Erinnerungen an die Georgstraße
Erinnerungen an die Georgstraße – das sind Geschichten, die die drei Geestemünder Jungen Walter Abbes, Erich Sturk und der im Jahre 2013 leider verstorbene Herbert Ehlers in ihrer Jugendzeit in den 1930er Jahren erlebt haben. Sie hatten die Idee, ihre Erinnerungen für die Nachkommen schriftlich festzuhalten. Hier sind die Erinnerungen von Erich Sturk:
Anhand einer Flurkarte der Georgstraße versuchten sie, die Häuser und Geschäfte der Reihe nach zu lokalisieren. Was der eine nicht mehr wusste, wusste der andere, und so kam die anliegende Liste zusammen, die weitgehend der damaligen Lokalität entspricht. Im Jahre 2014 stellten Walter Abbes und Erich Sturk die Aufzeichnungen der neu gegründeten Geschichtswerkstatt Geestemünde zur Verfügung.
Plesseeck
An der westlichen Seite der Georgstraße befand sich ein keilförmiges Grundstück, das durch den Verlauf der Parallelstraße (heute Ulmenstraße) begrenzt wurde. Es gehörte zu der Spirituosenfabrik Plesse, die sich in Wulsdorf in der Weserstraße befand und hauptsächlich Liqueure herstellte.
Im Erdgeschoss befand sich ein Laden, der von Gerhard Loop geführt wurde und der die Erzeugnisse der Firma Plesse verkaufte. Er war mit meinen Eltern befreundet und wurde von mir “Onkel Gerhard” genannt. Meine Mutter schickte mich oft dorthin, um eine Flasche Apfelmost zu kaufen. Er hatte eine elegante Art, seine Ware anzupreisen, hob die Flasche hoch, um das Etikett zu präsentieren, legte sie auf den Tresen und rollte sie geschickt in Einkaufspapier und überreichte sie mir, als hätte ich eine wertvolle Flasche Sekt gekauft. Herr Plesse war übrigens ein Meister im Herstellen von Liqueuren. Er hatte einen so genannten “Klosterliqueur” in seinem Angebot, der im Geschmack einem Cointreau nicht nachstehen sollte.
An der Spitze des Hauses befand sich eine Filiale des Buchhändlers Memminger, die von Fräulein Mügge geführt wurde. Hier kaufte ich meine Jugendbücher, meistens vom Schneider–Verlag, der nach dem Krieg wegen seiner Tendenzen sehr angefeindet wurde. Mir ist der für mich angenehme Geruch nach Büchern noch heute in Erinnerung.
Das Plesseeck wurde nach dem Kriege wieder aufgebaut und hat heute noch seinen Namen. Im Erdgeschoss wurde der Spirituosenladen wieder eingerichtet, diesmal von den Söhnen des Herrn Loop geführt, und im Obergeschoss entstand ein Café, in dem an Wochenenden getanzt wurde.
Eis-Becker
Dem Plesseeck nördlich gegenüber stand ein kleines Haus aus roten Ziegelsteinen, das der Reichsbahn gehörte. An dieser Stelle überquerten die Eisenbahnschienen die Straße Am Quai. Die Güterzüge passierten mehrmals am Tage die Straße und brachten Kohle zu dem Gaswerk an der Elbestraße und kehrten abends mit Koks beladen zurück. Beim Überqueren der Straße kam ein Eisenbahner aus dem Haus und sperrte die Straße mittels einer roten Fahne, die er in der Hand schwenkte, ab. Die Bahnlinie führte vom Gaswerk aus noch weiter über die Geesthelle zur Rickmerswerft, die auch durch Güterzüge mit Material versorgt wurde.
Das Gebäude beinhaltete außerdem noch eine öffentliche Toilette, eine Telefonzelle und einen Kiosk, der von der Familie Becker geführt wurde. Hier gab es im Sommer das beste Eis in Geestemünde, und wenn im Mai die Saison eröffnet wurde, sprach sich das unter uns Kindern schnell herum. Mittags trafen sich dort die Schüler des Realgymnasiums mit den Schülerinnen der höheren Töchterschule aus der Straße “Am Rathaus” (heute Klussmannstraße) zum Eisessen und Poussieren. Die Spitzwaffel mit einer Kugel kostete 5 Pfennig, die Becherwaffel mit 2 Kugeln 10 Pfennig.
