Geestemünde in alten und neuen Ansichten — Teil 10
Geestemünde in alten und neuen Ansichten — Teil 10
Im Volksmund gibt es viele Geländebezeichnungen, die für den Einheimischen eine genaue Ortsangabe darstellen. Diese oftmals schon viele hundert Jahre alten Bezeichnungen geraten langsam in Vergessenheit. Darum ist es wichtig, diese alten Flurbezeichnungen für unsere Nachkommen zu erhalten, sind sie in ihrer Bedeutung doch ein Stück Heimat und Geschichte.
In Geestemünde gibt es die Bezeichnung “Paschviertel”. Das Wort “Pasch“ soll vom Niederrhein stammen und setzte sich auch im norddeutschen Sprachgebrauch durch. Seinen Ursprung findet es jedoch in der lateinischen Sprache. Es stammt von “pascua” ab, was Weide oder Weideland bedeutet. Wer heute durch die mit dichten Häuserreihen bebaute Paschstraße geht, kann sich vielleicht nicht mehr vorstellen, dass dieses Gebiet einmal Weideland gewesen sein soll.
Geestendorf entstand wohl aus dem bereits 1139 erstmalig erwähnten Kirchdorf Gestenthorpe. Das mittelalterliche Geestendorf gehörte zum Amts- und Gerichtsbezirk Vieland und befand sich auf dem Geestrücken rund um die Marienkirche. 1813 lebten in Geestendorf 491 Menschen, noch 1823 sollen es nur 576 gewesen sein. Doch mit der Gründung der Stadt Bremerhaven und den Häfen kamen immer mehr Menschen in das verschlafene Geestendorf. Bereits 1858 lebten hier 2.296 Einwohner. Vor allem Arbeiter und Handwerker siedelten sich hier an, da in Bremerhaven und dem 1845 ebenfalls neu entstanden Geestemünde die Zuzugsbedingungen sehr restriktiv waren.
Das Areal des heutigen Neumarktes befand sich im Eigentum des Amtshofes, dem späteren Amt Vieland. Der Amtshof lag schräg gegenüber der Marienkirche und war mit verschiedenen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden bebaut. Auch gehörten ein großer Garten und umfangreiche Ländereien dazu. Diese erstreckten sich im Norden bis zur Buchtstraße und wurden im Osten durch die Bülkenstraße begrenzt.
Nach der Gründung von Bremerhaven und Geestemünde nahm Geestendorf – wie bereits erwähnt – als Wohnvorort für die beiden kleinen Hafenorte innerhalb weniger Jahrzehnte einen erheblichen Aufschwung. Als Folge hatte sich die Wohnbebauung in Geestendorf erheblich Richtung Osten und Norden erweitert und Geestendorf wuchs entlang der heutigen Georgstraße allmählich auf Geestemünde zu.
Zur gleichen Zeit entstand für die vielen Neubürger auf einem nördlich des Geestendorfer Geestrückens gelegenen Weideland ein neues Wohngebiet, dass man später in Anlehnung an die alte Flurbezeichnung den Namen “Paschviertel” gab. Dieses von der Georgstraße, der Bismarckstraße, der Schillerstraße und der Buchtstraße begrenzte Wohngebiet besteht aus eng beieinander liegenden Gassen, die in einem leichten Bogen verlaufen und von der Buchtstraße schräg angeschnitten werden. Das Paschviertel entwickelte sich zu einem dichtbesiedelten Ortsteil, der vom alten Geestendorfer Dorfkern räumlich getrennt war.
Mit dem Eisenbahnbau und der Erweiterung der Geestemünder Hafenanlagen wurde für das Paschviertel 1856 eine weitere Ausdehnung unmöglich gemacht. Als 1863 der Handelshafen,der Nordkanal und der Querkanal fertiggestellt waren, musste die Chaussee um das neu entstandene Zoll-“Freigebiet” herumgeführt werden. Die zwischen 1859 und 1862 gebaute Leher Straße (später Bismarckstraße) und die Leher Chaussee (später Rheinstraße) bildeten die Bebauungsgrenze für das neue Wohnviertel. Und der 1877 angelegte Holzhafen machte klar, dass es für das Paschviertel keine weitere Ausdehnung in nördlicher Richtung geben kann.
Also wurde gen Süden weitergebaut — zunächst entlang der bereits vorhandenen Paschstraße, Bülkenstraße und Kurze Straße (heute Tulpenstraße) — bis man die Buchtstraße erreichte. Hier war dann auch wieder Schluss, denn das jenseits der Buchtstraße gelegene Amtshofgelände bildete eine weitere Grenze und so wurde aus dem “Pasch”, eingezwängt zwischen Buchtstraße und Bismarckstraße, ein eng begrenztes und dichtbesiedeltes Viertel mit kleinen Arbeiter- und Handwerkerhäusern vom Typ “Leher Haus“.
Zwischen Paschstraße, Bülkenstraße und Kurze Straße werden weitere Straßen gebaut; Anfang der 1860er Jahre entsteht die Rosenstraße und Mitte der 1860er Jahre die Nelkenstraße, in der heute noch ein paar Gebäude des Typ “Leher Haus” erhalten sind.
Die Grundstücke waren sehr klein, sie reichten nur etwa zehn Meter in die Tiefe. Daraus ergaben sich Grundstücksgrößen von maximal 100 Quadratmeter, oftmals waren sie sogar noch kleiner. So waren auch die Wohnräume, jedenfalls gemessen an den heutigen Wohnverhältnissen, recht klein. Häufig mussten die Gewerbetreibenden auch ihre Werkstatt in den Wohnungsgrundriss einplanen, da die kleinen Grundstücke kein zusätzliches Werkstattgebäude zuließen.
