Es ist das Jahr, in dem Ferdinand Braun den Nobelpreis für Physik bekommt. Es ist das Jahr, in dem die Deutsche Reichspost den bargeldlosen Postscheckverkehr einführt. Es ist das Jahr, in dem sich der Möbelhändler Heinrich Waller an der Hafenstraße 64 ein fünfgeschossiges Wohn- und Geschäftshaus mit einer reich verzierten Fassade erbauen lässt. Es ist das Jahr 1909.
1879: Wilhelm I. ist König von Preußen und erster Deutscher Kaiser. Thomas A. Edison bringt zum ersten Mal eine Glühbirne dauerhaft zum Leuchten. Im gleichen Jahr gründet der 1856 geborene Heinrich Waller sein Möbel- und Dekorationsgeschäft. Am 6. Februar 1883 wird Sohn Karl geboren.
1888 wird Wilhelm II. Deutscher Kaiser, und Heinrich Waller steht 1890 in den Verkaufsräumen seines “Leher Hauses” in der Hafenstraße 64 und verkauft Möbel.
1905: Fünf Jahren zuvor hat der Deutsche Kaiser in Bremerhaven seine “Hunnenrede” gehalten. In diesem Jahr ist der von einer deutschen Weltmacht träumende Kaiser schon wieder vor Ort und besichtigt den Lloydschnelldampfer “Kaiser Wilhelm II”. In Berlin wird der Dom eingeweiht, und die Geestemünder können über 320 Telefonanschlüsse miteinander plaudern.
Heinrich Waller lässt im Hinterhof ein Lagerhaus bauen. Als Bäckermeister Brüggemannn das Nachbarhaus Hafenstraße 66 zum Verkauf stellt, greift Heinrich Waller zu und beauftragt das Leher Architekturbüro Adolf Fischer mit dem Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses.
1909: In Wien wird Franz Lehárs Operette “Der Graf von Luxemburg” uraufgeführt, in Bremerhaven wir der Kaiserhafen III in Dienst gestellt und am Fischereihafen wird die “Erste Deutsche Stock- und Klippfischwerke GmbH” gegründet. Ja, im August werden die “Bürger”, die Lloyd- und die Kaiserstraße zum ersten Mal mit elektrischen Bogenlampen beleuchtet.
Am 24. Januar 1909 gibt Heinrich Waller in der Provinzial-Zeitung seiner werten Kundschaft zur gefälligen Nachricht, “dass während des Neubaues der Möbel-Verkauf zu äußerst billigen Preisen” weitergeht. Der Möbelverkauf findet während der Bauzeit im Lagerhaus im Hinterhof statt.
1911: Die Reichsversicherungsordnung wird verabschiedet. In Dresden wird die Oper “Der Rosenkavalier” von Richard Strauss uraufgeführt. In Hamburg wird der alte Elbtunnel eingeweiht, in England läuft die “Titanic” vom Stapel und in Bremerhaven läuft die Bark “Deutschland” zur 2. deutschen Südpolarexpedition aus. Und – alles schon dagewesen – die Ortsgruppe Lehe des Arbeiter-Abstinenten-Bundes fordert, die Preise für alkoholfreie Getränke auf die Höhe der Bierpreise zu senken.
Unterdessen verkaufen in Lehe Heinrich Waller und seine Ehefrau Gesine ihre Möbel nun in dem fertigen Wohn- und Geschäftshaus.
Heinrich Waller bezeichnet sein Möbelhaus jetzt als “größtes Möbellager am Platze” und hat eine eigene Tischler- und Polsterstätte. Komplette Wohnungseinrichtungen kann man bei Waller kaufen. Geliefert wird frei Haus, und man ist modern und nun auch unter der Leher Telephonnummer 1237 fernmündlich erreichbar.
Es ist wirklich ein prunkvolles Haus geworden, das der Möbelhändler Heinrich Waller sich hat bauen lassen. Im ersten Obergeschoss befindet sich die Beletage. Der Zugang zur Wohnung führ durch ein repräsentatives Treppenhaus.
Auch die Wohnungen in den höher gelegenen Stockwerken haben eine Ausstattung, die weit über dem Standard liegen. Jede Wohnung hatt ein Badezimmer und ein Spül-WC. Die zur damaligen Zeit üblichen Gemeinschaftstoiletten gibt es in diesem Hause nicht. So ist es nicht verwunderlich, dass hier Bankdirektoren, Ärzte und andere wohlhabende Leute wohnen.
