Kategorie: Bremerhaven damals und heute

Das war meine Werft – Folge 10

Von der Del­phin-Werft zur mari­ti­men Ruhezone

Wer von der Innen­stadt kom­mend die Hafen­stra­ße ver­lässt und rechts in die Stra­ße Auf den Sül­ten ein­biegt, fin­det sich plötz­lich in einer Oase der Ruhe wie­der. Auf den Sül­ten, das ist eher ein Gas­se als eine Stra­ße. Über altes Kopf­stein­pflas­ter erreicht man am Ende der Gas­se die Werft­stra­ße. Hier lädt ein Park­platz dazu ein, das Auto zu verlassen.
Auf den SültenDann sind es nur noch ein paar Schrit­te, und man steht auf einem Aus­sichts­platz an der Gees­te-Kaje — genau dort, wo sich Ende der 1870er Jah­re an einem dicht an die Hafen­stra­ße her­an­füh­ren­den Geest­e­bo­gen ein klei­ne  Boots­werft ange­sie­delt hat, die klei­ne Schif­fe, Motor­boo­te und Leich­ter bau­te und auch mit der Repa­ra­tur von Küs­ten- und Fische­rei­fahr­zeu­gen ihr Geld ver­dien­te. (mehr …)

Mit Gott in den Krieg für Kaiser, Volk und Vaterland

Mit Gott in den Krieg für Kai­ser, Volk und Vaterland

1888 wird der am 27. Janu­ar 1859 gebo­re­ne Fried­rich Wil­helm mit 29 Jah­ren Kai­ser. Für sei­ne Erzie­hung war der Kal­vi­nist Georg Hinz­pe­ter ver­ant­wort­lich, der 1866 zum Erzie­her des sie­ben­jäh­ri­gen Prin­zen Wil­helm von Preu­ßen beru­fen wur­de und über sei­nen Zög­ling spä­ter urtei­len wird: “Zum Reprä­sen­tan­ten taugt er, sonst kann er nichts (…) Er hät­te Maschi­nen­schlos­ser wer­den sollen.” 

Mit Gott in den Krieg für Kaiser

Aber der Mann wird ein Kai­ser, der in einem schnei­di­gen Auf­tre­ten daher­kommt und sich am liebs­ten in einer sei­ner 300 ver­schie­de­nen Uni­for­men prä­sen­tiert. Ein Kai­ser, der  — anders als sein Groß­va­ter Wil­helm I. – nicht bereit ist, sich dem Wil­len Bis­marcks unter­zu­ord­nen. Ein Kai­ser, der sich als Allein­herr­scher und Regent eines Rei­ches mit welt­po­li­ti­schen Ambi­tio­nen ver­steht. Ein Kai­ser, der von sich sagt: “Zu Gro­ßem sind wir noch bestimmt, und herr­li­chen Tagen füh­re ich Euch noch ent­ge­gen.” Hier­zu braucht er sei­nen Reichs­kanz­ler Otto von Bis­marck, der eine gegen­sätz­li­che Poli­tik ver­tritt, nicht. Es kommt zum Bruch, und der Kai­ser schickt sei­nen Kanz­ler aufs Alten­teil – der Lot­se muss das von ihm gebau­te Schiff Deut­sches Reich verlassen.

Mit Gott in den Krieg für Kaiser

Kai­ser Wil­helm II. legt sich mit Rus­sen und Fran­zo­sen an und beginnt ein Wett­rüs­ten mit der bri­ti­schen Mari­ne. Als am 28. Juli 1914 Öster­reich-Ungarn den Ser­ben den Krieg erklärt, sagt er Öster­reich sei­ne Unter­stüt­zung zu, und nun hat Deutsch­land die gesam­ten euro­päi­schen Groß­mäch­te gegen sich. Ver­wun­dert und naiv behaup­tet der Kai­ser, dass man Deutsch­land demü­ti­gen wol­le und ruft am 6. August 1914 dem deut­schen Volk zu: “So muss denn das Schwert ent­schei­den. Mit­ten im Frie­den über­fällt uns der Feind. Dar­um auf! zu den Waf­fen! Jedes Schwan­ken, jedes Zögern wäre Ver­rat am Vater­lan­de… Wir wer­den uns weh­ren bis zum letz­ten Hauch von Mann und Ross…”

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Die deut­sche Regie­rung befiehlt die Mobil­ma­chung, und bin­nen weni­ger Tage wer­den Mil­lio­nen jun­ger Män­ner in die Kaser­nen geru­fen, bewaff­net und mit Zügen an die Front geschickt. Und von dort schrei­ben sie Post­kar­ten an die Lie­ben daheim, Post­kar­ten, die in kit­schi­ger Ver­klä­rung das Grau­en des Krie­ges übertünchen.

Und so führ­te der letz­te Deut­sche Kai­ser sein Volk nicht herr­li­chen Tagen ent­ge­gen, son­dern er führt es direkt in den Ers­ten Welt­krieg, den er eigent­lich nicht will und doch nicht in der Lage ist, ihn zu verhindern.

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Am Abend des 3. August 1914 blickt der bri­ti­sche Außen­mi­nis­ter Sir Edward Grey aus einem Fens­ter sei­nes Minis­te­ri­ums und ist sich sicher: “In ganz Euro­pa gehen die Lich­ter aus, wir wer­den sie in unse­rem Leben nie wie­der leuch­ten sehen.”

Begeis­ter­te Frei­wil­li­ge  wer­den nach der Ver­kün­dung der deut­schen Mobil­ma­chung vom Kriegs­fie­ber gepackt, und sie begrei­fen den Krieg zunächst als gro­ßes Spek­ta­kel und rufen in Ber­lin vor dem Schloss: “Wir wol­len den Kai­ser sehen!”

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Bre­mer Regiment

Die Pres­se berich­tet von “unbe­schreib­li­chen Jubel” und Pla­ka­te und Flug­blät­ter wie­geln das Volk mit men­schen­ver­ach­ten­den Pro­pa­gan­da­sprü­chen zusätz­lich auf: “Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Fran­zos, jeder Tritt ein Britt, jeder Klapps ein Japs.“ Und in Bre­mer­ha­ven und anders­wo kann man in Schreib­wa­ren­ge­schäf­ten far­bi­ge Kar­ten mit vater­län­di­schen Bild­mo­ti­ven und ker­ni­gen Sprü­chen kaufen.

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Klei­ne Kin­der bekom­men zu Weih­nach­ten Mal­hef­te mit Kriegs­the­men oder Bau­klöt­ze geschenkt. Auch Zinn­fi­gu­ren, mit denen man die Schlach­ten nach­spie­len kann, sind sehr beliebt. Und grö­ße­re Kin­der spie­len unter Anlei­tung von Vete­ra­nen mit Spiel­zeug­waf­fen die Front­be­rich­te nach. In den Geschäf­ten kann man Kriegs­spiel­zeug aller Art kau­fen, es gibt den gesam­ten mili­tä­ri­schen Bereich wie Uni­förm­chen, Säbel, Degen und Kin­der­hel­me der ver­schie­de­nen Waffengattungen.

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Und mit Lie­dern, Gedich­ten und Mili­tär­pa­ro­len wer­den die Kin­der ein­ge­stimmt, tap­fer den Feind zu besie­gen. Fremd­wör­ter sind nun ver­pönt, es heißt jetzt “Leb­wohl” statt “Adieu” und “Mut­ter” statt “Mama”. Und die Leh­rer mei­nen, es sei eine vater­län­di­sche Pflicht, frem­de Wör­ter nicht mehr zu gebrau­chen. Und den­noch: Trotz des all­ge­mei­nen natio­na­len Tau­mels wäh­rend der unmit­tel­ba­ren Kriegs­vor­be­rei­tung kommt es in vie­len Städ­ten zu Anti­kriegs­de­mons­tra­tio­nen der Arbeiterschaft.

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Den­noch erweist die Füh­rung der deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie der preu­ßisch-deut­schen Mon­ar­chie ihre Gefolg­schaft und in der Reichs­tags­sit­zung vom 4. August 1914 stim­men auch die bis­her oft als “vater­lands­lo­se Gesel­len“ bezeich­ne­ten Sozi­al­de­mo­kra­ten ein­stim­mig für die Gewäh­rung von Kriegs­kre­di­ten. Der Kai­ser über die für ihn erfreu­li­che Geschlos­sen­heit aller poli­ti­schen Par­tei­en im Reichs­tag: “Ich ken­ne kei­ne Par­tei­en mehr, ken­ne nur noch Deutsche.”

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Und Frau­en beglei­ten ihre Män­ner und Brü­der zum Zug um dort Abschied zu neh­men. Vie­le glau­ben an einen schnel­len Sieg und sind sich sicher: “Zu Weih­nach­ten sind wir sieg­reich wie­der zu Hau­se.” Aber das glau­ben nicht nur die deut­schen Sol­da­ten, auch die Sol­da­ten des Geg­ners sind sich sicher, dass sie bis Weih­nach­ten sie­gen wer­den. Und natür­lich – wie soll es auch anders sein —  selbst­ver­ständ­lich alle mit Got­tes Hil­fe! Und in den Kir­chen han­deln die Pre­dig­ten und Gebe­te, von denen es auch gedruck­te Fas­sun­gen zum Ver­sen­den an die Front gibt, vom Kriegsgeschehen.

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Und so strö­men sie wie­der in die Kir­chen und drän­gen sich zum Abend­mahl, viel­leicht ein letz­tes Mal vor dem Ein­satz an der Front und dem Tod für Volk und Vater­land. Und von der Kan­zel wird gepre­digt: “Wer Gott zum Trotz hat, der wird sie­gen”, und “Ger­ma­nia, lass Dich bit­ten, lass Dich beschwö­ren, nie­mals, was auch kom­men mag, von die­sem Trotz zu lassen.”

Und die Sol­da­ten an der Front wer­den von einem Reli­gi­ons­päd­ago­gen mit einem “Kriegs­va­ter­un­ser” auf Linie gebracht:

Eile, den Deut­schen beizustehen,
Hilf uns im hei­li­gen Kriege!
Laß Dei­nen Namen sternengleich
Uns vor­leuch­ten, Dein Deut­sches Reich
Führ uns zum herr­lichs­ten Siege!”

Und natür­lich haben auch die Fein­de gebe­tet, viel­leicht etwas lau­ter, viel­leicht etwas ein­dring­li­cher, viel­leicht etwas from­mer. Und der “deut­sche Gott” wird das Deut­sche Reich nicht vor einer Nie­der­la­ge bewah­ren. Aber das wis­sen die Deut­schen wohl nicht, sonst wären sie viel­leicht daheim geblie­ben. Und so mar­schie­ren sie los, alle gemein­sam in Tod, für Gott, Volk und Vaterland.

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In den Foto­ate­liers las­sen die zurück­ge­blie­be­nen Frau­en sich mit ihren Kin­dern foto­gra­fie­ren – für die Män­ner im Schüt­zen­gra­ben. Manch­mal wer­den die Kin­der auch allei­ne foto­gra­fiert – aber immer ger­ne mit Uniform.

Und natür­lich wird, wie über­all im Kai­ser­reich, auch an der Unter­we­ser am 31. Juli 1914 der Kriegs­zu­stand erklärt. Nach kai­ser­li­che Ver­ord­nung umfasst der soge­nann­te “Bezirk der Befes­ti­gun­gen der Weser­mün­dung” inner­halb des Krei­ses Lehe die Gemein­den Mis­sel­war­den, Wre­men, Imsum und Lehe sowie die Städ­te Bre­mer­ha­ven und Geest­e­mün­de. Und der Fes­tungs­kom­man­dant hofft, “dass alle patrio­ti­schen Bür­ger ihn und die gesam­te bewaff­ne­te Macht freu­dig und rück­halt­los unter­stüt­zen in der Erfül­lung der durch die Kriegs­ge­fahr geschaf­fe­nen hohen vater­län­di­schen Pflichten…”.

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Und am 16. August 1914 ver­öf­fent­licht das könig­li­che-preu­ßi­sche Kriegs­mi­nis­te­ri­um einen Erlass zur Bil­dung einer Jung­wehr. Der Dienst in der Jung­wehr besteht aus mili­tä­ri­schem Exer­zie­ren und Feld­dienst, Tur­nen und soge­nann­ten Instruk­tio­nen, um die Hin­ga­be der Jugend­li­chen “für das Vater­land, für Kai­ser und Reich zu ent­flam­men. Und die Väter erzäh­len von ihren “Groß­ta­ten”, und die Kriegs­nach­rich­ten wer­den ver­le­sen, alles um “auf die Her­zen der Jugend” ein­zu­wir­ken und bei ihr den Zorn gegen den Feind zu entfachen.

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Und auf der Insel Bor­kum erscheint eine ““Kriegs-Zei­tung der Jugend­wehr “Schwarz-weiß-grü­nes Regi­ment” Bor­kum. Bereits in der Aus­ga­be Nr. 2, die im August 1915 erscheint, wird in einem patrio­ti­schem Gedicht der Toten gedacht, die mit Hel­den­mut kämp­fend ihr Blut für das Vater­land gaben.

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Schon am 2. Okto­ber 1914 wird der Erlass auch in Bre­mer­ha­ven umge­setzt. Im Auf­tra­ge des Stadt­rats erlässt der Stadt­syn­di­kus Dr. Wal­ter Deli­us einen Auf­ruf zur Bil­dung der Jung­wehr: “Auch dies­mal ste­hen wir einer Welt von Fein­den gegen­über, auch han­delt es sich um ein Befrei­ungs­krieg, um einen hei­li­gen Kampf zur Wah­rung unse­rer höchs­ten Güter”, lässt Dr. Deli­us die jun­gen Leu­te wis­sen. Dar­um sol­len sie sich wehr­kräf­tig machen, damit sie die Stra­pa­zen für einen sicher und schnei­dig geführ­ten Feld­zug ertra­gen können.

Am 28. Mai 1914 wird dann geübt, in der Nähe von Weh­den tref­fen sie sich, die Jung­kom­pa­nien der Krei­se Lehe und Geest­e­mün­de und der Städ­te Bre­mer­ha­ven und Geestemünde.

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Und gleich­zei­tig mit der Mobil­ma­chung wird an der Unter­we­ser ein Sani­täts­dienst orga­ni­siert. Im Kai­ser­ha­fen erhal­ten drei gro­ße Lloyd­präh­me je 84 Bet­ten und einen ärzt­li­chen Ope­ra­ti­ons­raum. Und auch der Per­so­nen­damp­fer “Glück­auf” wird umge­rüs­tet für Sanitätszwecke.

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Und alle glau­ben, hier an der Weser­mün­dung wird der Feind über­ra­schend zuschla­gen. Und so ord­net in Wre­men ein Oberst vor­sichts­hal­ber an, den Kirch­turm um die Hälf­te zu kür­zen, weil das Deut­sche Reich ja nun auch mit Eng­land im Krie­ge sei und dem Feind die­ses wich­ti­ge See­zei­chen ent­zo­gen wer­den müs­se. Und so fan­gen sie sofort mit den Bau­maß­nah­men an, zwei Tage spä­ter ist der vor­her 50 Meter hohe Turm um die Hälf­te geschrumpft, und das Deut­sche Reich ist vor den Eng­län­dern nun sicher.

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Es gibt Mil­lio­nen von Frei­wil­li­gen, die sich zum Wehr­dienst mel­den, In Bre­mer­ha­ven lau­fen mas­sen­haft Män­ner in die Matro­sen-Artil­le­rie-Kaser­ne in der Kai­ser-Wil­helm-Stra­ße und mel­den sich frei­wil­lig zum Kriegs­dienst. Wer ange­nom­men wird, lernt noch am glei­chen Tag das Sol­da­ten­le­ben ken­nen: Unter­su­chung, Ein­klei­dung, Stu­ben­ein­tei­lung, Bet­ten­bau­en üben und die Spind­ord­nung ler­nen. Und gleich am nächs­ten Tag beginnt der Drill: Die Geweh­re wer­den ver­teilt, und in der Lloyd­hal­le wer­den die Rekru­ten drei Wochen lang an 8,8‑cm-Feldgeschütze aus­ge­bil­det. Dann mar­schie­ren sie von der Matro­sen-Artil­le­rie-Kaser­ne ab und lau­fen die Hafen­stra­ße hin­auf und links in die Bat­te­rie­stra­ße hin­ein um schließ­lich über Wed­de­war­den zur im Weser­schlick auf­ge­schüt­te­ten Fes­tungs­in­sel Fort Brin­k­a­ma­hof II zu gelan­gen. Die Unter­künf­te und Kase­mat­ten sind durch dicke Zie­gel­mau­ern geschützt, und durch eben­falls geschüt­ze Gän­ge errei­chen die Sol­da­ten die vier 28-Zen­ti­me­ter-Dop­pel­ge­schüt­ze, beset­zen sie und bewa­chen die Küs­te auf­merk­sam, und vor der Küs­te kreu­zen deut­sche Kriegs­schif­fe, weil man hier einen bri­ti­schen Flot­ten­an­griff befürch­tet. Der Kom­man­dant hat einen hohen mili­tä­ri­schen Rang, er ist Vize­ad­mi­ral, ein Indiz, für wie bedeu­tend das Kriegs­mi­nis­te­ri­um die­se mili­tä­ri­sche Anla­ge hält.

