellen Produktion des Kalksandsteines, der sich nun in ganz Deutschland als neuer Baustoff etablierte. In den Jahren 1898 und 1899 nahmen weitere Werke in Deutschland – und damit weltweit – ihre Arbeit auf.
Auch H. F. Kistner erkannte die neuen Möglichkeiten, die der Kalksandstein bot. Nachdem er im Jahre 1895 seine Baufirma um eine Baustoffhandlung erweiterte, erwarb er im Jahre 1904 folgerichtig eine Lizenz, um selbst Kalksandsteine herstellen zu dürfen. Das sollte ihn unabhängig von fremden Lieferanten machen. Die Hartsteinpresse und den Dampfdruckbehälter bestellten die Firmeninhaber Carl und Heinrich Kistner bei der Maschinenfabrik Franz Komnick in der ostpreußischen Hansestadt Elbing.
Im gleichen Jahr verkaufte der Leher Magistrat an die Firma Kistner einen Teil des kommunalen Lade- und Löschplatzes. Dieser Platz wurde erst im Jahr zuvor zwischen der Geeste und der damals bereits ausgebauten Werftstraße angelegt. Er erstreckte sich von der Auemündung im Osten und wurde im Westen vom Grundstück der Firma Kistner begrenzt. Auf diesem Platz errichtete die Firma Kistner in den Jahren 1903 und 1904 ein Kalksandsteinwerk. Die Kapazitäten des Werkes waren groß genug, um über den eigenen Bedarf hinaus auch die Nachfrage der anderen in den Unterweserorten ansässigen Bauunternehmungen zu befriedigen.
Zu jenem Zeitpunkt war der Kalksandstein noch kein von den Bauordnungsämtern anerkanntes Baumaterial. Obwohl Kalksandsteine innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeit eine große Verbreitung gefunden haben, hatte man über die Eigenschaften nur wenige oder zum Teil sogar falsche Informationen. Mit dem Bauwesen befasste Unternehmen richteten an das Königliche Materialprüfungsamt den Wunsch, die Ergebnisse von Kalksandsteinprüfungen zu veröffentlichen und umfassende Auskünfte über die bautechnischen Eigenschaften der Kalksandsteine zu erteilen. So erschien im Jahre 1908 das Buch “Die Prüfung und die Eigenschaften der Kalksandsteine”.
Das Zentralblatt der Bauverwaltung berichtete in seiner Ausgabe Nr. 24 unter der Rubrik “Versammlung der Vereine im Baustoffgewerbe” unter anderem über die in der Zeit vom 1. bis 12. März 1909 stattgefundene Jahreshauptversammlung des Vereins der Kalksandsteinfabriken. Auf dieser Versammlung sei lebhaft über die Angriffe geklagt worden, die der Kalksandstein von den Ziegeleibesitzern erdulden musste. In mehreren Fällen habe der Verein zur gerichtlichen Klage schreiten müssen und hierbei obsiegende Urteile erzielt.
Aber H. F. Kistner ließ sich nicht beirren. Er erkannte als einer der ersten Bauunternehmer an der Unterweser das große Potential dieses noch relativ jungen Baustoffes. Sein Baugeschäft gehörte zu der Gründungsgeneration der Kalksandsteinindustrie in Deutschland. Im Jahre 1905 gab es in Deutschland bereits 209 Kalksandsteinwerke, die jährlich mehr als eine Milliarde Kalksandsteine produzierten.
Allerdings lohnte sich der Vertrieb der Steine nur in einem regional begrenzten Umfeld einer Fabrik, da die Kosten für weite Transporte zu hoch waren. So lagen die Fabriken über ganz Deutschland verstreut. In Lehe produzierte das Baugeschäft H. F. Kistner die Kalksandsteine. Jährlich verließen bis zu 20 Millionen Steine die Fabrik und wurden in die gesamte Unterweserregion ausgeliefert.
