Die Nordstraße verändert ihr Gesicht
Die Nordstraße verändert ihr Gesicht.
Eine Straße verändert ihr Gesicht, wenn alteingesessene Geschäfte aufgeben, wenn die Sparkassenfiliale verschwindet oder wenn der langjährige Arzt seine Praxis schließt. Und wenn ein ganzer Gebäudekomplex abgerissen wird, erkennt man das Viertel oft nicht wieder.
Thams & Garfs eröffnete bereits im Jahre 1910 in Bremerhaven eine Zweigniederlassung. Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Hauptgeschäft in der in der Bürgermeister-Smidt-Str. 93 als erstes Lebensmittelgeschäft in Bremerhaven als Selbstbedienungsladen ausgestattet. Hier stellte man schon Ende der 1950er Jahre seine Einkäufe selbst zusammen. Frische Eier, Milch in Flaschen, Butter, Sahne Obst und Süßigkeiten wurden in einen Drahtkorb gelegt, dann ging man zur Kasse. In Bremerhaven gibt es im Jahre 1970 neben der Filialverwaltung in der Grazer Straße 50 neun Thams & Garfs-Filialen.
Die Thams & Garfs-Filiale in der Nordstraße 67 leitet Günter Cordes. Rückgehende Umsätze veranlassen die Geschäftsleitung, immer Filialen zu schließen. Als Thams & Garfs im Jahre 1986 endgültig aufgelöst wird, übernimmt Günter Cordes das Geschäft und führt es in eigener Regie weiter. Der Laden floriert, und die Kunden lieben “ihren” Kaufmann. Alexander stellt lakonisch fest: “In diesem Supermarkt wurde der Service groß geschrieben! Schade drum… .”
Auch Anja erinnert sich: “Ja wirklich… sogar in der Obst- und Gemüseabteilung wurde man persönlich bedient! Und die Fleisch- und Wursttheke war sehr gut sortiert und immer schön frisch… das war sehr gemütliches Einkaufen, wie früher mit Mutti.”
Tanja, die in der Nordstraße groß geworden ist, beschreibt sehr plastisch, welche Einkaufserlebnisse sie hatte: “Meine Mutter hatte einen Schrebergarten kurz hinter Cordes, und somit hab ich bereits als Kind mein Eis dort bei “Thammel & Gammel” geholt. Erst als Jugendliche und später als junge Erwachsene habe ich dann weiterhin bei Cordes eingekauft.
Die Kinder bekamen dort immer ein Würstchen oder ’ne Scheibe Wurst in die Hand gedrückt, wenn Mutti dort einkaufte. Ich weiß noch, wie meine Tochter als Kleinkind im Laden einmal einen fulminanten Wutanfall bekam, — und ich mich soooo geärgert hab, als sie trotzdem “ihre” Wurst an der Fleischtheke bekam.
Ich habe sehr gerne dort eingekauft und besonders den “alten” Fleischer vermisse ich heute noch. Fleisch in der Qualität habe ich seitdem kaum wieder bekommen. Und es war so praktisch! Eben bei der Sparkasse einen Scheck einlösen (Geldautomaten gab es noch nicht), bei Cordes einkaufen, und auf dem Rückweg eben bei der Post Briefmarken rausholen! Überall einen kurzen Schnack halten, weil jeder sich kannte, und dann zufrieden nach Hause dackeln.”
An die Wurstgeschenke erinnert sich auch Uwe gerne: “Immer wenn ich mit meiner Mutter bei Thams & Garfs (Tammel und Gammel) einkaufen war, gab es für mich ein Würstchen an der Fleischtheke. Auf die ging man direkt zu, wenn man den Gang vom Eingang aus langgegangen ist… .”
Über dem Supermarkt residierte ein Urologe. Mitte der 1970er-Jahre begleitet Terry seine Mutter dorthin. Er schaute aus dem Fenster und zählte die Autos, “die aus Richtung Flötenkiel herangefahren kamen — wobei mich am meisten interessiert hat, wie oft ein Mercedes darunter war. Im Schnitt waren es 36 % , daran erinnere ich mich noch… .”