Lohrengel und Hesse
Im nördlichen Teil der Ostseite der Georgstraße befand sich die Firma Lohrengel und Hesse, ein sogenanntes Eisenwarengeschäft. Im Gegensatz zur Firma Becken, deren Kundschaft hauptsächlich aus Privatkunden bestand, kauften hier vorwiegend die Handwerker ihren Bedarf ein. Das Hauptgeschäft bestand aus Tür- und Fensterbeschlägen und Kleineisenmaterial, aber auch Herde und Öfen wurden angeboten. Der Laden war dunkel und hatte einen langen Tresen, hinter dem der Geschäftsführer, Herr Wittschen, die Ware anbot. Mein Vater kaufte hier für seine Tischlerei sein gesamtes Material ein, und ich begleitete ihn oft bei seinen Einkäufen. Nach der Ausbombung bestand das Geschäft noch lange im ehemaligen Lager in der Paschstraße.
Photo Müller
- An der Westseite der Georgstraße zwischen Ahronheim und Plesse lag das Photogeschäft Müller, ein Spezialgeschäft für Photocameras, Filme und Photoarbeiten. Mein größter Wunsch als Kind war, so lange ich denken konnte, eine eigene Kamera zu besitzen. Ich stand oft vor dem Schaufenster und betrachtete die ausgestellten Leicas, Contax und andere Kameras, deren Erwerb für mich unerschwinglich war.
Zu Beginn des Krieges 1939 tauchten aufgrund der Kriegsbewirtschaftung in der Nordwestdeutschen Zeitung sogenannte Tauschanzeigen auf. Durch Zufall las ich eine Anzeige mit dem Inhalt: “Suche Rollschuhe, biete Foto.” Als Adresse war der Sedanplatz angegeben. Ich putzte also meine Rollschuhe, die ich schon lange nicht mehr benutzte, und zog damit zu der angegebenen Adresse. Meine Rollschuhe fanden Anklang bei dem Tauschwilligen, und ich hielt eine 6 x 9 Box “Kodak Brownie”, unbenutzt mit Film in Originalverpackung. Ich war hocherfreut und machte unter dem Weihnachtsbaum meine ersten Fotos mit dem “Seuthelin-Blitzlichtpulver” am Besenstiel. Die Filme entwickelte ich im Luftschutzkeller bei Rotlicht in einer Seifenschale, nachdem ich mir die entsprechenden Chemikalien bei Photo-Müller gekauft hatte.
Nun wanderte mein Taschengeld dorthin, und ich erinnere mich an die Atmosphäre und an den Geruch im Laden nach Chemie und Technik, den ich als sehr angenehm und geheimnisvoll empfand. Ich kaufte dort regelmäßig die monatlich erscheinenden “Agfa Photoblätter” und Broschüren aus der Reihe “Der Photorat” vom Knappverlag Halle an der Saale für 75 Pfennig, die wertvolle Tipps und Anregungen zu verschiedenen Photothemen enthielten. Leider gingen diese beim Luftangriff verloren, aber ich konnte sie kürzlich antiquarisch im Internet erwerben, sogar jahrgangsweise in Buchform gebunden.
Die Box hat mich jahrelang in meiner Kindheit und Jugendzeit begleitet und steht heute noch in meiner Kamerasammlung. Sie begleitete mich bei der Kinderlandverschickung und überlebte zusammen mit meinem Negativarchiv die Brandnacht vom 18. September 1944 im Luftschutzkeller.
Durch die heutige Möglichkeit der digitalen Bildbearbeitung mit dem Computer kann ich die Fotos in einer vorher nicht erzielbaren Qualität ausdrucken, und ich besitze damit unwiederbringliche Aufnahmen aus alten Zeiten.