Zwischen den Gebäuden gab es schmale Gänge, die zu den sehr kleinen Hofräumen führten. Die Anlage von Hausgärten war in den kleinen Hinterhöfen allerdings nicht möglich. Zur Aufbesserung ihrer geringen Einkünfte waren die Bewohner darauf angewiesen, in außerhalb gelegenen Kleingärten etwas Gartenbau und auch Kleinviehhaltung zu betreiben. Diese Gärten wurden am Rande des Paschviertels östlich der Schillerstraße und Rheinstraße angelegt und zogen sich bis zum Gebiet des heutigen Hauptbahnhofes hin. Die Gärten verschwanden erst in den 1950er Jahren.
Nur dort, wo irgendwann einmal zwei Grundstücke zusammengelegt wurden, konnten die Handwerker und andere Gewerbetreibende ihre Werkstatt außerhalb des Wohnraumes unterbringen. Nördlich der Friedrichstraße wurden die Grundstücke im Bebauungsplan vom Anfang der 1850er Jahre großzügiger vermessen. Hier konnte man deshalb auch prächtigere Gebäude mit größerem Wohnraum erstellen.
So befand sich etwa das Malergeschäft B. Hayen seit 1888 in dem kleinen im Gründerhausstil erbauten Wohn- und Geschäftshaus an der Ecke Friedrichstraße und Tulpenstraße. Ein anderes Gebäude, dass hier dreißig Jahre lang stand, wurde abgerissen.
Auch die heute noch bestehende Bäckerei Engelbrecht entstand hier zum Anfang des letzten Jahrhundert an der Ecke Friedrichstraße zur Schillerstraße in einer bereits vorhandenen Bäckerei.
Neben dem Malergeschäft B. Hayen entstanden im Paschviertel viele andere Betriebe. Max Sieghold, späterer Besitzer der bekannten Sieghold-Werft, pachtete 1925 in der Nelkenstraße 2 von Friedrich Nagel eine Schmiede und begann seinen Betrieb mit einem Lehrling.
Polstermeister Louis Schlüter begann in der Nelkenstraße in einer kleinen Werkstatt, bevor er um die Wende zum 20. Jahrhundert seine Möbelfabrik aufbaute.
Für die Tischlerarbeiten stellte Louis Schlüter den im Jahre 1898 geborenen Tischlermeister Karl Jüchtern ein. Auch mehrere Gesellen waren in der Möbelfabrik beschäftigt.
Der Betrieb bestand noch bis weit in die 1970er Jahre hinein.
Karl Jüchterns Vater hieß Heinrich Jüchtern, der hatte ein kleines Transportunternehmen.
Mit seinem Pferdefuhrwerk transportierte er unter anderem das Gepäck der Reisenden von und zum Bremerhavener Bahnhof.
Schräg gegenüber von Engelbrecht befand sich der Bierverlag von Heinrich Lehnert, der eigentlich eine Fleischwaren‑, Margarine‑, Bier- und Spirituosengroßhandlung war. Zwar gibt es das Lehnertsche Anwesen ebenfalls nicht mehr, aber das
Eckhaus wurde zusammen mit weiteren Gebäuden für einen Supermarkt derart wieder aufgebaut, dass optisch eine historische Verbindung zum alten Lehnertschen Gebäudekomplex hergestellt wurde.
Über das Alltagsleben im Paschviertel gibt kaum Aufzeichnungen. Es scheint aber ein Viertel gewesen zu sein, in dem die wohnbaulichen und auch die hygienischen Verhältnisse anspruchslos waren. Auch die Kanalisation soll so unzureichend gewesen sein, dass die tiefer gelegenen Grundstücke bei starken Regenfällen unter Wasser standen.
Dadurch, dass das Amtshofgelände für die Geestendorfer Neubaubebauung eine Grenze darstellte, blieb der Charakter des Geestendorfer Ortskern mit seinen alten Bauernhäusern bis weit ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts erhalten. Das Paschviertel bekam sogar eine eigene Schule. 1863 wurde in der Schillerstraße 14 die Paschschule gebaut.
1902 bezog die Katholische Volksschule das Gebäude und blieb hier 37 Jahre – bis zum Verbot im Jahre 1939. Neben 13 weiteren Schulen wurde durch den Luftangriff im September 1944 auch die Paschschule zerstört.
Bei diesem Angriff wurde auch die 1911 eingeweihte Heilige Herz-Jesu-Kirche durch Brandbomben erheblich beschädigt.
Die alteingesessenen Bewohner Geestendorfs blieben also “unter sich”, währen im Paschviertel die in Bremerhaven und Geestemünde beschäftigten Arbeiter ihre neue Heimat fanden. Aber auch kleinere Handwerksbetriebe wie Bäckereien, Schlachtereien, Schustereien und Milchgeschäfte oder Kohlenhandlungen fanden hier ihr Auskommen.
Das blieb so, bis das Wohngebiet durch den Luftangriff am 18. September 1944 fast völlig zerstört wurde und die an Stelle der einstmals kleinen Wohnhäuser gebauten großen Wohnblöcke dem Viertel einen vollkommenen anderen Charakter gaben.
Quellen:
Dr. Hartmut Bickelmann, Niederdeutsches Heimatblatt Nr. 757 aus Januar 2013
Daten zur Geschichte der Katholischen Schule…
Historische Bülkenstraße in neuem Gewand (pdf-Datei)
Hartmut Bickelmann: Von Geestendorf nach Geestemünde,
de.wikipedia.org