Dem Zeitgeist entsprechend, zeigt Heinrich Waller was er hat. Er lässt die Fassade seines Prachtbaues mit viel Stuck verzieren. Den konnte man sich damals aus einen Katalog bestellen. Reich verzierte Ornamentplatten und dickbäuchige Balustraden stehen zur Verfügung. Auch Köpfe Figuren werden angeboten. Der Bauherr wählt aus, und der Architekt setzt alles wie ein Puzzle zu einem Gesamtbild zusammen.
Heinrich Waller bestellt die Ornamente bei der Leher Firma Brüggemann und hat sich als Büste über seinem Hauseingang verewigen lassen. Links und rechts von ihm schauen seine Frau Gesine und seine Tochter Frieda ebenfalls auf den Eingang hinunter.
Was Johann und Hermann Brüggemann alles so im Angebot haben, preisen sie an den Fassaden ihres neuen Firmengebäudes an – es ist die 1898 erstellte Rudelsburg.
1918: Im November flieht der Deutsche Kaiser in die Niederlande und dankt ab. Der Erste Weltkrieg ist verloren und Friedrich Ebert wird der erste Reichskanzler der Weimarer Republik. Und auch in Bremerhaven ist Schluss mit König und Kaiser: An der Unterweser bildet sich ein Arbeiter- und Soldatenrat. Durch die “Bürger” marschieren Soldaten und Arbeiter zum heutigen Theodor-Heuss-Platz und demonstrieren für Frieden und Demokratie. In Lehe wird der “Kaiserpark” nun folgerichtig umbenannt. Er bekommt den unverdächtigen Namen “Deutscher Garten”
Heinrich Wallers Sohn Karl wird nicht mehr miterleben, wie man versucht, aus dem Kaiserreich eine Republik zu gestalten, die dann doch nur 14 Jahre halten wird. Er stirbt am 24. November 1918 in einem Lazarett in Königsberg. Er hinterlässt seine Witwe Dora und drei kleine Kinder. 1919 verkauft Heinrich Waller sein Möbelgeschäft samt Haus an den Kaufmann Carl Kammerscheidt, der den Wert des Objektes vom Zimmermann und Kreisschätzer Wilhelm Speckmann schätzen lässt.
Wenngleich Heinrich Waller sein Geschäft nach dem Tode seines Sohnes Karl aufgegeben hat, am gesellschaftlichen Leben nimmt er weiterhin teil. Auskunft darüber geben uns die historischen Protokolle des Schützenverein zu Lehe von 1848 e. V. So ist im Protokoll-Buch vermerkt, dass Heinrich Waller am 27. März 1897 an der Schützen-General-Versammlung Vereinslokal H Breyer’s Hotel “Stadt Lehe” teilgenommen hat.
Für den 2. Juli 1932 vermerkt das Protokoll, dass der Vorsitzende des Schützenvereins der am 5. Juni begangenen “goldenen Hochzeit unseres Ehrenschützen Heinrich Waller und seiner Gattin” gedachte. Auch an der Jahresversammlung vom 7. März 1934 nimmt Heinrich Waller teil.
Gelegentlich der Beiratssitzung vom 30. Juli 1936 gibt der Vereinsführer des Schützenvereins bekannt, dass Heinrich Waller im Laufe des Tages verstorben ist, und zwar kurz nach seinem 80. Geburtstag. Aber da gibt es schon ein anderes Deutschland. Kein Kaiserreich mehr und auch keine Weimarer Republik – Deutschland ist nun ein Tausendjähriges Reich. Und da schaut auch der preußische Ministerpräsident Hermann Göring mal vorbei und legt den Grundstein für das Hochseefischer-Ehrenmal an der Geestemole. Beim Grundstein ist es dann auch geblieben, das Ehrenmal wurde nie gebaut. Naja, solche kleinen Patzer passieren auch den heutigen Politikern.
1897 gründet der aus Celle stammender Meyer Behr in Hamburg ein Schuhgeschäft, die Firma Gebrüder Behr. Es werden mehrere Zweigniederlassungen eröffnet, eine davon in Lehe.
Die Geschäftsführung für das Schuh- und Bekleidungsgeschäft wird Heinrich Behnke übertragen. 1917 trennt er sich von der Firma Gebrüder Behr und eröffnet in der damaligen Hafenstraße 112 ein eigenes Schuhgeschäft.