Metropol-Kino
An der Einmündung der Buchtstraße in die Georgstraße befand sich an der Nordostecke das Gebäude des Metropolkinos. Im Erdgeschoss befand sich im Eckladen eine Niederlassung der Nordwestdeutschen Zeitung. Nachmittags um 15.00 Uhr wurde dort die Zeitung angeliefert, und es versammelten sich dort die Zeitungsboten zum Empfang und zur Austragung. Im 1. Obergeschoss lag die Gastwirtschaft Dammann mit Eingang von der Buchtstraße her.
Zur Georgstraße hin befand sich der Eingang zum Kinosaal, der tagsüber mit einer Gittertür verschlossen war. Neben dem Eingang befanden sich verglaste Schaukästen mit Fotos von den aktuellen Filmen, und über dem Eingang spannte sich ein großes Transparent mit Werbung für den Film. Zur Nachmittagsvorstellung wurde das Gitter des Einganges von Herrn Adomeit geöffnet. Herr Adomeit war von Beruf Musiker, erteilte Klavierunterricht und stand nebenbei hinter der Kasse und riss die gekauften Einlasskarten ab.
Es gab jugendfreie Filme und Filme, die ab 14 beziehungsweise 18 Jahren erlaubt waren. Herr Adomeit achtete streng darauf, dass diese Vorschriften eingehalten wurden. Der Besitzer des Kinos war ein Herr Adami, der noch ein zweites Kino, das Atrium, in der Straße An der Mühle betrieb.
Es gab nur eine Rolle mit Aufnahmen der Wochenschau, die im Wechsel zwischen beiden Kinos hin- und hergetragen wurde. Für den Transport hatte er Jugendliche angestellt, die um ihren Job von uns Kindern sehr beneidet wurden, da sie sich alle Filme umsonst anschauen konnten. Sonntags nachmittags um 15.00 Uhr gab es eine Jugendvorstellung, in der Mickymausfilme oder ähnliches liefen. Die Eintrittsgebühr betrug 30 Pfennig, und es versammelte sich schon lange vorher eine große Menge Kinder vor dem Eingang. Der Kinosaal befand sich entlang der Buchtstraße, und dort waren auch die zwei Ausgänge und die Toilettenfenster. Die Kinder, die das Geld für den Eintritt nicht besaßen, versuchten, durch diese Fenster in den Saal zu klettern, was ihnen auch oft gelang.
Über den Ausgangstüren waren Lautsprecher angebracht, über die Musik aus dem Kinosaal übertragen wurde, bevor der Film begann. Unser Haus in der Buchtstraße lag dem Kinosaal direkt gegenüber, und an warmen Sommerabenden, wenn wir noch auf unserem Hof spielen durften, tanzten wir zur Musik. Diese Abende sind mir noch in guter Erinnerung.
Hirschapotheke
An der Südwestecke der Georgstraße/Grabenstraße (heute Ramsauer Straße) befand sich die Hirschapotheke von Herrn Gerlach. Hier kauften meine Eltern und mein Großvater, der mit Herrn Gerlach befreundet war, Medikamente und Verbandsstoffe ein. Ich erinnere mich besonders an ein Medikament “Panflavin”. Das waren Tabletten, die ich bei Halsschmerzen schlucken musste, was mir nicht schwer fiel, weil sie nach Schokolade schmeckten.
In einem gewissen Alter beschäftigte ich mich mit chemischen Experimenten und benötigte hierfür Chemikalien, die normalerweise nicht an Kinder verkauft werden durften. Kalium Chlorat — wofür brauchst du das? — zum Gurgeln. Oder Salmiak/Ammoniak – für unsere Klingelelemente usw.