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Und auch die Luft­schutz­räu­me, die in der Leher Hafen­stra­ße in den Hotels Rüsch und Kai­ser­gar­ten und Licht­bild­thea­ter Alex ein­ge­rich­tet wer­den, kom­men eben­so wei­nig zum Ein­satz, wie die Luft­schutz­räu­me auf der Unter­we­ser­werft in der Werft­stra­ße, im Poli­zei­ge­fäng­nis in der Lan­ge Stra­ße, im Rat­haus und im Amts­ge­richt in der Nordstraße.

Für die Fein­de des Deut­schen Rei­ches ist die Weser­mün­dung wohl kein gutes Inva­si­ons­ge­biet, jeden­falls kom­men kei­ne Schif­fe, und es kom­men auch kei­ne Flug­zeu­ge, und so ver­ge­hen die Tage mit der Aus­bil­dung an den Geschüt­zen. Und dann ist die Aus­bil­dung vor­bei, und es wird ernst, es geht an die Front nach Flan­dern. Zum Bahn­hof wird natür­lich wie­der mit Musik mar­schiert, beglei­tet von der Bevöl­ke­rung, die sich die Abfahrt des mit Paro­len beschrif­te­ten Wag­gons zum Fein­des­land nicht ent­ge­hen las­sen will.

Und so rufen die deut­schen Sol­da­ten im August 1914: “Auf, auf zum Kampf”, und sie kön­nen es kaum erwar­ten, an die Front zu kom­men, und sie zie­hen gegen den Feind “in Ost und West”, zie­hen “vor­wärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war.” Am 5. Sep­tem­ber 1914 steht Gene­ral­oberst von Kluck mit den 174 000 Sol­da­ten sei­ner 1. Armee etwa 30 Kilo­me­ter vor Paris. Ins­ge­samt hat der Kai­ser sie­ben Armeen gegen Frank­reich auf­mar­schie­ren las­sen. Und da ist nie­mand mehr, der die mör­de­rischs­te Schlacht der Welt­ge­schich­te ver­hin­dern will oder ver­hin­dern kann.

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Und wie zu Napo­le­ons Zei­ten stür­men die Sol­da­ten mit Hur­ra-Rufen dem Feind ent­ge­gen – und tref­fen auf die moder­nen Waf­fen des 20. Jahr­hun­derts. Sie wer­den gestoppt von Maschi­nen­ge­weh­ren, die bis zu 600 Kugeln in der Minu­te aus­spu­cken, sie wer­den nie­der­ge­mäht von Feld­ka­no­nen, die in schnel­ler Fol­ge Schrapp­nell-Gra­na­ten abfeu­ern. Und so wird der Vor­marsch schon im Sep­tem­ber 1914 an der Mar­ne gestoppt, und statt der erhoff­ten Gefech­te gibt es Schmutz, Arbeit, Käl­te, Schmerz und schlaf­lo­se Näch­te in Todesangst.

Es gibt Gra­ben- und Stel­lungs­krieg und Grau­sam­kei­ten wie Gift­gas, und Feu­er­über­fäl­le und zwi­schen den leben­den Sol­da­ten lie­gen die toten, die in Lagen über­ein­an­der­ge­schich­tet waren.

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Und im Dezem­ber reg­net es in Flan­dern, es reg­net und reg­net und reg­net tage­lang und unauf­hör­lich. Am 20. Dezem­ber kommt kei­ne Weih­nachts­freu­de auf. Es reg­net, und in den Hügeln um Ypern und im Fluss­tal das Lys läuft das Regen­was­ser in die Schüt­zen­grä­ben, und die Grä­ben kön­nen das gan­ze Was­ser irgend­wann nicht mehr auf­neh­men und lau­fen über, und auch die Gra­nat­trich­ter sind rand­voll. Der Regen durch­nässt auf­ge­bläh­te Pfer­de­ka­da­ver und durch­weicht die Uni­for­men toter Sol­da­ten, die hier nach wochen­lan­gen Kämp­fen ver­we­send auf dem Schlacht­feld liegen.

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Die geschwol­le­nen Füße der Leben­den ste­cken in nas­sen Stie­feln und sind taub. Die Gra­ben­wän­de bre­chen ein, die Schlaf­lö­cher sind feucht und der Matsch ist knie­hoch. Und wer sein Kopf über die Gra­ben­kan­te hebt, den trifft die Kugel eines lau­ern­den Scharf­schüt­zen. Die sind teil­wei­se so nah, dass man ihnen Schimpf­wor­te zuru­fen kann.  Also blei­ben alle in Deckung, kön­nen die Kada­ver nicht sehen aber rie­chen, und um sie her­um stin­ken die eige­nen Exkremente.

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Und dann ist Weih­nach­ten. Am Mor­gen des 24. Dezem­ber 1914 reg­net es nicht mehr in dem knapp 45 Kilo­me­ter lan­gen Front­ab­schnitt in Flan­dern, in dem sich bri­ti­sche und deut­sche Sol­da­ten gegen­über­lie­gen, und es wird kaum noch geschos­sen. Bei­de Sei­ten ver­stän­di­gen sich unter­ein­an­der, dass man die Gefal­le­nen ber­gen möch­te. Und so gehen die Sol­da­ten unbe­hel­ligt ins Nie­mands­land, und sie holen ihre Toten, um sie zu beer­di­gen. Und man spricht mit­ein­an­der und einigt sich auf eine Feu­er­pau­se wäh­rend der Weih­nachts­ta­ge. Auf die Grä­ber der Gefal­le­nen stel­len die Bri­ten Lich­ter auf, Geweh­re mit auf­ge­pflanz­ten Bajo­nett die­nen als Ker­zen­stän­der. Und deut­sche Sol­da­ten stel­len ihre Tan­nen­bäu­me, die man ihnen aus der Hei­mat an die Front schick­te, auf die schüt­zen­de Brüs­tung ihrer Grä­ben und zün­den die Ker­zen an. Und sie sin­gen Weih­nachts­lie­der und über­brin­gen dem bri­ti­schen Geg­ner Geschen­ke: Süßig­kei­ten, Wein und Ziga­ret­ten aus der Heimat.

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Und am 25. Dezem­ber kommt der Frost, und die Son­ne geht über einer weiß glit­zern­den Land­schaft auf. Rau­reif über­zieht die Sta­chel­draht­ver­haue, dün­ner Früh­ne­bel schwebt über dem hart gefro­re­nen Boden. Und im etwa 80 Meter brei­ten Nie­mands­land wird ein gemein­sa­mer Got­tes­dienst gefei­ert, die Deut­schen ste­hen auf der einen Sei­te und die Eng­län­der auf der ande­ren. Und wäh­rend der Fei­er­ta­ge wird Fuß­ball gespielt, Deut­sche gegen Bri­ten. Aber in der letz­ten Dezem­ber­nacht wün­schen sie sich noch ein gutes neu­es Jahr und neh­men dann Abschied von­ein­an­der. Der Krieg geht wei­ter: “Mor­gen kämpfst Du für Dein Land und ich für mei­nes. Viel Glück!” ‚ver­ab­schie­det sich ein Sol­dat der Lon­don Rif­les von sei­nem Gegen­über. Und ein Jeder geht in sei­ne Stel­lung zurück. Doch an vie­len Front­ab­schnit­ten schwei­gen die Geweh­re noch lan­ge, nie­mand will als Ers­ter schießen.

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Die Schüt­zen­grä­ben sind 720 Kilo­me­ter lang, sie begin­nen nörd­lich von Ypern unweit der Nord­see und enden erst an der Schwei­zer Gren­ze. Die West­front ist erstarrt, und auch das rie­si­ge “Paris-Geschütz” oder die “Dicke Ber­tha” oder der “Lan­ger Max” ändern nichts dar­an, dass eine Kom­pa­nie nach der ande­ren im Trom­mel­feu­er ver­nich­tet wird. Bei Ver­dun ver­schie­ßen kai­ser­li­che Kano­nie­re in den ers­ten acht Stun­den zwei Mil­lio­nen Gra­na­ten. Bis heu­te, hun­dert Jah­re danach, zeigt sich die Natur dort als kra­ter­über­zo­ge­ne Mond­land­schaft, nur über­zo­gen mit einem Flaum aus Büschen, Bäu­men und Sträuchern.

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Und an Maas und Som­me ster­ben dop­pelt so vie­le Bri­ten, drei­mal so vie­le Bel­gi­er und vier­mal so vie­le Fran­zo­sen wie im Zwei­ten Welt­krieg. Sie ent­rich­ten in die­sem Krieg einen höhe­ren Blut­zoll als in jedem ande­ren Krieg ihrer Geschich­te und nen­nen ihn des­halb “The Gre­at War“ oder “La Gran­de Guer­re“. Und rund neun Mil­lio­nen Men­schen sehen ihre Hei­mat nicht wie­der, sie ver­lie­ren ihr Leben in die­sem schreck­li­chen Krieg, in dem das Töten auf dem Schlacht­feld erst­mals indus­tri­el­le Aus­ma­ße ange­nom­men hat und der erst am 11. Novem­ber 1918 um 11.00 Uhr been­det sein wird.

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Doch da hat der deut­sche Kai­ser Wil­helm II., der bes­ser Maschi­nen­schlos­ser hät­te wer­den sol­len, schon die Flucht ergrif­fen und sich im hol­län­di­schen Exil nie­der­ge­las­sen und hält dort Hof, bis er end­lich am 9. Novem­ber 1918 abdankt und damit die über 500jährige Herr­schaft der Hohen­zol­lern in Preu­ßen beendet.

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Aber in Frank­reich und Russ­land ver­wüs­ten Gra­ben­kämp­fe und schwe­res Kriegs­ge­rät wei­ter die Land­schaf­ten.  Die Orte der gro­ßen Schlach­ten und des Stel­lungs­kampfs blei­ben für vie­le Jah­re unbe­wohn­ba­re Gebie­te der Apokalypse.

Und in der Heimat?

Für die Men­schen im Nord­wes­ten ist der Krieg zwar rela­tiv weit weg, aber hier bestimmt die Sor­ge um Män­ner, Brü­der und Söh­ne die täg­li­chen Gedan­ken. Der Aus­bruch des Krie­ges trifft Bre­mer­ha­ven beson­ders schwer. Anders­wo kön­nen sich die Betrie­be bald auf die ver­än­der­ten Ver­hält­nis­se umstel­len. In den Nord­see­hä­fen aber ist das nicht mög­lich. Der Krieg legt die gesam­te Fisch­in­dus­trie, den Fisch­han­del und die Hoch­see­fi­sche­rei lahm. Und schon im  August 1914 sind im Fische­rei­ha­fen 403 Per­so­nen arbeits­los. Im Sep­tem­ber 1914 stellt die Rick­mers­werft ihren Betrieb kom­plett ein. Ab 1. Novem­ber 1914 trifft es die Kell­ne­rin­nen, sie dür­fen in den Gast- und Schank­wirt­schaf­ten des Fes­tungs­ge­bie­tes nicht mehr arbei­ten. Spe­di­ti­ons­be­trie­be haben in den still­ge­leg­ten Häfen auch nichts mehr zu tun.

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Bis zum Anfang des Jah­res 1915 kom­men noch Schif­fe unter ame­ri­ka­ni­scher Flag­ge in die Häfen. Dann aber erklärt die eng­li­sche Regie­rung auch Baum­wol­le zur Bann­wa­re, und der kom­plet­te deut­sche See­han­del kommt schlag­ar­tig zum Erlie­gen. Bei Kriegs­aus­bruch sind noch deut­sche Schif­fe auf dem Mee­re, und die Besat­zun­gen stam­men zum gro­ßen Teil aus den Unter­we­ser­or­ten. Vie­le sor­gen sich um ihre Ange­hö­ri­gen, die fern der Hei­mat jah­re­lang fest­ge­hal­ten wer­den Han­dels­un­ter­see­boo­te ver­su­chen die Blo­cka­de zu durch­bre­chen, und der 23. August 1916 ist ein beson­de­rer Freu­den­tag für die Bre­mer­ha­ve­ner: an die­sem Tag läuft das Han­dels­un­ter­see­boot “Deutsch­land” in die Unter­we­ser ein.

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Bei Kriegs­aus­bruch sind noch deut­sche Schif­fe auf dem Mee­re, und die Besat­zun­gen stam­men zum gro­ßen Teil aus den Unter­we­ser­or­ten. Vie­le sor­gen sich um ihre Ange­hö­ri­gen, die fern der Hei­mat jah­re­lang fest­ge­hal­ten werden.

Die “Kron­prin­zes­sin Ceci­lie” und die “Kai­ser Wil­helm II” kön­nen wohl­be­hal­ten die Ver­ei­nig­ten Staa­ten errei­chen, wo sich bereits die “Geor­ge Washing­ton” und die “Kron­prinz Wil­helm” befin­den. Und die für Kaper­fahr­ten zum Hilfs­kreu­zer umge­rüs­te­te “Kai­ser Wil­helm der Gro­ße” liegt in Bre­mer­ha­ven, bis sie nach einem ver­lo­re­nen Gefecht mit einem eng­li­schen Kreu­zer am 26. August 1914 von der eige­nen Besat­zung im Atlan­tik ver­senkt wird.

Kriegspropaganda

Im gan­zen aber erlebt Bre­mer­ha­ven den Krieg nicht anders als ande­re deut­sche Städ­te. An der Hei­mat­front wird gehun­gert, und die Not ist groß. Die drei Unter­we­ser­or­te Bre­mer­ha­ven, Lehe und Geest­e­mün­de rich­ten ein gemein­sa­mes Lebens­mit­tel­amt ein. Die Brot- und Lebens­mit­tel­ver­kaufs­stel­len dür­fen nur noch bis 16.00 Uhr geöff­net haben. Und weil die Ver­sor­gung mit Lebens­mit­teln so schlecht ist, wer­den Bäcker­lä­den geplündert.

Lebensmittelkarte

Und der Krieg, der auch weit­ab von der Front über­all spür­bar ist, geht auch in Bre­mer­ha­ven nicht spur­los an der Zivil­be­völ­ke­rung vor­bei. Wohl sechs Mil­lio­nen Zivi­lis­ten sind auf bei­den Sei­ten durch Bom­ben, Hun­ger, Krank­hei­ten oder Mas­sa­ker umge­kom­men. In Deutsch­land fal­len der schlech­ten Ver­sor­gungs­la­ge mehr Men­schen zum Opfer, als den alli­ier­ten Bom­ben im Zwei­ten Weltkrieg.

1917 werden Kartoffeln rationiert

Kein krieg­füh­ren­des Land trifft Vor­be­rei­tun­gen für einen lan­gen Krieg. Gleich nach Kriegs­be­ginn 1914 erlässt Groß­bri­tan­ni­en gegen Deutsch­land ein Han­dels­em­bar­go und eine Han­dels­blo­cka­de zur See, die erst 1919 wie­der auf­ge­ho­ben wer­den soll. Auch feh­len die Nah­rungs­mit­tel­im­por­te aus Russ­land. Das führt in Deutsch­land zu einer Ver­knap­pung der Lebens­mit­tel, die jetzt ratio­niert und zwangs­be­wirt­schaf­tet und nur noch auf Kar­ten oder Bezugs­schei­ne her­aus­ge­ge­ben wer­den. Wegen der See­blo­cka­de und der feh­len­den Arbeits­kräf­te und Pfer­de in der Land­wirt­schaft gehen auch die Ern­te­er­trä­ge an Brot­ge­trei­de, Kar­tof­feln und But­ter zurück.

Warteschlange in Görlitz

Gehor­te­te und ver­steck­te Lebens­mit­tel wer­den von den Behör­den beschlag­nahmt. Nah­rungs­mit­tel, die die Sol­da­ten ver­brau­chen, fehlt der Zivil­be­völ­ke­rung. Und so hun­gern sie bei­de, Sol­da­ten wie Zivi­lis­ten. Nur wis­sen die Men­schen in der Hei­mat nicht, wie schlecht die Ver­sor­gungs­la­ge an der Front wirk­lich ist. Und man­gels Fut­ter schlach­ten die Land­wir­te schon 1915 ihre ers­ten Tie­re. Es wer­den so vie­le Schwei­ne geschlach­tet, dass das Schwei­ne­fleisch für die Dau­er des Krie­ges knapp bleibt. Haus­schlach­tun­gen müs­sen vor­her geneh­migt wer­den, sonst wird das Fleisch ein­ge­zo­gen und eine Geld­stra­fe fällig.