Den für die Herstellung der Kalksandsteine erforderlichen Sand brachten Flussschiffer herbei. In den Anfangsjahren wurde als Löschplatz einfach die Uferböschung benutzt. Später wurde unmittelbar neben der Fabrik eine Kaje gebaut. An der wurde der aus Sandstedt herbeigeschaffte Wesersand per Kran aus dem Schiff gelöscht. Etwa ab 1985 wurde sämtliches Material per Lkw angeliefert – seither ist der Schiffsanleger verwaist und auch an der Geeste die Zeit der Flussschiffer vorbei.
Bei der Produktion der Kalksandsteine zeigte sich die ganze Kreativität des Baugeschäftes H. F. Kistner. Nachdem der Nachbarbetrieb der Firma Rogge in Flammen aufging, siedelte die Firma Rogge nach Bremerhaven um. Wieder nutzte die Firma Kistner die Gunst der Stunde und übernahm einen großen Teil des Roggegeländes. Werbewirksam bebaute die Firma Kistner in den Jahren 1905 und 1906 die Grundstücke Hafenstraße 44 – 48 mit Häusern vollständig aus Kalksandstein und lastete damit gleichzeitig die Produktionskapazitäten des Unternehmens aus.
In der Folgezeit baute die Firma Kistner weitere Kalksandsteinhäuser. Oftmals wurden die Fassaden nicht mehr verputzt, sondern mit roten, gelben oder auch blau eingefärbten Steinen gemauert, etwa bei einem Seitenflügel des Leher Amtsgerichts und beim Neubau der Industrie- und Handelskammer Geestemünde. Immer bestrebt, den Kalksandstein an der Unterweser zu etablieren, errichtete die Firma H. F. Kistner weitere architektonisch repräsentative Bauten. In der Gildemeisterstraße entstanden moderne Villen aus Kalksandstein und in der Hinrich-Schmalfeld-Straße wurde für den Beamten- Bau- und Wohnungsverein zu Lehe eine große Wohnanlage mit diesem neuen Baumaterial gemauert.
Im Jahre 1908 errichtete die Firma H. F. Kistner das Wohn- und Geschäftshaus Hafenstraße 174 (heute: 57) ganz aus Kalksandstein. Am 12. August 1911 brach im Dachstuhl des Hauses ein Feuer aus, das die Feuerwehr aber schnell unter Kontrolle bekam und auf den Dachstuhl begrenzen konnte. Gleichwohl wusste die Firma Kistner den Brand werbewirksam zu vermarkten. Noch elf Jahre später — im Jahre 1922 — wurde in einer Werbeanzeige an das Feuer erinnert mit dem Hinweis, dass sämtliche aus Kalksandstein gemauerten Giebel und Schornsteine der Hitze und der Wasserbestrahlung standgehalten haben.
Im Jahre 1903 konnte die Firma Kistner ihr 50-jähriges Betriebsjubiläum feiern, und Heinrich Friedrich Kistner zog sich auf das Altenteil zurück. 1905 wurde die als offene Handelsgesellschaft eingetragene Firma in eine GmbH umgewandelt. Der Firmenname lautete nun für eine Weile “H. F. Kistner Baugeschäft G.m.b.H.” und wurde später in “H. F. Kistner Baugesellschaft” geändert. Als Heinrich Friedrich Kistner im Jahre 1907 im 81. Lebensjahr starb, übernahmen die Söhne Carl und Heinrich die Führung der GmbH.
Wie sein Vater hatte auch Carl eine Ausbildung zum Maurer absolviert und seine Kenntnisse auf der Nienburger Baugewerbeschule vertieft. Als Hospitant hat er sich auf der Technische Hochschule Hannover weiter qualifiziert. Von 1908 bis 1910 bekleidete Carl Kistner den Posten des Vorsitzenden des am 10.12.1900 in Berlin gegründeten Hauptverbandes der Kalksandsteinindustrie. Heinrich erlernte ebenfalls das Maurerhandwerk und ging nach Buxtehude, um auf der dortigen Baugewerkschule zu studieren. Sein Spezialgebiet wurde der Tiefbau.