Einmal kam auch die Zeit der Entwicklungsperiode, wo man rauchen wollte. Bei uns zu Hause wurde nicht geraucht, also war dort nichts zu besorgen. Eine Zeit lang versuchten wir es im Freundeskreis mit Kamillentee in der Tonpfeife, die oft den “Wundertüten”, die man für 10 Pfennig kaufen konnte, beigefügt waren. Meine Freunde stichelten: “Dein Opa kennt doch den Apotheker gut, versuch doch mal, Asthmazigaretten zu kaufen!” Ich lies mich überreden und ging in die Apotheke und verlangte diese. Herrn Gerlach war das wohl nicht ganz geheuer und er fragte mich, wofür ich sie haben wollte. Ich antwortete in meiner Naivität: “Ach, ich bin so erkältet.” Daraufhin jagte er mich aus dem Laden.
Bei dem großen Angriff auf Bremerhaven brannte auch die Apotheke aus, jedoch die Grundmauern blieben erhalten. So steht sie auch heute noch fast unverändert da. Beim Wiederaufbau nach dem Kriege bekam mein Vater für seine Tischlerei den Auftrag für die Anfertigung der Haus- und Ladeneingangstür. Ich war inzwischen Lehrling im väterlichen Betrieb und musste diese Türen anfertigen. Es waren meine ersten Außentüren, die ich anfertigte, aus Eichenholz mit Kreuzsprossen und Segmentbögen und damit eine schwierige Aufgabe. Sie haben lange gehalten und wurden irgendwann durch Aluminiumtüren ersetzt.
Knoblauch | Georgstraße 43
Neben dem Kino Metropol lag das Haus von Uhrmacher und Optiker Knoblauch mit einer wunderschönen Fassade. Der Hauseingang lag in der Mitte des Hauses, links und rechts daneben die Schaufenster. Die Knoblauchs waren alte Leute und hatten sich schon zur Ruhe gesetzt. Sie bewohnten das 1. Obergeschoss, das einen Erker besaß. Von hieraus konnte man die gesamte Georgstraße übersehen, zusätzlich waren noch Spiegel – so genannte Spione – angebracht und die beiden Senioren saßen dort den ganzen Tag und beobachteten das Geschehen auf der Straße. Soweit ich weiß, sind beide beim Bombenangriff im September 1944 ums Leben gekommen.
Das Geschäft im Erdgeschoss wurde von dem Schwiegersohn, Herrn Franz Kelch geleitet. Es gab auch eine Tochter meines Alters, Oda Kelch, mit der ich oft gespielt habe. Die Familie Kelch besaß schon früh in den dreißiger Jahren ein Radiogerät, das mittels eines angeschlossenen Autoakkus betrieben wurde. Darum habe ich sie sehr beneidet, denn bei uns zu Hause gab es zu der Zeit nur ein Grammophon.
Im Erdgeschoss war noch ein kleiner Laden abgeteilt, wo ein Herr Hübner einen Friseursalon betrieb. Dorthin musste ich zum Haarschneiden gehen. Neben mir saßen in den Stühlen, die mit einem Pedal hoch- und niedergefahren wurden, ältere Herren, die eingeseift und dann mit einem langen Messer rasiert wurden. An den Wänden hingen Werbeplakate für Dr. Dralles Birkenwasser und Fromm’s. Es war mir immer sehr unangenehm, wenn mir der Nacken ausgeschnitten wurde, denn ich war sehr kitzelig.
Auf dem Hof des Hauses stand das Gebäude der “Weserdruckerei Lüdecke & Grassee”, bei der mein Vater seine Geschäftspapiere drucken lies.
Schocken | Merkur
Das Haus von Schocken/Merkur grenzte in der Neumarktstraße direkt an das Wohnhaus meiner Eltern in der Buchtstraße 8 – 10 und war mir von Kind an wohlbekannt. Ich schaute oft aus unserem Wohnzimmerfenster in der Neumarktstraße und beobachtete die Pferdefuhrwerke, die dort ihre Ware anlieferten. Besonders gefielen mir die Wagen vom Gemüsegroßhändler Vehmeier — wegen der Pferde. Die Plattwagen waren immer zweispännig und wurden paarweise jeweils von 2 Apfelschimmeln oder Rappen gezogen. Als ich grösser war, ging ich schon mal hinunter und gab ihnen ein Stück Zucker und streichelte sie.