1920: Die Republik ist in Aufruhr, radikale Rechte und Linke zetteln Aufstände an, und Morde an politischen Gegnern sind an der Tagesordnung. Die NSDAP wird gegründet. Im Deutschen Reich treten 12 Millionen Menschen in einen Generalstreik. Der ehemalige Bremerhavener Stadtdirektor Erich Koch-Weser wird Vizekanzler, die Arbeiterwohlfahrt wird gegründet und an der Kaiserschleuse legt nach dem Krieg das erste Passagierschiff an. Es ist der frühere Lloyddampfer “Rhein”, der jetzt “Susquehanna” heißt.
Carl Kammerscheidt trennt sich von seinem gerade ein Jahr zuvor erworbenen Haus Hafenstraße 64. Sein Möbelgeschäft aber betreibt er im Hinterhof noch eine Weile weiter.
Käufer des Hauses Hafenstraße 64 ist Heinrich Behnke, der hier jetzt seine Schuhe verkaufen will. Kurz vor dem Umzug von der Hafenstraße 112 a in die Hafenstraße 64 fordert sein Schuhhaus “Roland” die Kundschaft auf, jetzt “zu außergewöhnlich billigen Preisen” zu kaufen, denn “die Preise für Schuhwaren steigen ganz gewaltig”.
Am 30. November 1920 ist es soweit: Das Schuhhaus Heinrich Behnke eröffnet und verkauft im Alleinvertrieb die Schuhmarke “Salamander”. Bis zum 3. Dezember erhalten alle Kunden 3 %Rabatt, Kriegsbeschädigte und Kriegerwitwen erhalten dauerhaft 5 % Rabatt.
Heinrich Behnke schaltet regelmäßig Inserate in der Nordwestdeutschen Zeitung. So erfährt der Zeitungsleser am 22. Dezember 1920, dass wieder eine große Schuhwarensendung eingetroffen ist, die nun zu äußerst günstigen Preisen angeboten werden kann. Auch ist “eine Besichtigung ohne Kaufzwang gern gestattet”. Man weist darauf hin, dass man sich “neben Drogerie Rogge” befindet.
1924: In diesem Jahr dirigiert Richard Strauß im Bremerhavener Stadttheater seine Oper “Salome” und Max Sieghold gründet eine Werkstatt für Schiffsreparaturen, woraus später die Schiffswerft und Maschinenfabrik Max Sieghold wird. Und die Städte Lehe und Geestemünde vereinigen sich. 73.000 Einwohner hat die neue preußischen Stadt Wesermünde.
Nun müssen viele Straßen umbenannt werden, um Doppelbenennungen zu vermeiden. Die Hafenstraße wird verlängert und reicht nun vom Freigebiet bis hinauf zum Markt. Bei dieser Gelegenheit werden auch die Hausnummern neu zugewiesen. Aus der Hafenstraße 64 wird die Hafenstraße 153.
1944: Seit 1933 bestimmt der GröFaZ (Größte Führer aller Zeiten) die Geschicke des Großdeutschen Reiches. Anfang des Jahres 1943 befiehlt er 16jährige Schüler an die Flugabwehrkanonen, um den Wesermünder Luftraum zu schützen.
An der Ostfront beginnt die Frühjahrsoffensive der Roten Armee, und in Berlin wird der Film “Die Feuerzangenbowle” uraufgeführt.
Am 15. und am 18. Juni 1944 wird das Gebiet um die Pauluskirche bombardiert. Eine Bombe fällt auf das Ramelow-Gebäude, das Haus brennt aus. Die Brandmauer zum südlich angrenzenden “Roggehaus”, Hafenstraße 155, mit der Drogerie im Erdgeschoss, wird so warm, dass auch die Bewohner des Hauses 153 (Schuhhaus Behnke) ihren Luftschutzkeller verlassen. Glücklicherweise kann der Brand gelöscht werden, und niemand ist zu Schaden gekommen.
1945: Der GröFaZ hat sich erschossen, die Wehrmacht hat kapituliert. Die alliierten Siegermächte führen nun die Hoheitsgewalt in ihren Besatzungszonen aus. Für Deutschland gilt ein absolutes Schiffsbauverbot, die noch vorhandene Handelsflotte wird beschlagnahmt. Statt Fischfang gibt es jetzt etwas für die Ohren: Der amerikanische Soldatensender “AFN Bremerhaven” geht am 28. Juli auf Sendung.
Die Amerikaner haben sich das Haus Hafenstraße 153 ausgeschaut und beschlagnahmen es. Alle Bewohner müssen das Haus verlassen. Familie Behnke zieht ins Lagerhaus um. Der Schuhladen wird in eine Bibliothek für die GI’s umfunktioniert.