Hunger

Beson­ders groß ist die Hun­gers­not im “Steck­rü­ben­win­ter” 1916/1917, der uner­war­tet kommt und die phy­si­sche Wider­stands­kraft der Bevöl­ke­rung zer­mürbt. Ein ver­reg­ne­ter Herbst 1916 ver­ur­sach­te eine Kar­tof­fel­fäu­le, die die Ern­te etwa auf die Hälf­te des Vor­jah­res redu­zier­te. Es feh­len rund 95 Mil­lio­nen Zent­ner Kar­tof­feln. Und damit das Deut­sche Reich kei­ne Nah­rungs­mit­tel aus neu­tra­le Staa­ten impor­tie­ren kann, kauft die bri­ti­sche Regie­rung die­se auf. Für die Ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung wer­den jetzt Sup­pen­kü­chen ein­ge­rich­tet und Gerich­te aus Steck­rü­ben ange­bo­ten: Steck­rü­ben­sup­pe, Steck­rü­be­nauf­lauf, Steck­rü­ben­ko­te­letts, Steck­rü­ben­pud­ding, Steck­rü­ben­mar­me­la­de und Steck­rü­ben­brot. Die Steck­rü­be ist für brei­te Krei­se der Bevöl­ke­rung wich­tigs­tes Nah­rungs­mit­tel. Ob es schmeckt ist unwich­tig gewor­den, es geht nur noch ums Überleben.

Seife sparen

Und dann kommt der Win­ter mit einer unbarm­her­zi­gen Käl­te. Man­gels Holz und Koh­le kön­nen vie­le Woh­nun­gen nicht mehr beheizt wer­den. Und die Men­schen haben nicht genü­gend Klei­dung um sich zu wär­men, und so zer­fa­sern sie Brenn­nes­sel, um dar­aus Klei­dung herzustellen.

Und pro Kopf ste­hen nur noch 50 g Sei­fe im Monat zur Ver­fü­gung, die höchs­tens 20 Pro­zent Fett ent­hal­ten darf und Füll­stof­fe wie Ton und Speck­stein ent­hielt. Und wer noch Kar­tof­fel­mehl hat, der backt dar­aus sein Brot. Und wer Kleie hat, der kocht dar­aus sei­nen Kaf­fee. Aber kaum jemand hat über­haupt noch etwas als die Lebens­mit­tel­kar­ten, für die man dann doch nichts bekommt.

Rüstungsindustrie

Aber auch die­se Sei­fe kann man nur noch über Sei­fen­kar­ten bekom­men. Durch die man­gel­haf­te Kör­per­hy­gie­ne neh­men Krank­hei­ten zu. Para­si­ten und Flö­he sind an der Tages­ord­nung. Etwa 800.000 Men­schen ster­ben zwi­schen 1914 und 1918 in Deutsch­land an Hun­ger, Unter­ernäh­rung und Fol­ge­krank­hei­ten wie beson­ders Tuber­ku­lo­se. Beson­ders groß ist die Sterb­lich­keit der Frau­en und der Säug­lin­ge, die nicht genü­gend Milch von der Mut­ter bekommen.

Frauen in der Rüstungsindustrie

Und die lebens­wich­ti­gen Güter wer­den immer knap­per, und so wird im Febru­ar 1916 die But­ter­kar­te ein­ge­führt, und im Mai 1916 folgt die Zucker­kar­te, im Juni 1916 dann die Kar­tof­fel­kar­te und der Beginn der Klei­der­be­wirt­schaf­tung, im August 1916 die Fleischkarte,nachdem zunächst eine Zeit­lang der Fleisch­ver­kauf auf bestimm­te Wochen­ta­ge beschränkt war.

Und so fah­ren die Leu­te zum Hams­tern aufs Land. Wer Wert­ge­gen­stän­de hat, der tauscht sie ein gegen Lebens­mit­tel. Die ärme­ren Men­schen ver­su­chen, Nah­rungs­mit­tel von den Fel­dern zu stehlen.

Schaffnerin in der Straßenbahn

Den zuneh­mend tota­len Krieg bekommt an der Hei­mat­front auch die Wirt­schaft zu spü­ren. Sie wird rigo­ros auf Kriegs­pro­duk­ti­on umge­stellt. Und in Bre­mer­ha­ven und in vie­len ande­ren Städ­ten wer­den immer mehr Frau­en zum Kriegs­ein­satz herangezogen.Sie arbei­ten in der Rüs­tungs­in­dus­trie, als Stra­ßen­bahn­schaff­ne­rin oder als Kran­ken­schwes­ter im Laza­rett­dienst. Zwi­schen 1915 und 1918 wer­den 39 Schaff­ne­rin­nen und 29 wei­te­re Frau­en für sons­ti­ge Hil­fe­leis­tun­gen auf­grund des 1. Welt­krie­ges  bei der Bre­mer­ha­ve­ner Stra­ßen­bahn eingestellt.

Straßenbahnschaffnerin in Bremerhaven

Da Strom gespart wer­den muss, wird der Wagen­takt stark redu­ziert und vie­le Hal­te­stel­len nicht mehr ange­fah­ren. Die Linie 5 ver­kehrt nicht mehr und auch die Stre­cken zur Geest­e­fäh­re und zum Klein­bahn­hof Wuls­dorf-West wer­den gestri­chen. Eben­so wird der Stra­ßen­bahn­be­trieb in den Hafen­ge­bie­ten ein­ge­stellt. Und immer wie­der rufen die Behör­den auch die pri­va­ten Haus­hal­te dazu auf, noch mehr Strom zu sparen.

Reservelazarett

Für die Ver­wun­de­ten und Ver­stüm­mel­ten ent­ste­hen über­all im Deut­schen Reich in leer­ge­räum­ten Schu­len, Fabrik­hal­len und Sälen Reser­ve-Laza­ret­te, in denen leicht ver­wun­de­te Sol­da­ten für einen erneu­ten Front­ein­satz gesund gepflegt wer­den. Und die Zahl der Kriegs­ver­letz­ten wird immer grö­ßer, und die Laza­ret­te sind über­füllt. Und trotz­dem schei­nen sie bes­ser dran zu sein als die vie­len Toten, die im Kugel­ha­gel oder durch Gift­gas oder Gra­na­ten ihr Leben ver­lie­ren und die Hei­mat nie wie­der sehen.

Lazarettzug

Die Ver­wun­de­ten wer­den nun mit einem Laza­rett­zug in die Hei­mat trans­por­tiert, um sie dort in einem Kran­ken­haus gesund zu pfle­gen. In Bre­mer­ha­ven befin­det sich das 1882 eröff­ne­te Kran­ken­haus direkt gegen­über der 1910 erbau­ten Pestalozzischule.

Lazarettwagen

Die Kriegs­kos­ten sind enorm – Finanz­mit­tel in unvor­stell­ba­rer Höhe müs­sen auf­ge­bracht wer­den.  Die Bevöl­ke­rung wird auf­ge­ru­fen, Reichs­an­lei­hen zu zeich­nen, die nach dem Sieg mit Zin­sen zurück­be­zahlt wer­den. Bis zum Ende des Jah­res 1918 hat das Reich 150 Mil­li­ar­den Reichs­mark Schul­den ange­häuft – eine Ver­schul­dung, die drei­ßig Mal höher als vor Kriegs­be­ginn ist.

Christuskirche

Und an der Hei­mat­front spen­den die Patrio­ten Kup­fer und Mes­sing, damit man dar­aus Kano­nen machen kann. Sogar Kir­chen­glo­cken und kup­fer­ne Turm- und Kir­chen­dä­cher wer­den zum Ein­schmel­zen demon­tiert. Gast­wirt­schaf­ten wer­den auf­ge­for­dert, zin­ner­ne Bier­krü­ge samt zin­ner­ne Deckel abzu­lie­fern. Und für die Devi­sen­be­schaf­fung gibt der kai­ser­treue Deut­sche sei­ne Gold­mün­zen und Schmuck­sa­chen her.

Plakat für die Frauenhaarsammlung

Die Frau­en wer­den auf­ge­ru­fen, ihre Haa­re zu spen­den als Ersatz für kaum noch erhält­li­ches Kamel­haar für die deut­sche Kriegs­in­dus­trie. Treib­rie­men, Filz­plat­ten und Dich­tun­gen wer­den dar­aus her­ge­stellt. Und die Frau­en spen­den wäh­rend des Krie­ges vol­ler Eifer meh­re­re hun­dert Ton­nen Haa­re. Beson­ders flei­ßig sam­meln über­all die Schul­mäd­chen mit patrio­ti­schem Eifer. Und um zu ver­hin­dern, dass sich die Frau­en und Mäd­chen die Haa­re abschnei­den, neh­men die Sam­mel­stel­len des Roten Kreu­zes nur noch aus­ge­bürs­te­te Haa­re entgegen.

Die Bevöl­ke­rung wird auf­ge­ru­fen, Edel­me­tall ein­zu­tau­schen: “Gold gab ich zur Wehr, Eisen nahm ich zur Ehr.” Die Gör­lit­zer las­sen gegen eine Geld­spen­de für Kriegs­wai­sen einen Nagel in eine Holz­fi­gur schla­gen, bis die­se schließ­lich wie in eine metal­le­ne Rüs­tung gehüllt aus­sieht. Und in Bre­men zim­mern die Spen­der ihren Nagel in einen höl­zer­nen Roland, bis dar­aus ein eiser­ner gewor­den ist. Die Bre­mer­ha­ve­ner trei­ben ihre Nägel in ein Wap­pen, das vor der Gro­ßen Kir­che steht.

Nagelwappen

Das Kriegse­lend und die aus­weg­lo­se Ver­sor­gungs­la­ge bringt die Bevöl­ke­rung über­all auf die Bar­ri­ka­den. Am 29. Okto­ber 1918 meu­tern in Wil­helms­ha­ven die Matro­sen. In Kiel tre­ten Matro­sen und Werft­ar­bei­ter in den offe­nen Auf­stand und schließ­lich springt der revo­lu­tio­nä­re Fun­ke auch in die ande­ren Hafen­städ­te des Rei­ches über. Rund zwei Wochen spä­ter ist der Krieg zu Ende und in Ber­lin wird die Repu­blik ausgerufen.

Waffenstillstand

Wil­helm II. aber, der sich immer noch als Kai­ser von Got­tes Gna­den betrach­tet,   nimmt Asyl im Haus Doorn in der Pro­vinz Utrecht in den Nie­der­lan­den, hält Hof und lässt sich wei­ter­hin mit “Sei­ne Majes­tät” anspre­chen. Und als die Wehr­macht 1940 Frank­reich, Bel­gi­en und die Nie­der­lan­de erobert, schickt Wil­helm II. ein Glück­wunsch­te­le­gramm an Adolf Hit­ler. Wil­helm stirbt am 4. Juni 1941 im Exil im Alter von 82 Jah­ren an einer Lungenembolie.

Kriegerdenkmal Wulsdorf

Und  die Kriegs­be­geis­te­rung, mit der das deut­sche Volk in den Krieg gezo­gen ist, ist längst der Ernüch­te­rung, Ent­täu­schung, Ver­zweif­lung und Rat­lo­sig­keit gewi­chen. Zurück­ge­blie­ben sind Schmerz und Trau­er um den gefal­le­nen Sohn, um den Vater, der jetzt für sei­ne Kin­der nicht mehr da ist, um den Bru­der, den man nie­mals wie­der­se­hen wird oder um den Freund, mit dem man sein gan­zes Leben ver­brin­gen woll­te. Sie alle kom­men nie mehr wie­der, auch nicht die 2.488 gefal­le­nen Män­ner aus den vier Unter­we­ser­or­ten, die als “Kriegs­ster­be­fäl­le bei den Stan­des­äm­tern beur­kun­det” sind. Und wer heim­keh­ren darf ist ver­wun­det, ver­stüm­melt und psy­chisch schwer krank.

Und in der Hei­mat haben Man­gel­wirt­schaft, Unter­ernäh­rung und Aus­zeh­rung Gevat­ter Tod bedient.

Kriegerdenkmal der Matrosen-Artillerie

Und da bleibt eine gro­ße Lee­re und die Gemein­den ver­su­chen den kol­lek­ti­ven Schmerz zu ver­ar­bei­ten. So gehen sie dabei, die Insti­tu­tio­nen und die Ver­ei­ne und die Kame­rad­schaf­ten und stel­len zum Geden­ken an die Gefal­le­nen Denk­mä­ler und Gedenk­stei­ne auf, auch als Mahn­ma­le an einen grau­sa­men Krieg und dass sich die­se Höl­le nicht wie­der­ho­len soll.

Und auf dem Fried­hof an der Weser­stra­ße trägt eine von alten Bäu­men umsäum­te Klin­ker­py­ra­mi­de die Namen von 680 gefal­le­nen Söh­nen, Vätern, Brü­dern und Freun­den der dama­li­gen Stadt Bre­mer­ha­ven und 81 schlich­te Sol­da­ten­grä­ber umrah­men das Ehrenmal.

Auf dem Leher Fried­hof III lie­gen unter alten Bäu­men 154 Grä­ber von Sol­da­ten des Ers­ten Welt­krie­ges, und auch auf dem Geest­e­mün­der Fried­hof ruhen 18 Sol­da­ten in ihren Gräbern.

Und die Frie­dens­schlüs­se von 1919/1920 kön­nen den Kon­ti­nent doch nicht dau­er­haft befrie­den. Die Sie­ger neh­men an den Ver­lie­rern bit­te­re Rache und zwin­gen ihnen demü­ti­gen­de Bedin­gun­gen auf.

Versailler Vertrag

Sämt­li­che Kolo­nien sowie etwa 13 Pro­zent des vor­he­ri­gen Gebie­tes müs­sen abge­tre­ten wer­den. Dazu zäh­len Elsass-Loth­rin­gen (an Frank­reich), West­preu­ßen, die Pro­vinz Posen und Tei­le Schle­si­ens (an Polen), die Krei­se Eupen und Mal­me­dy (an Bel­gi­en) sowie das Saar­ge­biet, Dan­zig und das Memel­land (unter Ver­wal­tung des Völ­ker­bun­des).

Dann wird im Ver­sailler Ver­trag fest­ge­legt, dass Deutsch­land 20 Mil­li­ar­den Gold­mark bis April 1921 zu zah­len hat und außer­dem den größ­ten Teil sei­ner Han­dels­flot­te abzu­ge­ben hat. Der Ver­lust der Han­dels­flot­te führt zu einer erheb­li­chen Beein­träch­ti­gung der Export­ge­schäf­te. Erst im Okto­ber 2010 wird die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land mehr als 90 Jah­re nach Kriegs­en­de die letz­te Schul­den­ra­te bezahlt haben.

Und dann kom­men die Natio­nal­so­zia­lis­ten an die Macht und so schließt  trotz allem Elends, den Sol­da­ten und Zivil­be­völ­ke­rung zu erlei­den haben, die Höl­le ihre Tore nur für eine kur­ze Zeit. Seit Beginn des Ers­ten Welt­krie­ges ver­ge­hen mal gra­de 25 Jah­re bis zum Aus­bruch des Zwei­ten Welt­krie­ges, der eine wei­te­re Gene­ra­ti­on jun­ger Men­schen verschlingt.

RingelnatzDer Krieg zeigt sei­ne Kral­len”, schreibt Rin­gel­natz in sei­nen Moment­auf­nah­men eines “Krie­ges in der Etap­pe”. Und Rin­gel­natz muss sich dem tat­säch­li­chen Hor­ror auf dem “Tanz­platz des Todes” stellen.

 

 

 

Im Westen nichts NeuesErich Maria Remar­que beschreibt in sei­nem welt­be­kannt gewor­de­nen Roman “Im Wes­ten nichts Neu­es”,  wie sich sei­ne vom Tode gehetz­ten Roman­fi­gu­ren selbst zu gefühl­lo­sen Wesen ver­wan­deln, Sol­da­ten, aus denen gefähr­li­che Tie­re gewor­den sind, nur noch am Über­le­ben inter­es­siert. Er beschreibt nicht nur das Leben und Über­le­ben an der Front. Auch die unvor­stell­ba­ren Gescheh­nis­se in der Hei­mat, auf den Ver­bands­plät­zen und im Laza­rett, die doch täg­lich Wirk­lich­keit wer­den, las­sen dem Leser das Grau­en nach­emp­fin­den. Remar­ques Figu­ren haben kei­ne Zukunft. Sie kämp­fen den gna­den­lo­sen Über­le­bens­kampf der Gegen­wart und erin­nern sich manch­mal erschöpft an schö­ne­re Stun­den, die weit zurück in der Ver­gan­gen­heit liegen.