Meine Eltern kauften als selbstständige Geschäftsleute im Einzelhandel und nicht in Warenhäusern ein. Die Einzelhändler waren ja auch Kunden meiner Eltern und erwarteten von ihnen dasselbe. So ergaben sich Kuriositäten: Fleisch wurde beim Schlachter Müller in der Buchtstraße, Leberwurst beim Schlachter Seltmann in der Johannesstraße, gekochter Schinken beim Schlachter Tostmann in der Friedrichstraße und Rotwurst beim Schlachter Gärtner in der Georgstraße gekauft. Das Gleiche galt für den Broteinkauf: Vollkornbrot beim Bäcker Gers in der Rosenstraße, Brötchen lieferte der Bäcker Schrader aus der Paschstraße, und auch bei den Bäckern Bullwinkel in der Schillerstraße und Eden in der Nelkenstraße wurde eingekauft.
In das Geschäft von Schocken kam ich nur mal in Begleitung meiner Spielkameraden aus dem Paschviertel, wenn sie hierher zu Einkaufen geschickt wurden. Es war für mich interessant, durch den Laden zu bummeln und die große Auswahl an Waren zu betrachten. Später während des Krieges ging ich öfter mal in die Schallplattenabteilung des Kaufhauses, das nun unter dem Namen Merkur firmierte und später dem Hortenkonzern einverleibt wurde. Hier konnte man Schallplatten mit den neuesten Soldatenliedern erwerben, wenn man eine alte Schellackplatte dafür abgab. Außerdem konnte man zeitweise Batterien für die Taschenlampen erwerben, die es sonst nirgendwo mehr gab.
Eine schreckliche Erinnerung für mich ist das Geschehen in der so genannten“Kristallnacht” am 9. November 1938. Mein Schlafzimmer lag zur Neumarktstraße hin, und ich wurde durch das Scheppern von Glas geweckt. Ich machte das Licht aus und schob das Verdunkelungsrollo ein Stück hoch, um hinauszuschauen und sah im Schein der gegenüberliegend Gaslaterne Gestalten auf der Straße hin- und herlaufen, und es war ein großer Lärm dort unten. Als ich am nächsten Morgen zur Schule ging, kam ich auf meinem Wege in der Neumarktstraße an den Schaufenstern vorbei und sah die zersplitterten Scheiben und das Chaos im Inneren des Geschäftes. Vor den Fenstern stand ein Mann in SA-Uniform als Wache gegen Plünderungen. Nachmittags fuhr ein Lastwagen der NSV vor und die Lebensmittel wurden aus dem Laden getragen und aufgeladen. Ich habe als Kind nicht begriffen, was in der Nacht vorgegangen ist.
Radio Wappler
Rechts neben dem Kaufhaus stand das Haus von Radio Wappler. Hier kaufte ich Klingeldraht und kleine Schalter für meine elektrischen Basteleien, später meine Schallplatten. Mit dem Sohn der Familie, Hans-Georg, habe ich des Öfteren gespielt. Das Haus wurde auch total zerstört, aber nach dem Krieg an gleicher Stelle wieder aufgebaut.
Musikhaus Birnbaum
Im anschließenden Haus weiter nach Süden befanden sich zwei kleine Läden. Das Ehepaar Birnbaum handelte mit Musikinstrumenten, und Herr Birnbaum kam ab und zu zum Klavierstimmen in unser Haus. Wir kauften bei ihm auch unser erstes Radio, und er verlegte für den Anschluss die Antenne auf dem Dach, in dem er eine Kupferlitze von Schornstein zu Schornstein spannte. Nach dem Kriege betrieb Frau Birnbaum das Geschäft in der Hafenstraße im Pavillon über der Aue.
Im rechten Teil des Hauses betrieb Frau Rook ein Spezialgeschäft für Schokolade. Sie führte nur Markenware, und ihre gefüllten Reliefpralinen sind mir in guter Erinnerung.