Wenn auch das Kistner’sche Kalksandsteinwerk florierte, so blieb doch das Bauhandwerk der Hauptgeschäftszweig des Unternehmens. An der Unterweser war die Firma Kistner das erste Unternehmen, das sich mit mit dem Eisenbetonbau befasste. Zwischen 1914 und 1918 lieferte H. F. Kistner respektable Arbeiten ab: Neben der Neuanlage von Bahnkörpern, Bahnhöfen und Unterführungen in Lehe und Geestemünde konnte H. F. Kistner auch an seine Arbeiten am Krankenhaus Lehe, am Schlacht- und Viehhof, an die Betonarbeiten des Gaswerkes Bremerhaven und an die Neubauten des Leher Gerichtsgebäudes, des Postgebäudes und des Sparkassengebäudes verweisen.
Am 12. November 1918 starb Carl Kistner. Sein Bruder Heinrich führte das Unternehmen fortan alleine weiter. Die durch die Kriegsfinanzierung ausgelöste Große Inflation, die im Jahre 1923 in eine Hyperinflation mündete, sorgte für einen Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft und des Bankensystems. 1921 streikten in Bremerhaven, Geestemünde und Lehe 1.400 Arbeiter in 131 Betrieben acht Wochen lang für einen höheren Lohn. 1924 streikten in den Unterweserstädten die Bauarbeiter fast aller Betriebe sieben Wochen lang für mehr Lohn. Erst ab Einführung der Rentenmark im November 1923 wurden wieder geordnete Kalkulationen möglich, und das Bauunternehmen konnte zu einer geordneten Bautätigkeit übergehen.
In den folgenden Jahren baute Kistner für die Stadt Wohnbauten, die Polizeikaserne an der Kaiserstraße und Fundamente für die neuen Kranbahnen beim Schuppen G am Kaiserhafen. Für die nördlichen Kaiserhäfen wurden Schuppen und Kajen erstellt. Auch die Gründungs- und Eisenbetonarbeiten für das Hauptgebäude der AOK und den Bau des Wohnwasserturmes in Wulsdorf führte die Firma Kistner aus.
Im Jahre 1924 gaben sich die Städte Lehe und Geestemünde das “Jawort”. Sie führten nun den gemeinsam Namen Wesermünde. Im gleichen Jahr begannen auch die Bauarbeiten am Columbusbahnhof und der dazugehörigen Columbuskaje, an denen die Firma Kistner ebenfalls maßgeblich beteiligt war. Anschließend engagierte sich die Firma Kistner beim Bau der Anlage der großen Ölbunker der Deutsch-Amerikanischen Petroleumgesellschaft. Es folgte die Beteiligung am Bau der riesigen Nordschleuse, die für die turbinengetriebenen Schiffe des Norddeutschen Lloyd “Bremen” und “Europa” gebaut wurde. Die Grundsteinlegung erfolgte am 3. Mai 1929.
Als der Norddeutsche Lloyd seinen Technischen Betrieb vom Neuen Hafen zu den beiden Kaiserdocks verlegte, war die Firma Kistner wieder dabei. In den Jahren 1934 bis 1936 wurden eine Kupferschmiede, eine Schlosserei und Maschinenwerkstatt, Lagerschuppen und Proviantlager gebaut. Aber auch aus der Privatwirtschaft kamen zahlreiche Aufträge, darunter das Kaufhaus Ramelow und die Färberei- und Reinigungsanstalt Mäkler.
In dieser Phase der Prosperität hatte der Kistnersche Betrieb einen schweren Verlust zu verkraften: Am Abend des 19. Dezember 1937 starb Heinrich Kistner, der das Unternehmen seit dem Tode seines Bruders Carl alleine führte. “Heini-Meister”, wie ihn viele Bremerhavener nannten, hat in der von seinem Vater gegründeten Firma mehr als 50 Jahre seine Spuren hinterlassen. Heinrich Kistners Tod beendete die zweite Generation der H. F. Kistner Baugesellschaft.
Es wäre jetzt an dem am 13. Februar 1919 geborenen Sohn Heinrich Friedrich Kistner gewesen, das Ruder in der Firma zu übernehmen. Er hatte bereits seine Gesellenprüfung im Maurerhandwerk erfolgreich abgelegt und befand sich mitten im Studium zum Bauingenieur. Dann aber brach der Zweite Weltkrieg aus, und Heinrich Friedrich Kistner geriet in russische Gefangenschaft.