Quel­len:
Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bildung
Staats­ar­chiv Bremen
150jahre.drk.de
preussenchronik.de
aera-magazin.de
Süddeutsche.de
radio bre­men
msn wis­sen
Mei­ne Feder werd’ zur Lanze!
GEO-Epo­che Nr. 65: 1914 – Das Schick­sals­jahr der Deut­schen, diver­se Seiten
SPIEGEL vom 30.12.2013, Sei­te 34, 36
NZ vom 5.7.2014, Sei­te 4
NZ vom 19.8.2014, Sei­te 5
NZ vom 21.08.2014, Sei­te 6, 18
DIE WELT vom 05.08.2014, Sei­te 26
Georg Bes­sel: Geschich­te Bre­mer­ha­vens, Sei­ten 574 bis 576
Har­ry Gab­cke: Bre­mer­ha­ven in zwei Jahr­hun­der­ten 1919 — 1947, Sei­te 10
Har­ry Gab­cke: Bre­mer­ha­ven in zwei Jahr­hun­der­ten 1827 – 1918,
Sei­ten 198 bis 201
Buchard Schee­per: Die jün­ge­re Geschich­te der Stadt Bremerhaven,
Sei­ten 100 bis 116
Peter Raap:
Nie­der­deut­sches Hei­mat­blatt Nr. 727 vom Juli 2010, Sei­ten 2 und 3

Oda Kelch: Erinnerungen an meine Georgstraße

Erin­ne­run­gen an mei­ne Georg­stra­ße” habe ich die­sem Arti­kel als Über­schrift gege­ben. Dazu mei­nen ganz lie­ben Dank an Oda Kelch, die mir ihre auf­ge­schrie­be­nen Kind­heits­er­in­ne­run­gen an “ihre gelieb­te Georg­stra­ße” zur Ver­fü­gung gestellt hat mit der Erlaub­nis, die­sen Wis­sens­schatz für die Leser des “Deich­SPIE­GEL” zu veröffentlichen. 

Erinnerungen an meine Georgstraße

Seit 1847 gibt es Geest­e­mün­de, vom dama­li­gen König Georg V ( Sohn von König Ernst August, vor­mals Her­zog von Cum­ber­land — Sohn Georg III von Eng­land — und sei­ner Gemah­lin Frie­de­ri­ke, Schwes­ter der belieb­ten Köni­gin Lui­se von Preu­ßen ) gegrün­det. Seit 1862 die Eisen­bahn­ver­bin­dung, die “Geest­e­bahn”, nach Bremen.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Und einer von den dort beschäf­tig­ten Loko­mo­tiv­füh­rern war mein Urgroß­va­ter. Er bewohn­te mit sei­ner Fami­lie eine Dienst­woh­nung nahe dem Bahn­hofs­ge­bäu­de, Ecke Ell­horn­stra­ße und war ein­ge­fleisch­ter “Wel­fe”, wie sich die dama­li­gen “Fans” des han­no­ver­schen Königs­hau­ses nannten.

1864 wur­de mein Groß­va­ter Bern­hard Knob­lauch gebo­ren. Zwei Jah­re spä­ter dann die natio­na­le Kata­stro­phe: König­grätz. Das Water­loo für alle “Wel­fen”. Aber spä­ter nahm mein Urgroß­va­ter die preu­ßi­sche Pen­si­on ohne Mur­ren hin. Mit den neu­en Her­ren wur­de vie­les anders. Der Bahn­hof wur­de um etli­ches erwei­tert, und dafür muss­ten die Dienst­woh­nun­gen abge­ris­sen und die Bewoh­ner umge­sie­delt wer­den. Knob­lauchs zogen um in die dama­li­ge Markt­stra­ße, heu­te Ver­de­ner Stra­ße, in Altgeestemünde.

Ihre Nach­barn waren Harz­mey­ers, deren Fami­li­en­ober­haupt der Schuh­ma­cher Her­mann war. Wie vie­le Kin­der jede Fami­lie hat­te und um wel­che Zeit sich das alles abspiel­te, weiß ich nicht. Von Erzäh­lun­gen mei­ner Mut­ter, Groß­mutter, ‑vater, ‑tan­te ist mir ledig­lich bekannt, dass mein Groß­va­ter und der Sohn Her­mann Harz­mey­er enge Freun­de wur­den. Jung-Harz­mey­er lern­te das Schuh­ma­cher-Hand­werk, mein Groß­va­ter das des Uhr­ma­chers. Nach der Leh­re ging er als Gehil­fe für eini­ge Zeit nach Sangershausen.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Als er zurück­kam und sei­nen Freund und Nach­barn begrü­ßen woll­te, stand des­sen Schwes­ter  Hele­ne  im Raum. Nach sei­nem Weg­gang sag­te sie ent­setzt zu ihrer Mut­ter: ” Nee doch, dis­sen swat­ten Dübel!” — Kur­ze Zeit spä­ter waren sie ver­lobt. Das alles spiel­te sich in Geest­e­mün­de ab. Süd­öst­lich davon lag — und liegt heu­te noch — die Gemar­kung Geest­en­dorf, durch die sich die Bre­mer Land­stra­ße hin­zog. Sie war in “Georg­stra­ße” umbe­nannt wor­den ( nach dem letz­ten han­no­ver­schen König ) und soll­te nun bebaut wer­den. Mein Groß­va­ter und sein — mitt­ler­wei­le — Schwa­ger grif­fen zu.  Auch hier­von weiß ich nicht die Zeit. Es muss in den aus­ge­hen­den 1980er Jah­ren gewe­sen sein.

Mein Opa hat­te im Haus Georg­stra­ße 43 einen Laden, in dem er in einem Hin­ter­zim­mer sei­ne Werk­statt und die Fami­lie ihre Wohn­räu­me ein­schließ­lich Küche hat­te. Irgend­wann gab es auch Gas­be­leuch­tung. Die dazu­ge­hö­ri­gen Roh­re waren noch 1944 zu sehen. Da mein Groß­va­ter immer die Nase vorn hat­te, gab es aber bald Elek­tri­zi­tät. Haus­be­sit­zer war sei­ner­zeit noch ein Tier­arzt. Um das Vieh auf dem Hof anzu­bin­den, hat­te er Rin­ge in das Neben­haus Nr. 45 schla­gen las­sen, die von spä­te­ren Gene­ra­tio­nen Mäd­chen zum Seil­sprin­gen benutzt wurden.

Wie kam man auf den Hof, der doch rings­um von Gebäu­den umge­ben war? Wenn man sich das Haus auf alten Fotos ansieht, erkennt man ganz links ein Bar­bier­ge­schäft. Das gab es ursprüng­lich nicht, denn da war die Ein­fahrt zum Hof. Als man die nicht mehr brauch­te, hat man davon einen Laden gemacht.

Wann mein Opa das Haus kau­fen konn­te, weiß ich nicht. Mei­ne Mut­ter und ihre Schwes­ter haben jeden­falls ihre ers­ten Lebens­jah­re noch im Laden ver­bracht. “Von Sporn un Worn kommt Heb­ben von her” — und die Ver­mie­tung der Woh­nun­gen brach­te schon aller­lei ein. Da konn­te man sich selbst einschränken.

Irgend­wann wur­de das Hin­ter­haus gebaut. Zunächst als Wohn­haus, dann als Dru­cke­rei. Bis nach dem Krieg war die “Weser­dru­cke­rei” Inha­ber. Frü­he­re Inha­ber waren u.a. Nieb­ling & Feld­ba­cher, die im Vor­der­haus den klei­nen Laden links vom Ein­gang, also zwi­schen dem gro­ßen Laden und dem Bar­bier hat­ten. Wie lan­ge, das weiß ich nicht. Mei­ne Erin­ne­rung setzt erst ein, als Herr und Frau Birn­baum dort ein Musi­ka­li­en­ge­schäft hat­ten. Das Inter­es­san­tes­te an ihnen war, dass sie nicht in einem gewöhn­li­chen Haus wohn­ten, son­dern hin­ten in Lehe in einem Wochen­end­haus, und bei einer Über­schwem­mung ihre Hüh­ner im Wohn­haus hat­ten. Ich habe es mir ange­se­hen als mein Vater mit mir dahin fuhr.

Anfang des Krie­ges zogen sie aus. Thams & Garfs hat­ten Inter­es­se an unse­rem gro­ßen Laden. Da nahm mein Vater den klei­nen und über­ließ ihnen den ande­ren. Aber ich grei­fe schon vor.

Irgen­wann zogen mei­ne Groß­el­tern in den zwei­ten Stock des Hau­ses. Auf dem Foto steht mei­ne Groß­mutter mit mei­ner Mut­ter (gebo­ren 1896) und mei­ner Tan­te (gebo­ren 1898) auf dem Bal­kon. Aus den Fens­tern gucken die übri­gen Haus­be­woh­ner, denn es war ja vor­her ange­kün­digt wor­den, dass ein Foto­graf kommt. Unten im gro­ßen Haus­ein­gang steht mein Groß­va­ter mit Ange­stell­ten oder Passanten.

Das Haus hat­te zwei Eta­gen mit ins­ge­samt vier Woh­nun­gen. Ganz oben war ein gro­ßer Boden mit etli­chen Boden­kam­mern und einer Wasch­kü­che, die mein Groß­va­ter nach den moderns­ten Gesichts­punk­ten hat­te ein­rich­ten las­sen. Der übri­ge Boden­raum war mit Lei­nen bespannt und dien­te zum Trock­nen. Aller­dings waren auch Zieh­lei­nen von den Bal­kons zum Kon­tor­haus der Dru­cke­rei gespannt zum Trock­nen bei schö­nem Wet­ter. Noch heu­te habe ich das Quiet­schen und das Geräusch der ros­ti­gen Sei­le beim Hin- und Her­zie­hen in den Ohren.

Außer­dem lagen auf dem Boden die Fah­nen. Mei­ne ers­te Erin­ne­rung waren die schwarz-weiß-rote, gro­ße, lan­ge, schwe­re. Spä­ter irgend­wann kam eine klei­ne Haken­kreuz­fah­ne dazu. Und eines Tages gab es nur noch sol­che, aber auch gro­ße. Geflaggt wur­de viel. War auch kein Pro­blem. Nur waren die Mas­ten so schwer, dass nur Män­ner sie bewäl­ti­gen konn­ten. Und für uns Kin­der jedes Mal span­nend. Mein Groß­va­ter und mein Vater haben aber sicher­lich mit den Zäh­nen wegen der Ände­rung zum Haken­kreuz geknirscht. Gesagt haben sie in Gegen­wart von uns Kin­dern nichts — wie eh und je.

Und dann war da oben noch eine Kam­mer. Wir waren ja in Preu­ßen (oder war das woan­ders auch so?). Ob sie jemals dazu gedient hat, Ein­quar­tie­rung auf­zu­neh­men, weiß ich nicht. Ich habe nur in Erin­ne­rung, dass wir ein­mal wel­che hat­ten, ob Sol­da­ten oder “braun”. Ansons­ten spiel­ten wir Kin­der gern dar­in, weil da alte aus­ran­gier­te Möbel stan­den, die so herr­lich rochen, knarr­ten, quietsch­ten und das Fens­ter so schön nied­rig war, und man so weit gucken konnte.

Am schöns­ten war ein alter Bar­bier­stuhl aus dem Nach­lass mei­nes Groß­va­ters Andre­as Kelch. Viel anfan­gen konn­ten wir nicht mit dem Möbel­stück, aber er dreh­te sich wie unser Kla­vier­ho­cker. Dass man sol­che Behau­sung anbot, ver­ste­he ich heu­te nicht. Es fehl­te näm­lich die heu­te selbst­ver­ständ­li­che sani­tä­re Ein­rich­tung. Statt des­sen: Nacht­pott und Waschschüssel.

Der sani­tä­re Stan­dard, den wir heu­te haben, fehl­te sowie­so im Haus. Flie­ßend Kalt­was­ser gab es zwar in jeder Woh­nung. Aber die Klo­setts waren auf dem Bal­kon, bzw. ein Pis­soir für die Läden auf dem Hof. Mei­ne Groß­el­tern hat­ten in ihrer Woh­nung aus einem Zim­mer ein Bade­zim­mer machen las­sen. Das war wohl auch spä­ter sehr nötig, denn mein Groß­va­ter war durch einen Schlag­an­fall halb­sei­tig gelähmt.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Doch erst mal wie­der zurück zur Anfangs­zeit. Bern­hard Knob­lauch hat­te das Haus Georg­stra­ße 43, sein Freund und Schwa­ger — viel­leicht auch noch sein Schwie­ger­va­ter — das Haus Georg­stra­ße 41. Auf jeden Fall aber sei­ne Schwie­ger­mut­ter, Oma Harz­mey­er Tabe­ta, geb. Mahl­stedt aus Gan­der­ke­see, mei­ne Urgroß­mutter. Die hat­te die Hosen an! Ihre Toch­ter, mei­ne Groß­mutter, eben­so. Das war wohl so üblich. Sie waren die See­le vom Gan­zen. Wie hät­ten die Hand­wer­ker es sonst schaf­fen kön­nen? Mein Opa Knob­lauch brach­te zum Bei­spiel häu­fig bei ihm gekauf­te oder repa­rier­te gro­ße Uhren per­sön­lich zu den Kun­den auf das Land, denn er hat­te eine gro­ße Land­kund­schaft. Daher war es auch selbst­ver­ständ­lich, dass er platt schnack­te — und Frau und Toch­ter, die im Laden hal­fen, ebenso.

Das alles ohne eige­nes Fahr­zeug. Er war auf öffent­li­che Trans­port­mit­tel ange­wie­sen und mach­te vie­le Stre­cken zu Fuß. Es gab aber auch Lus­ti­ges: eines Tages kam eine Frau in den Laden und ließ sich ziem­lich kost­spie­li­gen Schmuck vor­le­gen. Als mei­ne Mut­ter dann vor­sorg­lich auf den hohen Preis hin­wies, erwi­der­te sie see­len­ru­hig: “Macht nix, min Mann fohrt dor ja för.”

Heu­te, 2014, wird in den Medi­en immer wie­der auf die ver­gan­ge­nen 100 Jah­re hin­ge­wie­sen und man könn­te glau­ben, sie erzäh­len von der Stein­zeit. Mir dage­gen sind die ver­gan­ge­nen 100 Jah­re wie ges­tern, obwohl ich sie nur zur Hälf­te erlebt habe. Das habe ich mei­ner Mut­ter, mei­nen Groß­el­tern und Tan­ten zu ver­dan­ken. Die konn­ten viel erzäh­len. Irgend­wo in Geest­e­mün­de, in der Georg­stra­ße und “umzu” wohn­ten sie alle, kann­ten sich alle, waren zusam­men zur Schu­le oder in die Tanz­stun­de gegan­gen, hat­ten bei Fräu­lein Block in der Gra­ben­stra­ße (heu­te Ram­sau­er­stra­ße) Weiß­nä­hen gelernt, oder “die fei­ne Küche” bei Lehr­ke, oder hat­ten Wan­de­run­gen mit dem Wan­der­vo­gel gemacht, waren in einem Turn­ver­ein (GTV oder GSC) oder Gesangs­ver­ein oder zog mit dem Wan­der­vo­gel durch die Lande.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Es gab noch kei­ne Teen­ager, aber dafür Back­fi­sche. Und die gin­gen auf der Georg­stra­ße bum­meln (Die Stei­ge­rung war “bür­gern”). Mit 14 Jahr und 7 Wochen ist der Back­fisch aus­ge­kro­chen. Dafür gab es extra Kett­chen mit einem klei­nen Fisch. Zu mei­ner Zeit war das nur noch Erin­ne­rung mei­ner Mut­ter und Tan­ten. Die­se 14/15jährigen trip­pel­ten dann mit ihren Stie­fel­chen und Hin- und Her­bü­del (Pom­pa­dur) die Georg­stra­ße auf und ab, schiel­ten ver­stoh­len zur Sei­te, wo die Pen­nä­ler eben­falls auf und ab schlen­der­ten und ver­mut­lich auch ver­stoh­len zu den jun­gen Damen schiel­ten. Jeden­falls zogen sie hin und wie­der ihre damals übli­chen Schü­ler­müt­zen zum Gruß. Sehr förm­lich! Auf der weib­li­chen Sei­te wur­de die Gegrüß­te sicher­lich rot und ver­le­gen — ver­gaß aber nicht, die Sache ins Notiz­buch einzutragen.

War die Cho­se vor­bei, wur­de unter den Freun­din­nen aus­ge­zählt, wer die meis­ten Grü­ße bekom­men hat­te. Aber nicht nur die Anzahl zähl­te, son­dern auch — und vor allen Din­gen — die Far­be der Müt­zen. Ein­zel­hei­ten weiß ich nicht mehr, aber soviel, dass die wei­ßen den höchs­ten Wert hat­ten. Das waren die Pri­ma­ner (spä­ter Ober­pri­ma­ner). Aber auch die­se Epi­so­den habe ich nicht mehr erlebt.