I.G. Schmidt
Die Lieferwagen sind mir in besonderer Erinnerung. Es waren Lastwagen mit besonderen Aufbauten für den Transport von Baustahl, da sich die Bauweise aus Beton durchgesetzt hatte. Die Wagen hatten eine auffällige Lackierung in einer Art“Mimikri”, die an den Anstrich von Kriegsschiffen erinnerte, nur das es grelle Farben waren. Die Wagen standen immer in der Neumarktstraße vor dem Lagerplatz.
Franzke
An der Westseite zwischen der Max-Diedrich-Straße und der Einswarder Straße befand sich das Fahrradhaus Franzke. Im Gegensatz zu dem “Bastler” im Norden der Georgstraße führte Herr Sarah nur Markenräder in seinem Sortiment. Mit 8 Jahren bekam ich mein erstes Fahrrad zum Geburtstag. Es war ein Knabenfahrrad — eine Zwischengröße vom Kinderfahrrad zum Herrenfahrrad — und hatte die Marke “Rufran”.
Radfahren lernte ich im Fischereihafen in der Halle X. Mein Vater hatte sich diesen Platz ausgesucht, da dort Sonntagmorgens kein Betrieb war und da der Betonboden sehr eben war. Mein Vater schob mich an, und ich drehte meine Runden. Das Auf- und Absteigen war mein größtes Problem, aber bald konnte ich auch dieses.
Nun besaß die ganze Familie Fahrräder, und unsere Sonntagsausflüge gingen über die Schiffdorfer Chaussee nach Hosermühlen. Der Sonntagskuchen wurde in einem so genannten “Stadtkoffer” auf dem Gepäckhalter verstaut. In Hosermühlen hatte Herr von Hollen einen “Sommergarten”, und er servierte in weißer Jacke den Kaffee und für mich eine “Orangeade”. Nach dem Kaffee spannten meine Eltern die mitgebrachten Hängematten im Sommergarten zwischen den Bäumen auf und ruhten dort. Meine Schwester und ich spielten im Garten und an einem kleinen Bach in der Nähe.
Drogerie Petrasch
An der südöstlichen Ecke der Georg- und Max-Dietrich-Straße befand sich die Drogerie Petrasch, die auch Sämereien führte. Mein Großvater besaß einen Schrebergarten in der Hartwigstraße und kaufte seine Sämereien bei Petrasch. Da er ein guter Kunde war, bekam er am Anfang des Krieges noch ab und zu einen Rollfilm für meine Kodak-Box. Filme waren zu der Zeit schwer zu bekommen, weil sie kriegswichtiges Material darstellten.
Kugel-Bake
Im Nachbarhaus von Petrasch befand sich im links gelegenen Laden die Firma Kugel-Bake. Herr Bake handelte mit Berufsbekleidung, vorwiegend für die Werften und den Fischereihafen. Als Blitzlicht taucht bei mir die Erinnerung auf, dass Herr Bake mit seinem roten Bart oft vor der Ladentür stand — den Verkehr beobachtend oder im Gespräch mit Passanten. Sein Angestellter war ein Herr Becker, den ich als kleinen schüchternen Mann in Erinnerung habe. Er war nach dem Kriege als Kirchendiener an der Christuskirche tätig.
Uhren-Stute
Im rechten Laden des vorgenannten Hauses hatte Robert Stute ein Uhrenfachgeschäft mit Werkstatt zum Hof hin. Seinen Sohn Walter lernte ich in der Schule kennen, und wir waren lange Zeit eng befreundet. Ich kam dadurch oft in das Haus und in den Laden. Wenn die Ladentür geöffnet wurde, erklang ein vierteiliger Gong. Wir machten den Klang nach und sangen dazu: “Schön — gu — ten – Tag/Auf – wie – der – sehn.”
Hinten in der Werkstatt saß ein Herr Jakob mit der Lupe im Auge am Tisch und reparierte die Uhren. Walters Mutter war immer sehr nett zu mir, und sein Vater hatte im Flur der im 1. Obergeschoss liegenden Wohnung eine Reckstange aus Holz anbringen lassen, an der wir Aufschwung, Kniewelle und Sitzwelle üben konnten. Leider verstarb Walters Vater kurz nach dem Bombenangriff am 18. September. Ursache war wohl die Aufregung, denn die Familie konnte nur unter schwierigen Umständen das brennende Haus verlassen.