In den Kriegsjahren beschäftigte die Firma H. F. Kistner Baugesellschaft gut 2.000 Menschen. Das Unternehmen baute in dieser Zeit ein Marinelazarett, errichtete Bunker jeder Art und erstellte in Mitteldeutschland, in Ostfriesland, am Westwall und in Osteuropa Industrie‑, Wehr- und Bahnbauten.
Im Zweiten Weltkrieg brannte die Kalksandsteinfabrik nach einem Bombenangriff im September 1944 aus, ist jedoch zu insgesamt 80 % erhalten geblieben. Im Sommer 1947 wurde Heinrich Friedrich Kistner aus der Gefangenschaft entlassen. Er trat sein Erbe an und wurde Leiter der Baugesellschaft.
Unter freiwilliger unentgeltlicher Mithilfe der Angestellten wurden die Aufräumungsarbeiten in großer Eile durchgeführt. So konnte bereits im März 1948 mit dem Wiederaufbau der Fabrik begonnen werden. Bei den Bauarbeiten wurde der Schornstein, der sich bereits vor dem Krieg bedrohlich geneigt hatte, weitgehend erneuert. Damit die Nachbarschaft “weder durch Rauch noch durch sonst irgendwelche Gerüche” (Bauakte) belästigt würde, wurde der aus Kalksandstein gemauerte achteckige Schlot auf 40 Meter erhöht.
Im März 1949 waren die Arbeiten abgeschlossen. Da die Presse beim Bombenangriff nicht zerstört wurde, konnte die Produktion nun wieder aufgenommen werden. Drei Mann stellten nun täglich 10 Stunden an sechs Wochentagen Kalksandsteine her. Stein für Stein wurden sie auf Loren gestapelt und in einen der sechs Härtekessel gefahren. In dem Kessel blieben sie etwa acht Stunden und wurden unter sehr hohem Druck mit Wasserdampf gehärtet. Danach wurden die Loren aus dem heißen Kessel geholt und ins Freilager gefahren. Dort kühlte das strahlend weiße Baumaterial ab. 70 bis 80 Prozent der Bremerhavener Gebäude wurden nach dem Krieg mit Steinen aus der Kalksandsteinfabrik Kistner gebaut.
Mit seiner expandierenden Firma hatte Heinrich Friedrich Kistner in der Nachkriegszeit erheblich zum Wiederaufbau Bremerhavens beigetragen. Eine Menge Arbeit wartete auf die zeitweise 700 Mitarbeiter, die Kistner in seinem Unternehmensverbund beschäftigte: Aufbauarbeiten für die private Fischindustrie, die Hallen III, IX, XI und XIV im Fischereihafen mussten wieder aufgebaut werden, in Gemeinschaftsarbeit wurden neue Fahrgastanlagen für den Columbusbahnhof errichtet und die heimische Werftindustrie wartete auf den Wiederaufbau und auf Erweiterungsbauten.
Auch im Wohn- und Geschäftshausbau ging es wieder aufwärts: An die Ecke der Bürgermeister-Smidt-Straße zur Lloydstraße wurde ein Gebäude für J. Heinrich Kramer gestellt und für die Wohnungsbaugesellschaft der Fliegergeschädigten baute Kistner ebenso Häuser wie für den Bau- und Sparverein der Ostvertriebenen und für die Städtische Wohnungsbaugesellschaft. Auch die Geschäftshäuser von Schütz, W. Schulte, Baier-Thees, J. Warrings, E. A. Mäkler, dem Kaufhaus Merkur, Pohl & Schröder, Joh. Kriete, Georg Diekmann, dem Hotel Naber und der Gaststätte Schlinker tragen die Handschrift des Baugeschäftes Kistner. Weiterhin müssen die Gebäude des Norwestdeutschen Verlages, der Städtischen Sparkasse in Geestemünde und Bremerhaven und der Neubau von Wohnblöcken für die Niedersächsische Heimstätte, des Schiffsjungenheims, eines Mädchenwohnheimes, eines Kindergartens in der Deichstraße und das Gemeindehaus in Leherheide erwähnt werden. Schließlich war das Baugeschäft Kistner auch am Wiederaufbau des Stadttheaters, der Bürgermeister-Smidt-Schule, am Neubau eines Hallenschwimmbades und am Bau eines 14-stöckigen Hochhaus beteiligt.