1949 werden zwei deutsche Staaten gegründet, und in Hamburg nimmt der Nordwestdeutsche Rundfunk den ersten Fernsehsender in Betrieb. Die Amerikaner geben das Haus Hafenstraße 153 an die Familie Behnke zurück, die ein Jahr später die Ladenfront umbauen lassen. Das Schuhhaus wird auch mit einem modernen Pedoskop ausgestattet.
Mittlerweile ist Konrad Adenauer Bundeskanzler, in Bremerhaven arbeiten nur noch 7.600 Beschäftigte in der Schiffbauindustrie, und das Schuhhaus Behnke bekommt eine Sportabteilung. Das ist auch nötig, weil Bremerhaven 1962 einen Deutschen Meister im 100-Meter-Schmetterlingsschwimmen bekommen hat – es ist Werner Freitag.
Jetzt gibt es in Bremerhaven zwei Sportgeschäfte: Schuhhaus Fuss in Geestemünde und Schuhhaus Behnke in Lehe. Bei Behnke kann man Wurfspeere, Tennisschläger von Dunlop und Bälle jeder Größe und für jede Sportart kaufen. 1962 wird der Schuhladen erneut umgebaut. Vor dem Eingang entsteht eine kleine Passage mit einer Schuhvitrine.
1978: Das Kabinett Helmut Schmidt regiert, und in der Hafenstraße 153 wird gefeiert: Die Inhaber Fritz und Edith Behnke gratulieren Frau Anne Harenberg zu ihrem 25-jährigen Betriebsjubiläum. Das Schuhgeschäft wird seit 1975 von Kurt Kronenberger geführt. Ab 1989 führt Tochter Heike das Geschäft als Schuhgeschäft Kronenberger, bis sie es im Jahre 1993 aufgibt.
1994: Helmut Kohl ist schon lange Bundeskanzler, die Eisenbahn wird privatisiert, Brasilien wird Fußballweltmeister, und nach 73 Jahren werden in der Hafenstraße 153 keine Schuhe mehr verkauft. Die Volksbank Unterweser eG kauft das Haus und zieht nun in das denkmalgeschützte Haus ein. Vorher wird das Gebäude saniert und in seinen ursprünglichen Zustand zurück versetzt. Die 1962 errichtete Ladenpassage verschwindet. Auch das riesige Vordach mit den überdimensionalen Werbeanlagen wird entfernt. Im Inneren entsteht eine großzügige Schalterhalle.
2014: Deutschland wird mal wieder Fußballweltmeister, Opel schraubt sein letztes Fahrzeug in Bochum zusammen, und gut zwanzig Jahre nach der letzten Umbaumaßnahme muss die Fassade des ehemaligen Waller-Hauses erneut saniert werden. Rund 500.000 Euro nimmt die Volksbank eG Bremerhaven-Cuxland für die Erhaltungsmaßnahmen in die Hand. Der Aufwand hat sich gelohnt: In enger Zusammenarbeit mit dem Denkmalschutz konnte die Fassade mitsamt den alten Ornamenten in den ursprünglichen Zustand versetzt werden. Die Wohnungen wurden mit Gäste-WC und zeitgemäße Küchen auf den modernsten Stand gebracht. Die zwei Wohnungen im vierten Obergeschoss wurden zu einer zusammengefasst.
1909 bis 2015 – das sind 106 lange Jahre. Das Haus hat viele Herren kommen und gehen sehen. Ich habe die Geschichte des Hauses mit der deutschen Geschichte ein wenig verknüpft um aufzuzeigen, was das Haus in der Hafenstraße 153 alles “erlebt” hat.
Mein ganz besonderer Dank gilt Herrn Andreas Siems, Leiter der Abteilung Organisation und Unternehmensservice von der Volksbank eG Bremerhaven-Cuxland. Herr Siems hat die Sanierung des Gebäudes Hafenstraße 153 begleitet. Ohne sein Wissen über die Sanierungsabläufe und ohne seine mühsam zusammengetragenen Informationen und Bilder über das Haus hätte ich diesen Artikel für meine interessierten Leser sicherlich nicht schreiben können. Auch an Herrn Behnke ein ganz großes Dankeschön dafür, dass er sein Privatarchiv geöffnet und die historischen Bilder hervorgeholt hat.
Quellen:
Volksbank eG Bremerhaven-Cuxland
stolpersteine-hamburg.de
Harry Gabcke: „Bremerhaven in zwei Jahrhunderten – 1827–1918″
Harry Gabcke: „Bremerhaven in zwei Jahrhunderten – 1919–1947″
Harry Gabcke: „Bremerhaven in zwei Jahrhunderten – 1948–1991″