Mei­ne Erin­ne­rung von der Georg­stra­ße 43, in der ich auf­ge­wach­sen bin, setzt eigent­lich ein mit dem Aus­gu­cken vom Erker­fens­ter mei­ner Groß­el­tern. Das war unge­heu­er viel. Anfang der 1930er Jah­re. Da fuh­ren noch Pfer­de­fuhr­wer­ke durch die Stadt, Rind­vieh wur­de — ich weiß nicht, woher — durch die Stra­ße zum Schlacht­hof getrie­ben. Ein­mal woll­te eine Kuh nicht mit­ma­chen son­dern zog unse­ren Haus­ein­gang und den dahin­ter lie­gen­den Hof und Gar­ten vor. Mein Vater, der den Umgang mit Vie­chern kann­te, brach­te sie dann wie­der zur Her­de zurück.

Dann war da auch ein Stein­koh­len­wa­gen, mit dem die Häu­ser von der Stra­ße her belie­fert wur­den. Und Frau Sche­we an der Ecke Georg- und Ram­sau­er­stra­ße, unse­rem Erker direkt gegen­über, die vom ihrem Kar­ren aus per Liter­maß Gra­nat verkaufte.

Und der Later­nen­mann. Vor unse­rem Haus stand eine alte Later­ne. Wie­so, weiß ich nicht, denn es gab doch nor­ma­ler Wei­se Stra­ßen­be­leuch­tung. Und zu eben die­ser Later­ne kam hin und wie­der ein Later­nen­mann mit einer lan­gen Stan­ge. Was er damit oben an der Later­ne mach­te, weiß ich nicht.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Eben­so schön anzu­se­hen waren die Trau­er­zü­ge. Ach, waren die schön! Eine Kut­sche wie für einen König, aber nicht gol­den son­dern schwarz, mit Kut­scher, und viel Blu­men und Musik­ka­pel­le, die den Trau­er­marsch spiel­te. Opa sang dann immer: “Ach, nun trinkt er kei­nen Rots­pon mehr.” Meis­tens gin­gen vie­le Men­schen mit. Dann schau­kel­te die Men­ge im ein­tö­ni­gen Rhyth­mus immer von links nach rechts und wie­der zurück.

Aber auch moder­ne Fahr­zeu­ge gab es zu sehen: Autos! Wir hat­ten Spaß dar­an, uns die KFZ-Num­mern anzu­se­hen. IA war Ber­lin , die ande­ren weiß ich nicht. Ich glau­be, wir, das heißt unse­re Umge­bung, gehör­ten zu Han­no­ver und war IIIA. Inter­es­san­ter war für mich damals, dass die Wagen sich so ver­än­der­ten. Zum Bei­spiel die Schein­wer­fer oder die Fens­ter oder die Hupen. Wir setz­ten unse­ren Ehr­geiz dar­ein, die Autos mit ihrem Namen zu ken­nen: Opel, Adler, Ford — aber damit war mein Bedarf dann auch gedeckt. Wir hat­ten kein Auto, mein Vater spar­te auf einen VW.

Spä­ter kamen dann die Blau­en Jungs. Die mar­schier­ten mit Gesang durch die Stra­ße, mal in blau, mal in Trai­nings­zeug. Irgend­wo im Süden hat­ten sie einen Trai­nings­platz — und im Nor­den war ihre Kaser­ne. Und hin und wie­der war es auch braun. Ich hat­te immer mei­nen Spaß an den Dane­ben­lau­fen­den, die dann immer “links, links, links zwo drei vier” schrien um eini­ger­ma­ßen Gleich­schritt in die Trup­pe zu kriegen.

Noch konn­te man quer über die Stra­ße zur ande­ren Sei­te lau­fen. Damit war irgend­wann Schluss. Ein Schu­po stand in der Mit­te der Georg­stra­ße, da wo sich die Bucht- und die Ram­sau­er­stra­ße tra­fen, und regel­te den Ver­kehr. Wir Kin­der spiel­ten mit Oma und Opa ein Brett­spiel, das uns die Ver­kehrs­re­geln beibrachte.

Nur frei­tags­nachts war von der neu­en Ord­nung nichts mehr zu spü­ren. Dann beka­men die Arbei­ter von See­becks Werft ihren Lohn. Wer nicht schon am Tor von sei­ner Frau abge­fan­gen wor­den war und mit dem Zug nach Haus fah­ren muss­te, kam auf dem Weg zum Bahn­hof durch die Ram­sau­er­stra­ße, in der es eine Knei­pe gab. Von unse­rem Kin­der­zim­mer­fens­ter aus konn­te man direkt in die Ram­sau­er­stra­ße sehen. Wenn wir in unse­ren Bet­ten lagen, hör­ten wir dann die Grö­le­rei und spä­ter den Krach beim Ver­las­sen des Lokals.

Eines Nachts war es anders, es war kein Frei­tag und kein Sau­ferei­ge­grö­le, es war ein ande­res Gegrö­le und viel, viel Schei­ben­ge­klir­re. Es war, als leg­te sich ein schwe­res Brett über uns. Wir Kin­der ver­such­ten, aus dem Fens­ter zu sehen, wur­den aber von den Eltern zurück­ge­hal­ten. An irgend­wel­che Gesprä­che mit ihnen kann ich mich nicht erin­nern. Es war der 9. Novem­ber 1937. Auch an Rauch­ge­ruch kann ich mich nicht erinnern.

Am nächs­ten Tag fehl­te Hen­ni Horn­berg in der Klas­se. Hen­ni war Jüdin und saß in der Bank­rei­he neben mir auf der ande­ren Sei­te. Ich wuss­te, dass ich nicht mit ihr und sie nicht mit mir spre­chen durf­te. Hat­te es aber den­noch getan. Wir hat­ten eine Leh­re­rin, Fräu­lein Jun­ge, die so war, wie ein Mensch sein muss. Und eine Leh­re­rin ist für alle da. Und so ach­te­te sie immer dar­auf, dass Hen­ni eine Schü­le­rin wie alle ande­ren war. Ob Fräu­lein Jun­ge nicht merk­te, dass ich mit Hen­ni sprach, glau­be ich nicht, denn sie bemerk­te in mei­nem Zeug­nis: “Oda muss bedeu­tend ruhi­ger wer­den.” Aber zu mei­ner Quas­se­lei mit Hen­ni sag­te sie nie was.

Als Hen­ni dann wie­der­kam, frag­te ich sie sofort wegen der Nacht aus, und sie erzähl­te mir, dass man bei ihnen die Schei­ben ein­ge­schla­gen und ihren Vater mit­ge­nom­men hät­te. Ihrer klei­nen Schwes­ter haben sie dann gesagt, dass der Papa bald wie­der­kom­men und Bon­bons mit­brin­gen wür­de. Das war das Letz­te, was ich von Hen­ni weiß. Spä­ter, als ich mal einen Tag nicht in der Klas­se war, sind — so wur­de mir spä­ter erzählt — zwei Män­ner in Män­teln gekom­men und haben sie abge­holt. Da hat Fräu­lein Jun­ge dar­um gebe­ten, dass Hen­ni noch ein Lied für alle singt, weil sie das so gern tat. Als Jüdin durf­te sie zwar kei­ne “deut­schen” Lie­der sin­gen. Aber gegen jüdi­sche Kom­po­nis­ten war nichts ein­zu­wen­den. Also sang sie “Ich hab ein Diw­an­püpp­chen süß und rei­zend wie du” aus einer Ope­ret­te von Paul Abra­ham, das sie auch liebte.

Jah­re spä­ter las ich, dass sie und ihre Fami­lie in Minsk umge­bracht wor­den ist. Mei­ne Mut­ter und ich lasen das zusam­men anläss­lich einer Ver­an­stal­tung. Für mei­ne Mut­ter wur­den vie­le Erin­ne­run­gen wach, und sie erzähl­te mir von jüdi­schen Geschäfts­leu­ten, bei denen sie und die bei ihrem Vater Kun­den gewe­sen waren und wel­che guten Geschäfts­ver­bin­dun­gen man pfleg­te. Als sie zum Bei­spiel in der Kai­ser­zeit ihren ers­ten Faschings­ball hat­te, beriet sie einer der Her­ren. Und Fräu­lein Lieb­mann, deren Geschäft spä­ter ari­siert wur­de, hat­te immer etwas Beson­de­res für sie. Sie wur­de auch umge­bracht. Mei­ne Mut­ter sprach noch jah­re­lang von ihr.

Uns gegen­über, Ecke Ram­sau­er­stra­ße, war Anton Kohn. Mein Groß­va­ter und spä­ter mein Vater stan­den immer mal im gro­ßen Haus­ein­gang um “fri­sche Luft zu schnap­pen”. Da pas­sier­te es häu­fig, dass Herr Kohn sich zu ihnen gesell­te. Wir kauf­ten oft bei ihm, beson­ders in den “wei­ßen Wochen”. Und er war Kun­de von uns. Fräu­lein Lieb­mann natür­lich auch. Eines Tages war sein Geschäft arisiert.

Mei­ne Groß­el­tern hat­ten ein jun­ges Mäd­chen im Haus­halt, das vor­her bei Juden gear­bei­tet hat­te. Natür­lich frag­te mei­ne Mut­ter sie danach aus. Dadurch erfuhr sie etwas über die Sit­ten und konn­te Jah­re spä­ter mir von Milch­ding­tisch und Fleisch­ding­tisch erzäh­len, von koscher und von Rabbi.

Mei­ne Mut­ter hat­te noch inten­si­ver in das jüdi­sche Leben sehen kön­nen. Am 10. Novem­ber 1937 ging sie mit mir zusam­men zur bren­nen­den Syn­ago­ge an der Elbe­stra­ße. Sie brann­te nicht lich­ter­loh, man konn­te sie betre­ten. Ich habe mei­ne Mut­ter nie wie­der so bedrückt gese­hen. Sie wirk­te wie irgend­was Ver­lo­re­nes. Geweint hat sie nicht, auch nicht unter­drückt. Dann trat sie an das Har­mo­ni­um und nahm die ver­kohl­ten Noten­blät­ter in die Hand. Ich glau­be, sie hat mich gar nicht wahr­ge­nom­men — oder war inner­lich froh, mich bei sich zu haben. Vie­le Jah­re spä­ter erzähl­te sie mir, dass sie eine Klas­sen­ka­me­ra­din gehabt hät­te, die sie zu sich, zu ihrer Fami­lie ein­ge­la­den hät­te. Ihr Vater war Kan­tor in der Syn­ago­ge und wohn­te mit sei­ner Fami­lie auch dort. Natür­lich war mei­ne Mut­ter damals der Ein­la­dung gern gefolgt.

Wie man auf dem Bild sehen kann, sind die Häu­ser nicht Wand an Wand gebaut wor­den. Zwi­schen den Häu­ser­wän­den war jeweils ein Sicher­heits­gang wegen even­tu­el­ler Feu­ers­ge­fahr. Das war nicht bei allen Häu­ser­zei­len der Fall. Man­che hat­ten brei­te Gän­ge. Ich glau­be, das waren frü­her Ein­fahr­ten zum Hof gewe­sen — wie bei uns. Auch in der Thee­stra­ße 7, in dem Haus mei­nes Urgroß­va­ters Schmidt, und auch im alten Harz­mey­er­schen Haus war die Ein­fahrt inner­halb des Hau­ses. Von dort gelang­te man ins Trep­pen­haus. Wenn wir nicht erwischt wur­den, spiel­ten wir gern bei schlech­tem Wet­ter in die­sen geschütz­ten Räu­men. Aber das hat­ten die Bewoh­ner nicht so gern, denn wir waren ja nicht lei­se, und mit Roll­schu­hen auf Flie­sen — das macht Krach.

Ein Zwi­schen­gang war am Ende des Hau­ses Georg­stra­ße 45, das spä­ter das Kino “Metro­pol” war. Die­ser Gang war von unse­rem Gar­ten aus über eine Grot­te zu errei­chen. Natür­lich war uns ver­bo­ten, über die­se Grot­te zu stei­gen. Aber natür­lich taten wir es doch. Die Toi­let­ten­fens­ter des Kinos lagen näm­lich zu die­sem Gang hin. Da wäre es doch ein leich­tes gewe­sen, auf die­sem Weg umsonst einen Film sehen zu kön­nen. Ja, wenn unse­re Bei­ne lang genug gewe­sen wären. So blieb uns nur das Zuhö­ren, wenn bei war­men Wet­ter die Fens­ter zu unse­rem Hof geöff­net wur­den. Ver­stan­den haben wir nichts. Nur die Lach­sal­ven und die Musik waren hörbar.

Ich kann mich nicht mehr an ein­zel­ne Geschäf­te erin­nern. Wenn mei­ne Mut­ter und ihre Freun­din­nen in Erin­ne­run­gen kram­ten, kamen oft ganz unter­schied­li­che Fir­men­na­men ins Gespräch, weil ja im Lau­fe der Jah­re die Besit­zer wech­sel­ten. Für uns Kin­der waren meis­tens auch nur die inter­es­sant, bei denen es “sich lohnte”.

Da war denn am nächst­ge­le­ge­nen das Schuh­haus Staf­felt in Georgsta­ße 41. Mein Urgroß­va­ter Her­mann Harz­mey­er war längst tot und sein Sohn — Her­mann H. Harz­mey­er — auch. Der Nach­fol­ger war Hugo Staf­felt. Natür­lich war für uns Kin­der kein Unter­schied, ob Onkel Her­mann oder Staf­felt. Und immer “gab es was zu”. Da ich ange­hal­ten war, nie etwas für mich allein zu erwar­ten, son­dern auch für mei­nen klei­nen Bru­der, den ich “Bibi” (Baby) nann­te, zu bit­ten, mach­ten sich Staf­felts einen Spaß dar­aus, mir alle Klei­nig­kei­ten nur ein­mal zu geben. Und prompt kam dann auch von mir: “Und ein für mein Bibi.”

Georg­stra­ße 39 war das Lebens­mit­tel­ge­schäft von See. Wohl­ge­merkt: zu mei­ner Zeit. Ich glau­be aber, dass da vor­her Duben­horst war. Wir konn­ten das vom Erker sehen. Zwi­schen Georg­stra­ße 39 und 37 war ein brei­ter Gang, durch den wir im Krieg zum dahin­ter­lie­gen­den Bun­ker lie­fen, wenn die Sire­nen heulten.

Georg­stra­ße 37 war — glau­be ich — Leder­wa­ren Reu­sche. Sie mach­ten nach dem Angriff auf der Weser­stra­ße ein Geschäft auf. In dem Haus in der Georg­stra­ße war noch ein Laden. Ich habe noch so Erin­ne­rung an Namen wie Korff oder Jor­dan und an Hüte. Was davon wohin gehört, weiß ich nicht.

Um so bes­ser bleibt mir sicher­lich bis an mein Lebens­en­de Frau Rog­ge in Georg­stra­ße 35. Frau Rog­ge hat­te eine Dro­ge­rie und zwei Söh­ne. Der eine hieß Eilert. Mehr weiß ich nicht von ihm Aber der Name gefiel mir so gut. Ob es einen Herrn Rog­ge gab und wie der ande­re Sohn hieß, weiß ich auch nicht. Aber es gab ja Frau Rog­ge! Wenn sie nichts zu tun hat­te und wir auf der Stra­ße spiel­ten, hat­te sie immer ein lie­bes oder lus­ti­ges Wort für uns. Sie stand dann gern in ihrer Laden­tür, wie ande­re Inha­ber es auch taten. Mir woll­te sie immer ein­re­den, dass ich eigent­lich “Sie­da” hie­ße. Denn als ich gebo­ren wor­den war und mein Vater mich hat sehen wol­len, konn­te er mich nicht im Bett fin­den, weil ich ja so klein war. Als er dann aber doch Erfolg hat­te, soll er erfreut geru­fen haben: “Sieh, da ist sie ja!”. Trotz etli­cher Wie­der­ho­lun­gen habe ich es ihr nicht geglaubt.

Geliebt habe ich sie aber wegen der Sal­mi­ak­pas­til­len. Wir muss­ten dann zu ihr in den Laden kom­men, Zun­ge raus­ste­cken und jeweils an einer Sal­mi­ak­pas­til­le lecken, die sie uns dann mit ande­ren zusam­men zu einem Stern auf unse­ren Hand­rü­cken kleb­te. Noch heu­te esse ich gern Sal­mi­ak­pas­til­len und den­ke dabei an Frau Rog­ge. Was aus ihr gewor­den ist, weiß ich nicht.