Heinrich Friedrich Kistner, der die Leitung des Familienbetriebes ja in sehr jungen Jahren übernommen hat, hat sich von Anfang an um eine betriebliche Sozialordnung bemüht. Im Jahre 1955 erschien sein Buch “Hoher Lohn allein tut es nicht”, in dem er seine Vorstellungen einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit seinen Mitarbeitern dargelegt hat: “Meine Auffassung war deshalb die, daß jeder mehr verdienen müsse, wenn er die betrieblichen Aufgaben in der Betriebsgemeinschaft mit zu lösen versuchte, wenn er als Mitdenker und Mitwirkender mit seinem besten Willen und Können in aufgeschlossener Weise am betrieblichen Geschehen aktiv teilnehmen würde”.
Ihm war durch seine in der sowjetischen Gefangenschaft gemachten Erfahrungen klar, dass es ohne Anerkennung der Menschenwürde keine soziale Gerechtigkeit geben kann. So führte Heinrich Friedrich Kistner schon in den 1950er Jahren in seinem Unternehmen eine Leistungsgewinnbeteiligung ein. Der Gewinn wurde monatlich ausgeschüttet. Unter den Mitarbeitern fand der Partnerschaftsplan eine große Zustimmung.
In den 1960er Jahren haben Umbauten und Modernisierungen das Äußere der Fabrik verändert. Dazu zählte besonders der Umbau des Kalksilos im Jahre 1962 und die Anbauten zur Hafenstraße.
Den langsamen Niedergang des Traditionsunternehmen hat Heinrich Friedrich Kistner nicht mehr erlebt. Er starb am 3. März 1990. Mit seinem Tode ging die Firmenleitung auf seinen Sohn über, der traditionsgemäß auch den Namen Heinrich Friedrich Kistner trägt. An ihm war es nun, das Schiff, die H. F. Kistner Baugesellschaft, durch das unruhig gewordene Fahrwasser zu steuern.
Weil das Baugewerbe nach immer größeren Kalksandsteinen verlangte, investierte das Unternehmen in den 1990er Jahren rund zwei Millionen Mark. So wurde im März 1992 die 70 Jahre alte Handpresse (“alter Opa” genannt) ausgemustert und zwei neue, halbautomatische Pressen angeschafft. Beim Einbau taufte Heinrich Friedrich Kistner die neuen Pressen auf die Namen “Heini” und “Fidi”. Der erforderliche Dampf, der mit sehr hohem Druck in das Kalksandsteingemisch gepresst wurde, wurde fortan nicht mehr mit Kohle sondern mit Schweröl und Gas erzeugt. Nun hatte der weithin sichtbare Fabrikschornstein seine Funktion verloren Gleichwohl wurde er nicht abgerissen. Als sichtbares Erkennungszeichen der Firma Kistner ließ man ihn stehen, und so blieb er bis heute erhalten.
Aber trotz der hohen Investitionen war der Niedergang der Kalksandsteinfabrik nicht mehr aufzuhalten. Die Baubranche verlangte nach immer größeren Formaten. Zu deren Herstellung wären abermals erhebliche Investitionen in den gesamten Maschinenpark erforderlich gewesen. Der derzeitige Standort an der Geeste hat aber längst seine ehemalige Attraktivität verloren. Das Gelände war nicht groß genug, um neue Investitionen aufzunehmen. Man hätte sich also zusätzlich nach einem neuen Standort umsehen müssen. Dabei wurde die bereits vorhandene Kapazität von 30 Millionen Steinen im Jahr schon seit Jahren nicht mehr ausgeschöpft. So wurden im Jahr 1999 wurden nur noch fünf Millionen Steine ausgeliefert. Die Geschäftsführung vereinbarte mit den letzten fünf Produktionsmitarbeitern eine Aufhebung der Arbeitsverträge und legte die Kalksandsteinfabrik am 31.03.2000 still.
