Uhrenhaus Liedecke hält die Zeiger für immer an
Nur noch bis zum heutige 30. Juli 2016 tickt es im Uhrenhaus Lidecke. Dann hält Rolf Lidecke die letzten Uhren in seinem Laden in der Geestemünder Johannesstraße 4 für immer an. Das Traditionsgeschäft schließt, der Kapitän der Uhren geht für immer von Bord.Im Jahre 1855 fand in Paris die Weltausstellung statt, In London wird die Tageszeitung The Daily Telegraph gegründet, und in Bremerhaven wird der 36 Meter hohe neugotische Leuchtturm in Betrieb genommen und die große Kirche eingeweiht.
Es ist das gleiche Jahr, in dem in Geestemünde, das zu jener Zeit zum Königreich Hannover gehörte, die Tecklenborgwerft das “König-Georg-Dock” in Betrieb nimmt. Und 1855 ist das Jahr, in dem Georg Lidecke in Seefeld bei Nordenham sein Uhrengeschäft gründet, das er acht Jahre später nach Brake verlegt.
In Brake wird Georg Lidecke aber auch nur elf Jahre bleiben. Im Jahre 1884 überquerte er mit seinem Uhrengeschäft die Weser und ließ sich in Geestemünde — das inzwischen zum Deutschen Kaiserreich gehörte — in der Borriesstraße nieder. Die damalige Hauptverkehrsstraße, durch der die Bahn fuhr, war zu jener Zeit eine noble Adresse. Hier verkaufte Georg Lidecke Juwelen, Uhren, Gold und Silberwaren und optische Geräte an die feine Gesellschaft.
Dreimal wechselte Georg Lidecke in dieser Straße den Standort seines Geschäftes. Im Jahre 1904 kaufte er das Haus Nummer 33, um seinen Juwelierladen erheblich zu vergrößern. Und als die Bürger zu einer modernen Flaniermeile aufstieg, eröffnete Georg dort eine Filiale.
1901 übergab Georg das Firmenruder an seinen Sohn Franz, der nach seiner Lehre zum Uhrmacher die Deutsche Uhrmacherschule Glashütte (eine sächsische Ingenieurschule für Feinwerktechnik) absolvierte. Hier erlernte er auch die Fertigung von Schiffschronometern. Seine Prüfung legte er mit Bravour ab und erhielt eine Anerkennungsurkunde der Großmann-Stiftung. Anschließend arbeitete er für eine längere Zeit in England.
Franz war überragend tüchtig und sehr fleißig. Vom Montagmorgen bis zum Samstagabend stand er im Geschäft. Und zusätzlich am Sonntag vor dem Kirchgang. Diesen Arbeitseinsatz erwartete er auch von seinen Mitarbeitern, mit denen er nur dienstliches besprach. Private Worte wurden nicht gewechselt.
Franz Liedecke spezialisierte sich und baute Schiffschronometer. Das waren ganz besondere Uhren, die zur Bestimmung der geographischen Länge benutzt wurden. An Präzision und Ganggenauigkeit der Uhren wurden daher höchste Anforderungen gestellt. Die Rohwerke bezog er von seinem Lehrbetrieb in Glashütte oder auch aus England.
In seinem Arbeitsleben stellte Franz Lidecke mehr als 800 “Längenuhren” her. Seine Chronometer hatten einen hervorragenden Ruf. Viele nationale und internationale Preise und Auszeichnungen waren der Lohn für seine meisterlichen Arbeiten. Die Ganggenauigkeit wurde von der Seewarte in Hamburg geprüft. Die Einkünfte aus den Schiffschronometern bescherten ihm einen gewissen Wohlstand.
Dann kam der Zweite Weltkrieg, und das Hauptgeschäft in der Borriesstraße wurde ebenso ein Opfer der Bombenangriffe wie die Filiale in der Bürgermeister-Smidt-Straße, aus der Franz Lidecke lediglich eine Präzionsuhr retten konnte. Aber Franz gab nicht auf und, richtete in seiner verschont gebliebenen Villa in der Rudolfstraße 7 erst einmal eine Reparaturwerkstatt ein.
Als der Zweite Weltkrieg vorüber war, durften in Deutschland viele Jahre keine Schiffe gebaut werden. Franz Lidecke stellte keine Schiffschronometer mehr her. Aber er nahm Reparaturaufträge für Schiffsuhren an und richtete ein Geschäft in der Hafenstraße ein.
Im Jahre 1955 konnte der Familienbetrieb sein 100jähriges Bestehen feiern. Zur Ruhe setzen konnte er sich nicht. Als Franz Liedeckes Sohn Werner, der Enkelsohn des Firmengründers Georg, aus Krieg und Gefangenschaft nach Hause kam, eröffnete er schon 1957 seinen eigenen Uhrenladen in der Johannesstraße 4.
Hier erlernte auch sein Sohn Rolf, der Urenkel des Firmengründers, das Uhrmacherhandwerk. Zunächst führten Vater Werner und Sohn Rolf das Geschäft gemeinsam. Aber die letzten Jahrzehnte war der Vater nicht mehr dabei. Rolf verkaufte und reparierte die Uhren, und seine Ehefrau kümmerte sich um das Finanzielle.
Es gibt kaum noch Uhren “mit Herz” zu kaufen – Uhren die man täglich aufziehen muss. Heute ist alles digital, die Zeiger werden von einer Batterie vorwärtsgetrieben. Und wenn sich die Zeiger nicht mehr bewegen, kommt die Uhr eben in den Müll. Die Freude über die erste Uhr zur Konfirmation – wer kennt sie noch?
So fanden fast nur noch Stammkunden den Weg in das Traditionsgeschäft von Rolf Lidecke. Menschen, die noch eine “richtige” Uhr hatten, brachten sie zum Reinigen, Überholen oder Reparieren. Oder zum Umstellen auf die Sommer- oder Winterzeit. Alte Uhren, die mit Sorgfalt behandelt werden müssen.
Aber, wie schon Eingangs erwähnt, tickt es nach fast 60 Jahren ab 1. August 2016 nicht mehr im Uhrenhaus in der Johannesstraße 4 in Geestemünde. Nach vier Generationen schließt der 76-jährige Rolf Lidecke das Geschäft für immer ab. Der Beruf des Uhrmachers stirbt aus.
Quellen:
“Die Stunde null im Uhrenhaus”, Nordsee-Zeitung vom 07.05.2005
“Wer hat an der Uhr gedreht?”, Nordsee-Zeitung vom 24.10.2009
“Bald stehen die Uhren für immer still”, S. Schierwater, Nordsee-Zeitung vom 07.07.2016
“Uhrmacher 50 Jahre bei der Stäwog”, Stäwog-Mieterzeitung Juni 2010
“Chronometermacher in den Regionen”, Deutsches Schiffahrtsmuseum
AUSTRALIAN WAR MEMORIAL