Ich glau­be, das Neben­haus war Bet­ten-Helm­ke. Dort wohn­te jeden­falls eine alte Dame mit einem Reh­pin­scher. Wenn die bei­den auf die Stra­ße kamen und wir mit unse­ren Pup­pen­wa­gen dort bereits spa­zier­ten, muss­te das arme Vieh dran glau­ben: es wur­de kut­schiert. Hat ihm wohl auch Spaß gemacht, denn ich kann mich nicht ans Gegen­teil erinnern.

Das war die Sache mit “Effie”, einem klei­nen lang­haa­ri­gen schwarz-wei­ßen Hund, der Fräu­lein Küp­pers gehör­te. Fräu­lein Küp­pers hat­te nicht nur die­se Furie von Hund, son­dern auch ein Mie­der­ge­schäft im Harz­mey­er­schen Haus, zwi­schen Staf­felt und Blu­men­haus Freund. Freund war spä­ter in unse­rem Haus, Staf­felt Ecke Loth­rin­ger- und Schil­ler­stra­ße und Fräu­lein Küp­pers in der Nähe des Hauptbahnhofes.

Was nach Bet­ten­haus Helm­ke kam, weiß ich im Ein­zel­nen nicht mehr. Es waren klei­ne Häu­ser. Und als Läden weiß ich nur noch Schlach­te­rei Bode, Fri­seur von Lie­nen, (hat ver­mut­lich bis Anfang der 20er Jah­re mei­nem Groß­va­ter Andre­as Kelch gehört), “Weser­mün­der Neu­es­te Nach­rich­ten”, Wirt­schaft Morg­ner, Bäcker Lin­de­mann, Fisch­ge­schäft Wes­ter­mann und Uhr­ma­cher (spä­ter Opti­ker) Baier.

Viel­leicht habe ich da was durch­ein­an­der bekom­men. Aber soviel weiß ich: Der Uhr­ma­cher Fried­rich Bai­er hat­te eine Frau Sophie, geb. Schmidt, Toch­ter von Kup­fer­schmied Schmidt aus der Thee­stra­ße. Ihre Schwes­ter war Lina, ihr Nach­bar der Bar­bier Andre­as Kelch. Sie konn­ten zusam­men nicht kom­men, denn er war Thü­rin­ger, sprach ein ande­res Deutsch und war trotz vie­ler Anstren­gun­gen kein Bür­ger Geest­e­mün­des. Und sowas hei­ra­tet man nicht. Aber wer sich nicht zu hel­fen weiß, ist es nicht wert, dass er in Ver­le­gen­heit gerät. Also: er schwän­ger­te sie und so wur­den sie spä­ter mei­ne Großeltern.

Nach die­sem Gebäu­de­kom­plex kam die Kreuz­stra­ße — und damit das Ende mei­ner Erin­ne­run­gen von die­ser Stra­ßen­sei­te. Gegen­über begann es mit dem Eck­haus von Ples­se. Ich weiß dann noch, dass dort auch eine Buch­hand­lung war, in der Fräu­lein Müg­ge arbei­te­te. Danach kam ver­mut­lich Aron­heim, bei dem wir Kin­der gern kauf­ten, weil er wie alle jüdi­schen Geschäf­te bil­lig war.

Ein gro­ßes Haus war Gör­del. Ich mei­ne, mei­ne Mut­ter habe mir erzählt, dass dies renom­mier­te Beklei­dungs­ge­schäft vor der Ari­sie­rung Lieb­mann gehört habe, wo sie so gern kauf­te. Wei­ter gen Süden gab es noch Hüte und Wäsche Bösch. Eins von den bei­den Geschäf­ten gab es noch lan­ge nach dem Krieg. Ich habe dort gern und man­chen Hut gekauft.

Ecke Arndt­stra­ße war eine Gast­wirt­schaft. Den Namen habe ich ver­ges­sen, ich weiß nur, dass dort die Bus­se nach Bever­stedt abfuh­ren. Dann sind mir noch die Geschäf­te von Specht, Nie­mey­er und Becken in Erin­ne­rung, die ja noch lan­ge nach dem Krieg exis­tier­ten. Und die Nord­deut­sche Kre­dit­bank mit ihrem Gie­bel, der mich immer an die nord­deut­sche Renais­sance erin­ner­te. Von unse­rem Kin­der­zim­mer­fens­ter aus habe ich oft den Gro­ßen Bären dar­über ste­hen sehen.

Ecke Thee­stra­ße war Elek­tro­ge­schäft Rei­chelt. Dahin muss­te ich immer mit unse­rer Haus­ge­hil­fin gehen, um den Akku für das Radio auf­la­den zu las­sen, das mein Vater selbst gebas­telt hat­te. Das war immer sehr span­nend für mich, denn ich ver­stand die gan­ze Cho­se nicht. Zuerst konn­ten wir noch ein­fach quer über die Stra­ße lau­fen. Spä­ter, als der Schu­po dort stand, muss­ten wir uns an die Ver­kehrs­re­geln halten.

Dann kam Por­zel­lan-Peter­sen. Auch das war span­nend für mich. Der Inha­ber hieß näm­lich mit Vor­na­men “Mein­hard” — und einen sol­chen Namen hat­te ich noch nie gehört. Ecke Ram­sau­er­stra­ße war das Weiß­wa­ren­ge­schäft (?) Anton Kohn, das spä­ter eben­falls ari­siert wur­de. An der süd­li­chen Ecke der Ram­sau­er­stra­ße stand — und das Gebäu­de steht heu­te noch — die Hirsch­apo­the­ke mit dem gol­de­nen Hirsch auf dem Vor­dach. Anschlie­ßend hat­te Jans­sen sein Por­zel­lan­ge­schäft. Was für Häu­ser und Geschäf­te sich anschlos­sen, weiß ich nicht mehr.

Es war da ein ziem­lich alt­mo­di­sches Wäsche­ge­schäft, Eisen­wa­ren Daetz, irgend­wo auch eine Samen­hand­lung Petrasch, bei der wir Fut­ter für unse­ren Wel­len­sit­tich kauf­ten, und die Spe­di­ti­on Ges­wein, die frü­her auch die Feu­er­wehr stell­te und mit viel Krach mit den Pfer­den durch die Georg­stra­ße saus­te. Was danach kam, weiß ich erst recht nicht. Es gab da noch eine Schmie­de und Bau­ern­häu­ser — aber das war wohl in einer Neben­stra­ße. Auf der gegen­über­lie­gen­den Georg­stra­ßen­sei­te — also der öst­li­chen — gab es Schreib­wa­ren Schwert­fe­ger mit der sin­ni­gen Inschrift am Haus: “Ora et labo­ra”, womit sicher­lich nicht Bene­dicts Män­ner gemeint waren.

Die Häu­ser, die dann in Rich­tung Bucht­stra­ße stan­den, ken­ne ich zum Teil nicht mehr, und die Rei­hen­fol­ge schon gar nicht. Da war das Scho­ko­la­den­ge­schäft von Frau Rook. Scha­de, dass es so etwas Außer­ge­wöhn­li­ches nicht mehr gibt. Mei­ne Mut­ter bat mei­nen Vater häu­fig, ihr von Frau Rook Cognac­boh­nen mit­zu­brin­gen. Mein Vater nahm dann eine Akten­ta­sche mit, damit man nicht erken­nen konn­te, dass er “ein­hol­te”.

Uhr­ma­cher Stu­te war auch  da, ent­we­der auf der öst­li­chen oder west­li­chen Sei­te. Und I.G. Schmidt, der Ofen­händ­ler. Und ein Elek­tro­ge­schäft. Und ein Café oder Eis­ca­fé — öst­lich oder west­lich. Und Scho­cken, das spä­ter Mer­kur wur­de, dann kam Kauf­mann Lüt­h­je, bei dem es lecke­re grü­ne Bon­bons gab und wo man meh­re­re Stu­fen hin­auf­klet­tern musste.

An der Ecke Buch­stra­ße kam dann das Kropp­sche Haus, in dem unten die Geschäf­te Ten­gel­mann, der Bar­bier Pipo­wa­ski und das Schreib­wa­ren­ge­schäft Wolf (Fräu­lein Jul­chen) war. Die bei­den letz­ten Grund­stü­cke wur­den von der Stadt für die Erwei­te­rung der Bucht­stra­ße nach dem Krieg ein­ge­zo­gen. Eben­so erging es unse­rem Neben­grund­stück. Aller­dings woll­te ein Inter­es­sent in den 50er Jah­ren dar­auf ein viel­stö­cki­ges Wohn­haus bau­en. Da hat mei­ne Mut­ter aber schärfs­tens pro­tes­tiert. So ein Koloss hät­te ja alles Licht für die Nach­barn verbannt.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Am 18. Sep­tem­ber sind es 70 Jah­re her, dass ein Bom­ben­an­griff der alten Georg­stra­ße den Gar­aus mach­te. Mein Vater hat es nicht mehr erlebt. Er war am 1. Sep­tem­ber gestor­ben. Mein Bru­der war seit August auf einem Inter­nat, mei­ne Groß­el­tern kamen beim Bom­ben­an­griff um, mei­ne Tan­ten und alle übri­gen Ver­wand­ten waren in alle Win­de zer­streut. Mei­ne Mut­ter und ich waren plötz­lich allein.
Lie­be Leser, wenn Ihr mögt, schreibt doch eben­falls Eure Erin­ne­run­gen an Bre­mer­ha­ven auf und sen­det sie mir zu. Ich wür­de sie hier ger­ne ver­öf­fent­li­chen, weil ich glau­be, dass Eure Erin­ne­run­gen nicht in Ver­ges­sen­heit gera­ten sollten.

Die Zeitung sucht Zeitzeugen, die sich an den Bombenangriff vom 18.9.1944 erinnern

Durch den schreck­li­chen Luft­an­griff am 18. Sep­tem­ber 1944 zer­stör­ten 480 Spreng­bom­ben, 420.000 Stab­brand­bom­ben und 31 Luft­mi­nen inner­halb von 20 Minu­ten den dama­li­gen Stadt­teil Weser­mün­de Mit­te zu 97 Pro­zent und Geest­e­mün­de zu 75 Prozent.

Bombenangriff auf Wesermünde

Der Angriff der 5. Bom­ber­flot­te der Roy­al Air Force hat sich tief in das kol­lek­ti­ve Gedächt­nis der Bewoh­ner unse­rer Stadt gegra­ben. 618 Men­schen fan­den den Tod, 1.193 erlit­ten Ver­let­zun­gen. Die Bom­ber ver­nich­te­ten 2.670 Häu­ser, und 30.000 Bür­ger wur­den obdachlos.

In der Nacht vom 18./19. Okto­ber fie­len noch ein­mal 867 Ton­nen Bom­ben auf die bereits zer­stör­te Stadt, deren kom­plet­te Zer­stö­rung sich die Alli­ier­ten als Ziel gesetzt hatten.

Die Nord­see-Zei­tung sucht jetzt Zeit­zeu­gen, die über ihre Erin­ne­run­gen an das Dra­ma vor 70 Jah­ren erzäh­len möch­ten. Bit­te mel­det Euch bei der

Nord­see-Zei­tung
Lokal­re­dak­ti­on
Hafen­stra­ße 140
27576 Bre­mer­ha­ven
Tele­fon: 0471/597 270
Email: bremerhaven@nordsee-zeitung.de

Als Wesermünde brannte — unbekannte Fotos aufgetaucht

Als Weser­mün­de brann­te — unbe­kann­te Fotos aufgetaucht

Es gibt schö­ne Erin­ne­run­gen und böse Erin­ne­run­gen. Die schö­nen Erin­ne­run­gen sind manch­mal ver­blasst, ver­schüt­tet in den Tie­fen unse­res Gedächt­nis. Scha­de! Aber es gibt auch die quä­len­den Erin­ne­run­gen, die tag­ein und tag­aus prä­sent sind, die man nie los wird. Sie sind immer da — die bösen Erinnerungen.

Bre­mer­ha­vens Stadt­his­to­ri­ker Dr. Man­fred Ernst hat über böse Erin­ne­run­gen ein Buch geschrie­ben. Ein Buch über böse kol­lek­ti­ve Erin­ne­run­gen. Es ist ein Buch über die Bre­mer­ha­ve­ner Bom­ben­nacht vom 18. Sep­tem­ber 1944.

Dr. Ernst hat kei­ne eige­nen Erin­ne­run­gen an die Nacht, in der die gro­ße Kata­stro­phe über Bre­mer­ha­ven (Weser­mün­de) her­ein­brach. Aber er kann sich an die Erzäh­lun­gen sei­ner Groß­el­tern erin­nern. Viel­leicht ja auch an Erzäh­lun­gen ande­rer Men­schen. Jeden­falls weiß Dr. Ernst zu berich­ten, dass sei­ne Groß­el­tern in der Keil­stra­ße 25 ein Geschäft hat­ten. Milch, But­ter und Käse konn­te man hier kau­fen. Aber nur bis zum 18. Sep­tem­ber 1944. Danach gab es kein Geschäft mehr — und auch kei­ne Milch, kei­ne But­ter und kein Käse mehr. Danach war das Nichts.Als Wesermünde brannte - unbekannte Fotos aufgetauchtDr. Ernst erzählt, dass er in der Bom­ben­nacht mit sei­nen Ange­hö­ri­gen im Kel­ler des Hau­ses Keil­stra­ße 25 geses­sen hat. Und als der Luft­an­griff vor­über war, gab es kei­ne St. Mari­en­kir­che mehr, und auch das Milch­ge­schäft war über den Köp­fen der im Kel­ler aus­har­ren­den Schutz­su­chen­den zusam­men­ge­bro­chen. Ohne frem­de Hil­fe hät­te es kein Ent­rin­nen gege­ben. Ein Mari­ne­sol­dat war es, der die Mut­ter, die Groß­el­tern und den ein­jäh­ri­gen Man­fred befreit hat. Anschlie­ßend ist die Fami­lie zur Klapp­brü­cke gelau­fen, dort fand sie Unter­schlupf in einem Röh­ren­bun­ker. Der Mari­ne­sol­dat, der unbe­kann­te Lebens­ret­ter, ist nie wie­der auf­ge­taucht, nie­mand weiß, woher er kam und wohin er ging.Als Wesermünde brannte - unbekannte Fotos aufgetauchtDr. Ernst hat nun vie­le Erin­ne­run­gen, pri­va­te und kol­lek­ti­ve, zu einem Buch zusam­men­ge­fasst. Es sind Erin­ne­run­gen von Lesern, die ihre ergrei­fen­den Erleb­nis­se auf­ge­schrie­ben und zum 60. Jah­res­tag des schreck­li­chen Luft­an­grif­fes an die Nord­see-Zei­tung gesandt haben.

Wer das Buch liest kann viel­leicht die Situa­ti­on der Men­schen vor dem Bom­ben­alarm nach­füh­len. Der Leser kann viel­leicht auch die Panik nach­emp­fin­den, die  die Men­schen über­kam, als die Bom­ben auf den Schutz­raum fie­len. Und viel­leicht kann er auch die Fas­sungs­lo­sig­keit der Men­schen begrei­fen, die voll­kom­men ori­en­tie­rungs­los waren, als sie wie­der ans Tages­licht kamen.Als Wesermünde brannte - unbekannte Fotos aufgetauchtDr. Man­fred Ernst wur­de bei sei­nen Recher­chen eben­so vom Bre­mer­ha­ve­ner Stadt­ar­chiv unter­stützt wie vom Hei­mat­bund der Män­ner vom Mor­gen­stern. Auch mit aus pri­va­ten Samm­lun­gen stam­men­des Bild­ma­te­ri­al konn­te Dr. Ernst sei­ne Recher­chen kom­plet­tie­ren. Gleich­wohl muss­te Dr. Ernst gegen­über der Nord­see-Zei­tung bedau­ern, dass eini­ge Fra­gen unge­klärt blie­ben: “Es gibt eini­ge Auf­nah­men, da konn­te mir bis­her nie­mand sagen, wo sie foto­gra­fiert wur­den, um wel­che Stra­ßen und Gebäu­de es sich han­delt. Viel­leicht gibt es ja noch Augen­zeu­gen, die sich erin­nern. Zwei Bil­der zei­gen Rui­nen irgend­wo in der Stadt, auf einem Bild ist eine Dro­ge­rie zu erken­nen – mög­li­cher­wei­se in Geest­e­mün­de. Und auf dem vier­ten Bild sei ein Platz abge­bil­det, auf dem zer­stör­te Fahr­zeu­ge gesam­melt wurden.”

Viel­leicht kön­nen Deich­SPIE­GEL-Leser wei­ter­hel­fen. Dann wäre es schön, wenn Ihr mit mir Kon­takt auf­neh­men würdet.