Die Kalksandsteinfabrik war der letzte Industriebetrieb an der Geeste, in dem jahrzehntelang über 60 Mitarbeiter beschäftigt waren – teilweise sogar im Drei-Schicht-Betrieb. Zurück blieben nur noch die Erinnerungen der damaligen Anwohner. So schrieb mir Günter, dass “ein herrlichen Duft in der Luft lag… wenn Kistner nebenan seine Steine brannte, eine wunderschöne Erinnerung für mich, ich habe diesen Duft noch in der Nase! Ich weiß allerdings nicht, ob ich jetzt wirklich objektiv bin, oder ob es nicht vielleicht auch einfach diese wunderschöne Erinnerung des Moments war, denn irgendwie habe ich auch im Hinterkopf die Erinnerung, dass einige diesen für mich wunderschönen Duft einen fürchterlichen Gestank nannten! Es ist zu lange her, 1954 bin ich geboren, es wird also vermutlich um die 1960 gewesen sein.”
Nach der Schließung der Kalksandsteinfabrik hat die Stadt das Betriebsgelände im Jahre 2002 für 1,74 Millionen Euro erworben. Das Baugeschäft und der auf dem Kistnergelände stehende Hobbymarkt wurden weiter betrieben. Doch auch der Hobbymarkt hatte keine Zukunft. In Bremerhaven eröffneten immer größere Baumärkte. Die Konkurrenz um die Kunden wurde erdrückend. Im Jahre 2002 musste auch Kistners Hobbymarkt aufgeben, und ein Jahr später schloss der zunächst weiter betriebene Baustoffhandel.
Das Kernunternehmen konnte sich noch bis zum Jahre 2005 auf dem Markt behaupten. Doch schließlich sollte ein ruinöser Wettbewerb auf dem Bau die H. F. Kistner Baugesellschaft in die Knie zwingen. Lange 150 Jahre prägte die H. F. Kistner Baugesellschaft das Baugeschehen an der Unterweser. In den Anfangsjahren im Mietshausbau, später auch im Hoch- und Tiefbau. Es gibt wohl kein anderes Unternehmen, das an der baulichen Entwicklung Bremerhavens einen ähnlichen Anteil hatte.
Seit dem Jahre 2005 sucht die städtische Wirtschaftsförderung BIS vergeblich einen Käufer für das brach liegende Kistner-Gelände. Bis auf wenige Ausnahmen sind die darauf stehenden Gebäude dem Verfall preisgegeben, unter anderem auch die große stützenfreie Tonnendachhalle des ehemaligen Pressenhauses. Das Landesdenkmalamt hat in seiner Stellungnahme vom August 2009 die Tonnenhalle als ein konstruktionsgeschichtlich interessantes Gebäude bezeichnet.
Immer wieder berichteten die Nordsee-Zeitung und das Sonntagsjournal von neuen Ideen zur Nutzung des Grundstückes. Wer in den Archiven der Zeitungen blättert, findet, beginnend im Jahre 2000, wohl an die 40 Artikel. Aber nicht einer der bisher vorgestellten Pläne wurde realisiert. Auch die in Workshops und Arbeitsgruppen des Bürgervereins und der Stadtteilkonferenz Lehe entwickelten Konzepte und Ideen sollen bei den verantwortlichen Politikern kein Gehör gefunden haben.
Vielmehr sind sich die Bremerhavener Politiker von SPD und CDU wohl einig, die unter Denkmalschutz stehende Tonnendachhalle abzureißen. Bleibt die Hoffnung, dass der Landesdenkmalpfleger dieses einmalige Industriedenkmal dauerhaft zu schützen weiß. Dazu gehört auch, zu verhindern, dass man die Halle mit dem gewölbten Dach einfach dem Verfall preisgibt und so Tatsachen schafft.