Seine Mutter baute nach dem Kriege das Geschäft wieder auf, erst in der Max-Dietrich-Straße, später an alter Stelle in der Georgstraße. Mein Vater baute in unserer Werkstatt die Ladeneinrichtungen für beide Läden, und ich war als Lehrling daran beteiligt. — Leider ist auch Walter im Jahre 2013 verstorben.
Bauernhäuser
Ecke An der Mühle/Georgstraße standen zurückliegend noch 2 alte Bauernhäuser. In einem wohnte mein Klassenkamerad Günter Sachs. Im anderen Haus mein Klassenkamerad Seppel Selgrath. Es waren neben einigen Häusern am Bauernwall und an der Talstraße die letzten Reste vom alten Geestendorf. Sie wurden alle beim Bombenangriff am 18. September 1944 vernichtet.
Niedersachsenhof
An der Westseite der Georgstraße in Höhe der Straße An der Mühle befand sich im Erdgeschoß des Hauses eine Gaststätte mit dem Namen Niedersachsenhof. Es war eine gutbürgerliche Gaststätte, in der auch mein Großvater ab und zu verkehrte. Das Besondere des Lokals war die Inneneinrichtung. Ich weiß nicht, ob der Inhaber einmal zur See gefahren oder ein Liebhaber von chinesischem Interieur war. Mein Großvater nahm mich einmal mit dorthin und zeigte mir die Raritäten. Der Raum stand voller Pagoden, Bambus und an den Wänden hingen chinesische Tuschezeichnungen. Dies war damals eine Rarität, denn es gab meines Wissens nach seinerzeit noch keine Chinarestaurants, wie sie heute üblich sind.
Fischbratküche
Im gleichen Hause oder gleich nebenan wurde eine Fischbratküche betrieben. Ich glaube, daß es die einzige in Geestemünde derzeit war. Wenn bei uns zu Hause Fischtag war, bekam ich eine große Porzellanschale in die Hand gedrückt, die in Handtüchern und alten Zeitungen zum warmhalten eingepackt war. Ich holte immer große Portionen, da ich in einer Großfamilie aufwuchs und die Haushaltung zusammen mit meinen Großeltern erfolgte.
Schmiede
Ecke Georg- und Schmiedestraße war eine Hufschmiede, die sich dort bis zum Kriegsende befand. In den dreißiger Jahren und auch während des Krieges gab es kaum Autos, und der Lastverkehr erfolgte mit Fuhrwerken und Pferdegespannen. Die Pferde standen zum Beschlagen auf dem Gehweg der Straße, und ich habe als Junge oft dort gestanden und zugeschaut. Interessant war das Schmiedefeuer innerhalb der Schmiede, das mit einem Blasebalg betrieben wurde. Die Hufeisen wurden dort glühend erhitzt, auf dem Amboss mit dem Hammer bearbeitet und mit eine langen Zange nach draußen gebracht. Einer der Schmiede hielt ein Bein des Pferdes in Händen und auf dem Knie und bearbeitete den Huf mit einem scharfen Messer. Dann legte der andere mit der Zange das glühende Eisen auf den Huf, wobei ein zischendes Geräusch entstand und sich Qualm und Geruch nach verbranntem Horn ausbreitete. Nach der Abkühlung wurden die Hufnägel eingeschlagen. Einmal bekam ich ein altes Hufeisen und ein paar neue Hufnägel geschenkt. Hufeisen galten damals als Glücksbringer und wurden zur Zierde an die Wand gehängt.
Nachsatz
Es gäbe noch viel zu erzählen! Schade, dass Herbert Ehlers nicht mehr unter uns weilt. Wir könnten beim Nachdenken bestimmt noch eine Fortsetzung schreiben.
Bremerhaven, im Januar 2014 | Erich Sturk