Der in einer Auf­la­ge von 1.500 Stück am 11. Sep­tem­ber 2014 erschie­ne­ne Gedenk­band ent­hält vie­le Brie­fe und Doku­men­te und mehr als 70 Fotos. 
Quel­len:
Nord­see-Zei­tung vom 18.07.2014
Dr. Man­fred ErnstAls die Stadt brann­te — Der 18. Sep­tem­ber 1944 in Bre­mer­ha­ven- Wesermünde
128 Sei­ten (gebun­de­ne Ausgabe)
Carl Schü­ne­mann Ver­lag | 19,90 Euro
ISBN 978–3–944552-31–6

Geestemünde in alten und neuen Ansichten — Teil 10

Geest­e­mün­de in alten und neu­en Ansich­ten — Teil 10

Im Volks­mund gibt es vie­le Gelän­de­be­zeich­nun­gen, die für den Ein­hei­mi­schen eine genaue Orts­an­ga­be dar­stel­len. Die­se oft­mals schon vie­le hun­dert Jah­re alten Bezeich­nun­gen gera­ten lang­sam in Ver­ges­sen­heit. Dar­um ist es wich­tig, die­se alten Flur­be­zeich­nun­gen für unse­re Nach­kom­men zu erhal­ten, sind sie in ihrer Bedeu­tung doch ein Stück Hei­mat und Geschichte.

In Geest­e­mün­de gibt es die Bezeich­nung “Pasch­vier­tel”. Das Wort “Pasch“ soll vom Nie­der­rhein stam­men und setz­te sich auch im nord­deut­schen Sprach­ge­brauch durch. Sei­nen Ursprung fin­det es jedoch in der latei­ni­schen Spra­che. Es stammt von “pascua” ab, was Wei­de oder Wei­de­land bedeu­tet. Wer heu­te durch die mit dich­ten Häu­ser­rei­hen bebau­te Pasch­stra­ße geht, kann sich viel­leicht nicht mehr vor­stel­len, dass die­ses Gebiet ein­mal Wei­de­land gewe­sen sein soll.

Paschviertel

Geest­en­dorf ent­stand wohl aus dem bereits 1139 erst­ma­lig erwähn­ten  Kirch­dorf Ges­ten­thor­pe. Das mit­tel­al­ter­li­che Geest­en­dorf gehör­te zum Amts- und Gerichts­be­zirk Viel­and und befand sich auf dem Geest­rü­cken rund um die Mari­en­kir­che. 1813 leb­ten in Geest­en­dorf 491 Men­schen, noch 1823 sol­len es nur 576 gewe­sen sein. Doch mit der Grün­dung der Stadt Bre­mer­ha­ven und den Häfen kamen immer mehr Men­schen in das ver­schla­fe­ne Geest­en­dorf. Bereits 1858 leb­ten hier 2.296 Ein­woh­ner. Vor allem Arbei­ter und Hand­wer­ker sie­del­ten sich hier an, da in Bre­mer­ha­ven und dem 1845 eben­falls neu ent­stan­den Geest­e­mün­de die Zuzugs­be­din­gun­gen sehr restrik­tiv waren.

Paschviertel

Das Are­al des heu­ti­gen Neu­mark­tes befand sich im Eigen­tum des Amts­ho­fes, dem spä­te­ren Amt Viel­and. Der Amts­hof lag schräg gegen­über der Mari­en­kir­che und war mit ver­schie­de­nen Wohn- und Wirt­schafts­ge­bäu­den bebaut. Auch gehör­ten ein gro­ßer Gar­ten und umfang­rei­che Län­de­rei­en dazu. Die­se erstreck­ten sich im Nor­den bis zur Bucht­stra­ße und wur­den im Osten durch die Bül­ken­stra­ße begrenzt.

1936 Bismarckstrasse

Nach der Grün­dung von Bre­mer­ha­ven und Geest­e­mün­de nahm Geest­en­dorf – wie bereits erwähnt – als Wohn­vor­ort für die bei­den klei­nen Hafen­or­te inner­halb weni­ger Jahr­zehn­te einen erheb­li­chen Auf­schwung. Als Fol­ge hat­te sich die Wohn­be­bau­ung in Geest­en­dorf erheb­lich Rich­tung Osten und Nor­den erwei­tert und Geest­en­dorf wuchs ent­lang der heu­ti­gen Georg­stra­ße all­mäh­lich auf Geest­e­mün­de zu.

1905_Bülkenstrasse

Zur glei­chen Zeit ent­stand für die vie­len Neu­bür­ger auf einem nörd­lich des Geest­en­dor­fer Geest­rü­ckens gele­ge­nen Wei­de­land ein neu­es Wohn­ge­biet, dass man spä­ter in Anleh­nung an die alte Flur­be­zeich­nung den Namen “Pasch­vier­tel” gab. Die­ses von  der Georg­stra­ße, der Bis­marck­stra­ße, der Schil­ler­stra­ße und der Bucht­stra­ße begrenz­te Wohn­ge­biet besteht aus eng bei­ein­an­der lie­gen­den Gas­sen, die in einem leich­ten Bogen ver­lau­fen und von der Bucht­stra­ße schräg ange­schnit­ten wer­den. Das Pasch­vier­tel ent­wi­ckel­te sich zu einem dicht­be­sie­del­ten Orts­teil, der vom alten Geest­en­dor­fer Dorf­kern räum­lich getrennt war.

Mit dem Eisen­bahn­bau und der Erwei­te­rung der Geest­e­mün­der Hafen­an­la­gen wur­de für das Pasch­vier­tel 1856 eine wei­te­re Aus­deh­nung unmög­lich gemacht. Als 1863 der Handelshafen,der Nord­ka­nal und der Quer­ka­nal fer­tig­ge­stellt waren, muss­te die Chaus­see um das neu ent­stan­de­ne Zoll-“Freigebiet” her­um­ge­führt wer­den. Die zwi­schen 1859 und 1862 gebau­te Leher Stra­ße (spä­ter Bis­marck­stra­ße)  und  die  Leher  Chaus­see (spä­ter  Rhein­stra­ße) bil­de­ten die Bebau­ungs­gren­ze für das neue Wohn­vier­tel. Und der 1877 ange­leg­te Holz­ha­fen mach­te klar, dass es für das Pasch­vier­tel kei­ne wei­te­re Aus­deh­nung in nörd­li­cher Rich­tung geben kann.

1912 Buchtstrasse Ecke Keilstrasse

Also wur­de gen Süden wei­ter­ge­baut — zunächst ent­lang der bereits vor­han­de­nen Pasch­stra­ße, Bül­ken­stra­ße und Kur­ze Stra­ße (heu­te Tul­pen­stra­ße) — bis man die Bucht­stra­ße erreich­te. Hier war dann auch wie­der Schluss, denn das  jen­seits der Bucht­stra­ße gele­ge­ne Amts­hof­ge­län­de bil­de­te eine wei­te­re Gren­ze und so wur­de aus dem “Pasch”, ein­ge­zwängt zwi­schen Bucht­stra­ße und Bis­marck­stra­ße,  ein eng begrenz­tes und dicht­be­sie­del­tes Vier­tel mit klei­nen Arbei­ter- und  Hand­wer­ker­häu­sern  vom Typ “Leher Haus“.

Nelkenstraße

Zwi­schen Pasch­stra­ße, Bül­ken­stra­ße und Kur­ze Stra­ße wer­den wei­te­re Stra­ßen gebaut; Anfang der 1860er Jah­re ent­steht die Rosen­stra­ße und Mit­te der 1860er Jah­re die Nel­ken­stra­ße, in der heu­te noch ein paar Gebäu­de des Typ “Leher Haus” erhal­ten sind.

Die Grund­stü­cke waren sehr klein, sie reich­ten nur etwa zehn Meter in die Tie­fe. Dar­aus erga­ben sich Grund­stücks­grö­ßen von maxi­mal 100 Qua­drat­me­ter, oft­mals waren sie sogar noch klei­ner. So waren auch die Wohn­räu­me, jeden­falls gemes­sen an den heu­ti­gen Wohn­ver­hält­nis­sen, recht klein. Häu­fig muss­ten die Gewer­be­trei­ben­den auch ihre Werk­statt in den Woh­nungs­grund­riss ein­pla­nen, da die klei­nen Grund­stü­cke kein zusätz­li­ches Werk­statt­ge­bäu­de zuließen.

Kleingärten

Zwi­schen den Gebäu­den gab es schma­le Gän­ge, die zu den sehr klei­nen Hof­räu­men führ­ten. Die Anla­ge von Haus­gär­ten war in den klei­nen Hin­ter­hö­fen aller­dings nicht mög­lich. Zur Auf­bes­se­rung ihrer gerin­gen Ein­künf­te waren die Bewoh­ner dar­auf ange­wie­sen, in außer­halb gele­ge­nen Klein­gär­ten etwas Gar­ten­bau und auch Klein­vieh­hal­tung zu betrei­ben. Die­se Gär­ten wur­den am Ran­de des Pasch­vier­tels öst­lich der Schil­ler­stra­ße und Rhein­stra­ße ange­legt und zogen sich bis zum Gebiet des heu­ti­gen Haupt­bahn­ho­fes hin. Die Gär­ten ver­schwan­den erst in den 1950er Jahren.

Malergeschäft B. Hayen in der Friedrichstraße Ecke Tulpenstraße

Nur dort, wo irgend­wann ein­mal zwei Grund­stü­cke zusam­men­ge­legt wur­den, konn­ten die Hand­wer­ker und ande­re Gewer­be­trei­ben­de ihre Werk­statt außer­halb des Wohn­rau­mes unter­brin­gen. Nörd­lich der Fried­rich­stra­ße wur­den die Grund­stü­cke im Bebau­ungs­plan vom Anfang der 1850er Jah­re groß­zü­gi­ger ver­mes­sen. Hier konn­te man des­halb auch präch­ti­ge­re Gebäu­de mit grö­ße­rem Wohn­raum erstellen.

Heute gibt es hier auch das Malergeschäft von B. Hayen längst nicht mehr.

So befand sich etwa das Maler­ge­schäft B. Hay­en seit 1888 in dem klei­nen im Grün­der­haus­stil erbau­ten Wohn- und Geschäfts­haus an der Ecke Fried­rich­stra­ße und Tul­pen­stra­ße. Ein ande­res Gebäu­de, dass hier drei­ßig Jah­re lang stand, wur­de abgerissen.

Auch die heu­te noch bestehen­de Bäcke­rei Engel­brecht ent­stand hier zum Anfang des letz­ten Jahr­hun­dert an der Ecke Fried­rich­stra­ße zur Schil­ler­stra­ße in einer bereits vor­han­de­nen Bäckerei.

Bäckerei Engelbrecht in der Schillerstraße Ecke Friedrichstraße

Neben dem Maler­ge­schäft B. Hay­en ent­stan­den im Pasch­vier­tel vie­le ande­re Betrie­be. Max Sieg­hold, spä­te­rer Besit­zer der bekann­ten Sieg­hold-Werft, pach­te­te 1925 in der Nel­ken­stra­ße 2 von Fried­rich Nagel eine Schmie­de und begann sei­nen Betrieb mit einem Lehrling.

Möbelfabrik Schlüter

Pols­ter­meis­ter Lou­is Schlü­ter begann in der Nel­ken­stra­ße in einer klei­nen Werk­statt, bevor er um die Wen­de zum 20. Jahr­hun­dert sei­ne Möbel­fa­brik aufbaute.

Möbelfabrik Schlüter

Für die Tisch­ler­ar­bei­ten stell­te Lou­is Schlü­ter den im Jah­re 1898 gebo­re­nen Tisch­ler­meis­ter Karl Jüch­tern ein. Auch meh­re­re Gesel­len waren in der Möbel­fa­brik beschäftigt.

Möbelfabrik Schlüter

Der Betrieb bestand noch bis weit in die 1970er Jah­re hinein.

Karl Jüch­terns Vater hieß Hein­rich Jüch­tern, der hat­te ein klei­nes Transportunternehmen.

Transportunternehmen Heinrich Jüchtern

Mit sei­nem Pfer­de­fuhr­werk trans­por­tier­te er unter ande­rem das Gepäck der Rei­sen­den von und zum Bre­mer­ha­ve­ner Bahnhof.

1910 | Bierverlag Lehnert

Schräg gegen­über von Engel­brecht befand sich der Bier­ver­lag von Hein­rich Leh­nert, der eigent­lich eine Fleischwaren‑,  Margarine‑,  Bier- und Spi­ri­tuo­sen­groß­hand­lung war. Zwar gibt es das Leh­nert­sche Anwe­sen eben­falls nicht mehr, aber das

2014 | wieder aufgebaute Eckhaus an der Schillerstraße Ecke Raabestraße

Eck­haus wur­de zusam­men mit wei­te­ren Gebäu­den für einen Super­markt der­art wie­der auf­ge­baut, dass optisch eine his­to­ri­sche Ver­bin­dung zum alten Leh­nert­schen Gebäu­de­kom­plex her­ge­stellt wurde.

15. Mai 2014 Paschstrasse Blick Richtung Kreuzstrasse

Über das All­tags­le­ben im Pasch­vier­tel gibt kaum Auf­zeich­nun­gen. Es scheint aber ein Vier­tel gewe­sen zu sein, in dem die wohn­bau­li­chen und auch die hygie­ni­schen Ver­hält­nis­se anspruchs­los waren. Auch die Kana­li­sa­ti­on soll so unzu­rei­chend gewe­sen sein, dass die tie­fer gele­ge­nen Grund­stü­cke bei star­ken Regen­fäl­len unter Was­ser standen.

Paschschule

Dadurch, dass das Amts­hof­ge­län­de für die Geest­en­dor­fer Neu­bau­be­bau­ung eine Gren­ze dar­stell­te, blieb der Cha­rak­ter des Geest­en­dor­fer Orts­kern mit sei­nen alten Bau­ern­häu­sern bis weit ins letz­te Vier­tel des 19. Jahr­hun­derts erhal­ten. Das Pasch­vier­tel bekam sogar eine eige­ne Schu­le. 1863 wur­de in der Schil­ler­stra­ße 14 die Pasch­schu­le gebaut.

25. Mai 2014 | An der Schillerstraße/Ecke Raabestraße wurde im Frühjahr 1863 die neue vierklassige Paschschule bezogen.

1902 bezog die Katho­li­sche Volks­schu­le das Gebäu­de und blieb hier 37 Jah­re – bis zum Ver­bot im Jah­re 1939. Neben 13 wei­te­ren Schu­len wur­de durch den Luft­an­griff im Sep­tem­ber 1944 auch die Pasch­schu­le zerstört.

Kirche

Bei die­sem Angriff wur­de auch die 1911 ein­ge­weih­te Hei­li­ge Herz-Jesu-Kir­che durch Brand­bom­ben erheb­lich beschädigt.

Die alt­ein­ge­ses­se­nen Bewoh­ner Geest­en­dorfs blie­ben also “unter sich”, wäh­ren im Pasch­vier­tel die in Bre­mer­ha­ven und Geest­e­mün­de beschäf­tig­ten Arbei­ter ihre neue Hei­mat fan­den. Aber auch klei­ne­re Hand­werks­be­trie­be wie Bäcke­rei­en, Schlach­te­rei­en, Schus­te­rei­en und Milch­ge­schäf­te oder Koh­len­hand­lun­gen fan­den hier ihr Auskommen.