Die jüngeren Politiker werden die Geschichte des Traditionsunternehmens H. F. Kistner möglicherweise nicht kennen. Es wäre schön, wenn dieser Artikel die Verantwortlichen in Verwaltung und Politik wachrüttelt und vor Augen führt, welches historische Kleinod sie vernichten möchten. Schließlich hatte die Leher Gemeinde den Firmengründer H. F. Kistner im August 1853 als vollwertigen Bürger in ihrer Mitte aufgenommen. Im Mai 1890, als Magistrat und Bürgervorsteher-Kollegium beschlossen, die Straße an der Meide mit seinem Namen zu bezeichnen, wurde ihm erneut höchste Ehrung erwiesen.
Ich bedanke mich ganz herzlich bei allen, die mich beim Schreiben dieses Artikels unterstützt haben. Einen besonderen Dank an Herrn Kistner, der mir erlaubt hat, das Bild des Firmengründers mit seiner Ehefrau hier zu veröffentlichen, an Sabine Funk und Horst-Dieter Brinkmann für die eingereichten Bilder, an Jürgen Winkler für seine Hinweise und Informationen und an Günter Knieß für die Aufzeichnung seiner Kindheitserinnerungen und für die hilfreiche Unterstützung bei meinen Recherchen. Abschließend lade ich alle DeichSPIEGEL-Leser herzlich ein, ihre eigenen Erinnerungen hier als Kommentare niederzuschreiben.
Quellen:
Dr. Georg Bessell: Heimatchronik der Stadt Bremerhaven, Seiten 271 ff.
Heinrich Dröge: Hundert Jahre bauen – Festschrift zum 100-jährigen Bestehen
R. S. Hartmann: Die Partnerschaft von Kapital und Arbeit, Seiten 218 ff.
H. Buchartz: Die Prüfung und die Eigenschaften der Kalksandsteine, Julius-Springer-Verlag, Berlin, 1908
Herbert Körtge: Die Straßennamen der Seestadt Bremerhaven, Seite 120
Dr. Hartmut Bickelmann: Werbung durch Anschauung, Niederdeutsches Heimatblatt Nr. 567 vom März 1997
Dr. Hartmut Bickelmann: Zwischen Wohnen und Arbeiten, Niederdeutsches Heimatblatt Nr. 586 vom Oktober 1998
guh: Die letzten Tage der Kalksandsteinära, Nordsee-Zeitung vom 18.02.2000
Rainer Donsbach: Nicht dem Verfall zusehen, Nordsee-Zeitung vom 29.03.2011
S. Schwan: Neuer Anlauf für die Kistner-Brache, Nordsee-Zeitung vom 10.1.2012
Rainer Donsbach: Denkmal droht der Abriss, Nordsee-Zeitung vom 17.09.2015
Rainer Donsbach: Flüchtlinge aufs Kistnerareal, Nordsee-Zeitung vom 13.11.2015
Jürgen Winkler: Kistnergelände – eine unendliche Geschichte, juwi’s welt
Kalksandstein-Dienstleistung GmbH: Geschichte der Kalksandsteinindustrie
Stadt Bremerhaven: Pressemitteilung vom 14.10.2015
Hupke und Mahn | Geschichtswerkstatt Lehe: Kalksandsteinwerk H. f. Kistner
Deutsche Digitale Bibliothek: Bremerhaven, Hafenstraße 56, 58, 60, Werftstraße
Am 04.02.2016 schrieb Herr Gustav Wohde zu obigem Artikel folgenden Kommentar und bat mich, hier zwei Bilder zu veröffentlichen:
Hallo Herr Kistner,
zur Unterstreichung des Engagement für ihre Mitarbeiter in obigem Artikel sende ich Ihnen gerne einen Nachruf in Form eines Zeitungsausschnittes zu. Auf diesem wird mein Onkel Siegfried Lange im Oktober 1959 als guter Mitarbeiter und eben solcher Kamerad von der Leitung der Firma Kistner und deren Mitarbeiter verabschiedet. Er war Betonfacharbeiter und 31 Jahre alt.
Sollte es Ihnen gelingen, eine Erinnerung an meinen Onkel zu wecken, den ich nie kennenlernen konnte, wäre ich Ihnen sehr dankbar für eine Kontaktaufnahme.
Gerne sende ich Ihnen auch ein Foto von Ihm zu.
Vielen Dank vorab und weiterhin alles Gute.
Nachruf Siegfried Lange vom 5. Oktober 1959