Bülkenstraße

Das blieb so, bis das Wohn­ge­biet durch den Luft­an­griff am 18. Sep­tem­ber 1944 fast völ­lig zer­stört wur­de und die an Stel­le der einst­mals klei­nen Wohn­häu­ser gebau­ten gro­ßen Wohn­blö­cke dem Vier­tel einen voll­kom­me­nen ande­ren Cha­rak­ter gaben.
Quel­len:
Dr. Hart­mut Bickel­mann, Nie­der­deut­sches Hei­mat­blatt Nr. 757 aus Janu­ar 2013
Daten zur Geschich­te der Katho­li­schen Schu­le…
His­to­ri­sche Bül­ken­stra­ße in neu­em Gewand (pdf-Datei)
Hart­mut Bickel­mann: Von Geest­en­dorf nach Geestemünde,
de.wikipedia.org

Geestemünde geht zum Wasser

Geestemünde geht zum Wasser” – mit diesem Freiraumkonzept soll Geestemünde wieder attraktiver gemacht und die unmittelbare Lage am Wasser wieder in den Fokus der Bevölkerung gerückt werden. Stadtplanungs‑, Umweltschutz- und Gartenbauamt haben gemeinsam Ideen entwickelt, wie man Geestemünde mit dem Weserdeich verbinden kann. Die Geestemünder waren aufgerufen, eigene Vorschläge einzubringen.
2014-06-19 Grafik Plesse-Eck und Yachthafen
Durch einen neuen Fuß- und Radweg vom Holzhafen zum Yachthafen soll eine Verbindung vom Zentrum Geestemündes bis ans Wasser entstehen.
Die Bagger waren bereits tätig und haben auf der Grünfläche zwischen Holzhafen und Elbinger Platz den ersten Teilabschnitt des Projektes “Geestemünde geht zum Wasser” umgesetzt. Bäume und Büsche wurden gestutzt, jetzt liegt der Yachthafen wieder im Blickfeld. 
2014-06-25 Holzhafen-Bismarckstrasse
Auf dem Grundstück um die  von dem deutschen Bildhauer Gerhart Schreiter geschaffene ”Memento-maris“-Skulptur   entstand ein neuer Weg mit schönen Pflastersteinen, der quer über die Grünanlage mit dem ebenfalls neuen Rasen zum Elbinger Platz führt. Links und rechts vom Weg wurden Halterungen in den Boden eingelassen, an denen dicke Eichenbalken befestigt sind. Sie sollen schwimmendes Holz im “Stichkanal“ darstellen.  Schöne Holzbänke mit Rückenlehne laden zum Verweilen ein. Die Gesamtkosten von 260.000 Euro werden mit 130.000 Euro von der Europäischen Union finanziert. Weitere 43.000 Euro stammen aus Förderungsmitteln des Bundes und 87.000 Euro wurden im städtischen Haushalt eingeplant.
Plesse-Eck und Bismarckstraße
Nun folgen die Anschlussarbeiten am Plesse-Eck. Vom Elbinger Platz kommend soll die vorhandene Rechtsabbiegespur auf 70 Meter verkürzt werden und künftig in eine neue Verkehrsfläche mit Parkplatzcharakter an der Ulmenstraße und Kaistraße münden. Radfahrer und Fußgänger werden zwischen dem AOK-Gebäude und dem Plesse Eck getrennte Wege erhalten. Aus der nicht mehr benötigten Fahrbahnfläche am Elbinger Platz wird ein Grünstreifen gestaltet. 
1972 Plesse-Eck
Am Yachthafen werden die Wege erneuert und ebenfalls neue Bänke zum Ausruhen aufgestellt. Und im nächsten Frühjahr – so die Planung – wird das nördliche Ufer des Yachthafens ebenfalls umgestaltet und mit einer kleinen Holzterrasse versehen. Die “Stiftung Wohnliche Stadt” hat für die Umgestaltung dieses Areals und für die Terrasse einen Betrag von 40.000 Euro zur Verfügung gestellt.
Plesse-Eck, Datum nicht bekannt
Insgesamt investiert die Stadt mit Unterstützung durch EFRE-Fördermittel der Europäischen Union rund 360.000 Euro in diese nächste Ausbaustufe.

Quel­len:
Nord­see-Zei­tung vom 17.01.2014 und 19. Juni 2014
bremerhaven.de
efre-bremen.de

Das war meine Werft – Folge 9

Zu den bekann­tes­ten Werf­ten in Bre­mer­ha­ven gehör­te sicher­lich die Rick­mers-Werft. In ihrer 150-jäh­ri­gen Fir­men­ge­schich­te fan­den hier Tau­sen­de Schiff­bau­er, Nie­ter und Schwei­ßer aus Bre­mer­ha­ven  und dem Umland Arbeit. Und die Bewoh­ner rund um der Geest­hel­le hat­ten sich mit dem fort­dau­ern­den Lärm der Niet­ham­mer eben­so arran­giert wie mit dem nächt­li­chen Auf­blit­zen der Schweißgeräte.

Zeitgenössisches Ölgemälde Rickmer Clasen Rickmers (1807–1886)

Im Jah­re 1832 stie­gen auf Hel­go­land der 25-jäh­ri­ge Holz­schiff­bau­er Rick­mer Cla­sen Rick­mers und sei­ne Ehe­frau Etha in eine selbst gebau­te Scha­lup­pe und segel­ten nach Bre­mer­ha­ven. Rick­mers hat­te auf sei­ner Hei­mat­in­sel Hel­go­land das Schiff­bau­hand­werk erlernt und auf wei­ten Rei­sen nach Bra­si­li­en, Mexi­co und USA vie­le Erfah­run­gen gesam­melt. Kaum in Bre­mer­ha­ven ange­kom­men, begann Rick­mers sei­ne Tätig­keit als Meis­ter­knecht auf der Werft von Cor­ne­li­us Jant­zen Cor­ne­li­us. 1834 mie­te­te der Hel­go­län­der einen klei­nen Zim­me­rer­platz an der Oster­stra­ße, auf dem er nur in den Som­mer­mo­na­ten klei­ne­re Boo­te her­stel­len und repa­rie­ren konn­te. 1836 lief das ers­te Schiff vom Sta­pel. Es war der 23 BRT gro­ße Kahn “Catha­ri­na”, den Rick­mers im Auf­trag des Geest­en­dor­fer Kapi­täns Len­the baute.

Der Betrieb ent­wi­ckel­te sich so gut, dass Rick­mers beim Amt­mann um einen grö­ße­ren Platz an der Gees­te dicht ober­halb der Fäh­re nach­such­te. Zunächst wur­den sei­ne Gesu­che abge­lehnt, doch 1839 erhielt er end­lich das gewünsch­te grö­ße­re Grund­stück. Bereits 1843 lief ein Voll­schiff mit einer Kiel­län­ge von 35 Meter und einer Trag­fä­hig­keit von 850 Ton­nen vom Sta­pel. Das für dama­li­ge Zei­ten rie­si­ge Schiff wur­de auf den Namen “Bre­men” getauft.

1854 ließ  Rick­mers den ers­ten deut­schen Clip­per, die “Ida Zieg­ler”, vom Sta­pel lau­fen. In der Fol­ge­zeit bau­te er so vie­le Schif­fe, dass Rick­mers 300 Arbei­ter beschäf­ti­gen konn­te. So wur­de auch die­ser Platz zu klein, und Rick­mers mach­te sich erneut auf die Suche nach einem grö­ße­ren Stand­ort. Die­sen fand er auch, aber nicht in Bre­mer­ha­ven son­dern auf Geest­e­mün­der Gebiet in Geest­hel­le. Geest­hel­le gehör­te ursprüng­lich zu Lehe, wur­de aber auf Betrei­ben des Amt­manns dem han­no­ver­schen Geest­e­mün­de zugeschlagen.

Visitenkarte

1856 bau­te Rick­mers auf der Geest­hel­le (auf dem Gebiet um die vor­letz­te Gees­t­e­schlei­fe vor der Mün­dung) also einen moder­nen Werft­be­trieb, der 1857 eröff­net wur­de. Bis zum Tode des Grün­ders 1886 wur­den nur Holz­schif­fe gebaut, da R. C. Rick­mers den Eisen­schiff­bau ablehnte.

"Etha Rickmers"

Doch das größ­te Schiff der Rick­mers­werft war der mit einem Hilfs­mo­tor aus­ge­stat­te­te Fünf­mas­ter “R. C. Rick­mers”. Rick­mer Cla­sen Rick­mers hat den Sta­pel­lauf des von ihm geplan­ten in sei­ner Art größ­tem Schiff der Welt nicht mehr erlebt. Er starb am 27. Novem­ber 1886.

"Herzogin Sophie Charlotte"

Nach dem Tod des Grün­ders R. C. Rick­mers stell­ten sei­ne Söh­ne Andre­as Cla­sen Rick­mers (1835–1924), Peter Andre­as Rick­mers (1838–1902) und Wil­helm Hein­rich Rick­mers (1844–1891) die Werft auf den moder­nen Eisen­schiff­bau um. 1894 wird das ers­te Stahl­schiff gebaut, die Vier­mast­bark “Her­zo­gin Sophie Char­lot­te”.

1889 wur­de die Werft in eine Akti­en­ge­sell­schaft umge­wan­delt, sämt­li­che Akti­en blie­ben im Besitz der Fami­lie. Dass Fami­lie Rick­mers ein tra­di­tio­nell patri­ar­cha­li­sches Fir­men­ver­ständ­nis pfleg­te, kommt bei der Ein­rich­tung des gro­ßen Werft­ge­län­des zum Aus­druck. Die Fami­lie plant auch eine werf­t­ei­ge­ne Arbei­ter­sied­lung. In der Mit­te der zwei recht­wink­lig ange­ord­ne­ten Häu­ser­zei­len errich­tet der Patri­arch eine Fami­li­en­vil­la mit Garten.

Rickmers Werft

Nach Aus­bruch des Ers­ten Welt­krie­ges wur­de die Werft 1914 vor­über­ge­hend still­ge­legt, doch schon 1915 wur­den für die Reichs­ma­ri­ne Minen­such­boo­te gebaut. Als ers­tes Schiff nach Ende des Krie­ges lief 1920 die “Sophie Rick­mers” vom Sta­pel. Doch dann erreich­te die Wirt­schafts­kri­se 1924 auch die Rick­mers­werft, und zwar so hef­tig, dass sich der Lei­ter Paul Rick­mers ent­schließt, den Betrieb stillzulegen.

1928 ist die Rickmers-Werf tnoch stillgelegt

Sei­ne Ent­schei­dung, die Werft­to­re zu schlie­ßen, bedeu­te­te für 380 Mit­ar­bei­ter den Weg in die Arbeits­lo­sig­keit. Nur eini­ge Jah­re spä­ter ereil­te das glei­che Schick­sal auch vie­le ande­re deut­sche Werf­ten. Für die­se gab es zumeist kei­ne Ret­tung, sie wur­den demon­tiert. Für die Rick­mers-Werft zeig­te sich mehr als zehn Jah­re spä­ter, dass die Ent­schei­dung Paul Rick­mers klug war. Die zum größ­ten Teil ver­al­te­te Fisch­damp­fer­flot­te muss­te repa­riert oder ersetzt wer­den. Ab 1936 beka­men die Werf­ten an der Unter­we­ser wie­der zahl­rei­che Aufträge.

1937 wird auf der Rickmers-Werft wieder gearbeitet

Im Hin­blick auf die­se erfreu­li­che Ent­wick­lung ent­schloss sich 1937 auch Paul Rick­mers, sei­ne Werft­to­re wie­der zu öff­nen. Zunächst beschäf­tig­te er 40 Leu­te, um die still­ge­leg­te Werft wie­der betriebs­be­reit zu machen. Die teil­wei­se ver­rot­te­ten Hel­gen muss­ten repa­riert und erneu­ert wer­den. Neu­es moder­nes Werk­zeug wur­de ange­schafft, das Ersatz­teil­la­ger auf­ge­füllt und eine neue Slip­an­la­ge für Schif­fe bis 1500 Ton­nen gebaut. Als sich das Jahr 1937 dem Ende zuneig­te, ver­dien­ten bereits wie­der 266 Arbei­ter ihr Brot auf der Rick­mers-Werft – vie­le Beschäf­tig­te waren ehe­ma­li­ge Werftangehörige.

Eingangstor zur Rickmers-Werft mit Gaststätte Hermann Waterstraat

Die Werft erhält vie­le wei­te­re Auf­trä­ge. Die KdF-Schif­fe “Der Deut­sche” und “Sier­ra Cor­do­ba” wer­den instand gesetzt, Ber­gungs­schif­fe wer­den repa­riert und die Fisch­damp­fer “R. Walt­her Dar­ré” und “Carl Röwer” müs­sen umge­baut und aus­ge­bes­sert wer­den. Zusätz­lich ist die Werft mit zahl­rei­chen Neu­bau­ten wie Küs­ten­mo­tor­schif­fe, klei­ne Frach­ter und auch Fisch­damp­fer gut ausgelastet.

Dann rüs­tet das NS-Regime für einen Krieg auf, die Pro­duk­ti­on für die zivi­le Schiff­fahrt wird ein­ge­stellt. Die Kriegs­ma­ri­ne lässt nun haupt­säch­lich Minen­such­boo­te bauen.

Minensuchboote

Die Werft wird aus­ge­baut und beschäf­tigt 1940 bereits 840 Men­schen, 1943 sind es mehr als 1000 Men­schen, dar­un­ter über 200 Zwangs­ar­bei­ter. Bei dem Bom­ben­an­griff auf Bre­mer­ha­ven am 18. Sep­tem­ber 1944 wird das Rick­mers­ge­län­de durch 2000 Brand­bom­ben zum gro­ßen Teil zer­stört. Auch die meis­ten Wohn­häu­ser und die Rickmers’sche Vil­la wur­den Opfer der Bom­ben oder des anschlie­ßen­den Feu­ers. Wäh­rend des Krie­ges wer­den auf der Rick­mers-Werft kei­ne Schif­fe mehr gebaut oder repariert.

Stapellauf

Nach dem Krieg durf­ten auf­grund des Pots­da­mer Abkom­mens deut­sche Werf­ten kei­ne Schif­fe mehr bau­en. So war es ein Glück, dass die Rick­mers-Werft Repa­ra­tur­auf­trä­ge für die US-Navy bekam.

Da die Fami­li­en­vil­la der Rick­mers ja zer­stört war, wohn­ten die­se nun eine Zeit­lang in einem Gebäu­de, in dem auch das tech­ni­sche Büro unter­ge­bracht war. Die Arbei­ter soll­ten tra­di­ti­ons­be­wusst sein. Der ers­te Absatz aus einem Merk­blatt für Lehr­lin­ge aus dem Jah­re 1956 lau­tet: “Du bist ein Lehr­ling der Fir­ma Rick­mers-Werft Bre­mer­ha­ven. Die­ses Bewusst­sein muss Dich stolz machen. Dein Stolz sei aber nicht Über­heb­lich­keit son­dern Verpflichtung.”

Küstenfrachter

Auch Küs­ten­mo­tor­schif­fe und Fische­rei­fahr­zeu­ge durf­ten her­ge­stellt wer­den. Aus den Fische­rei­fahr­zeu­ge ent­wi­ckel­te die Rick­mers-Werft in den 1950er Jah­ren die Heck­traw­ler. Schließ­lich lie­fen an der Geest­hel­le auch wie­der Fracht­schif­fe für Deutsch­land und für das Aus­land vom Stapel.

Werftarbeiter

Da die tech­ni­schen Anfor­de­run­gen an die Schif­fe immer anspruchs­vol­ler wur­den, ließ die Rick­mers-Werft 1967 im Fische­rei­ha­fen einen moder­nen Repa­ra­tur­be­trieb mit Krä­nen auf der mehr als 450 Meter lan­gen Pier­an­la­ge bau­en. Nun wur­de der Betrieb für Repa­ra­tu­ren- und Umbau­ar­bei­ten in den Fische­rei­ha­fen aus­ge­la­gert. Auch Neu­bau­ten wur­den hier nun ausgerüstet.

Rickmers-Werft

Mit­te der 1980er Jah­re wird es wie­der schwie­rig. Wegen der asia­ti­schen Kon­kur­renz waren deut­sche Schif­fe schwer zu ver­kau­fen, die Werft bekam finan­zi­el­le Schwie­rig­kei­ten. Der Mehr­zweck-Con­tai­ner­frach­ter “Brit­ta Thien” war der letz­te Neu­bau, der vom Sta­pel lief. Ein Anfang 1985 ver­such­ter Ver­gleich schei­ter­te, und ein Jahr spä­ter muss­te  der Kon­kurs bean­tragt werden.

Helgen-Portaldrehkran der Rickmers-Werft

Noch heu­te erin­nert der grü­ne Hel­gen-Por­tal­dreh­kran vor dem Gebäu­de des Arbeits­am­tes an die Rick­mers-Werft. Das gro­ße Arbeits­amts­ge­bäu­de gab es frü­her noch nicht. Auf dem Grund­stück stand die Schiff­bau­hal­le. Und in dem heu­te ver­schlick­ten und mit hohen Grä­sern bewach­se­nen Fluss­bo­gen war der “Schlipp”.

Steinfragmente auf dem ehemaligen Werftgelände

Auch das his­to­ri­sche Ein­gangs­tor ist noch erhal­ten und steht unter Denk­mal­schutz. Wie vie­le Arbei­ter mor­gens und abends wohl die­ses Tor pas­siert haben mögen?

Werkstor heute

Auf den Weg zur Arbeit benutz­ten vie­le den “schwar­zen Weg” am Geest­e­bo­gen. Es war ein Fahr­rad­weg, der nach Geest­e­mün­de führ­te. Am Weg stand eine Erfri­schungs­bu­de mit einer Feu­er­lösch­platt­form. Und dort, wo heu­te das Kapi­täns­vier­tel beginnt, schlos­sen sich die Büros an.

Als sich die Werft­to­re für immer schlos­sen, waren bei Rick­mers 1.200 Mit­ar­bei­ter beschäftigt.

Quel­len:
Har­ry Gab­cke: Bre­mer­ha­ven in zwei Jahr­hun­der­ten 1827 — 1918
Har­ry Gab­cke: Bre­mer­ha­ven in zwei Jahr­hun­der­ten 1919 — 1947
Nord­see-Zei­tung vom 29.08.2012
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