Rechts neben dem Frischemarkt empfängt die Städtische Sparkasse ihre Kunden und versorgt sie mit Bargeld und anderen Finanzgeschäften. Jule hat dort von 1979 bis 1983 ihre Ausbildung absolviert: “Die Städtische Sparkasse hatte damals 15 Filialen, verteilt über das gesamte Stadtgebiet. Die Filiale Nordstraße befand sich in dem gleichen mit Waschbeton verkleideten Gebäude, in dem auch der Supermarkt befand.”
Terry gefiel der Innenraum der Sparkassenfiliale gut und Uwe Z. weiß noch: “Jeden Weltspartag habe ich auf der Sparkasse meine säuberlich gerollten Münzen abgegeben und auf mein Sparbuch eingezahlt… .”
Günter Cordes macht mit seinem 300-Quadratmeter-Frischmarkt gute Umsätze – bis die Städtische Sparkasse im August 2002 die Nordstraße verlässt und fortan ihre Geldgeschäfte an der Pferdebade betreibt. “Das Kundenverhalten hat sich in den letzten Jahren erheblich verändert”, erklärte damals ein Sparkassen-Vorstandsmitglied der Nordsee-Zeitung. “Wir sind da, wo der Kunde ist. Die exponierte Lage und die kostenintensive Renovierung der alten Räumlichkeiten in der Nordstraße machten uns die Entscheidung leicht”, war im selben Artikel zu lesen.
Auch die in der Nähe gelegene Post schließt, und für Günter Cordes beginnt “das Sterben auf Raten” – “ganz langsam.” Es wird fortan schwer für ihn. Nicht die Nähe zum Real-Markt ist das Problem. Die Billig-Discounter sind es. Am Blink haben gleich mehrere Discounter eröffnet, und viele Kunden gehen nun dort einkaufen. Etwa ein Drittel der Kunden halten “ihrem” Kaufmann die Treue und erledigen ihre kompletten Einkäufe weiterhin bei Günter Cordes. Die anderen – vorwiegend jüngere Leute – kaufen in der Nordstraße nur noch das ein, was sie beim Discounter vergessen haben.
Am 31. Juli 2013 schließt der 66-Jährige Günter Cordes nach 27 Jahren seinen Frischemarkt. “Realistisch betrachtet hätte ich schon vor zehn Jahren schließen müssen. Seitdem habe ich nur reinbuttern müssen und dadurch meine Altersvorsorge verloren”, erklärt er der Nordsee-Zeitung. Seine Mitarbeiter, eine Halbtagskraft, zwei Vollzeitbeschäftigte und sieben 400-Euro-Mitarbeiter, müssen sich eine neue Beschäftigung suchen.
Die Nordstraße wurde im Jahre 1904 angelegt. Sie soll die Lange Straße entlasten, über die damals der Verkehr in beide Richtungen geführt wird. Die Nordstraße verbindet den Flötenkiel mit der Hafenstraße.
Nicht nur der Autoverkehr fließt durch die Nordstraße. Auf den Schlachtfeldern Europas tobt der Erste Weltkrieg, als die Arbeiterjugend sich auf den Weg zu einem Waldfest macht und durch die Nordstraße läuft.
Als der Zweite Weltkrieg vorbei ist, kommen Jeeps der 51. Highland Division die Nordstraße heruntergefahren, um die Stadt zu besetzen. Karl Willms beschreibt in der Nordsee-Zeitung: “Da kamen sie aus der Nordstraße heran. Autos, Jeeps, die saßen da drin mit Waffe im Anschlag, wir drückten uns die Nasen platt am Türglas.“
Und es gibt auch Erinnerungen an Karnevalsumzüge oder an Demonstrationen gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen im Oktober 1983. Damals ziehen tausende Demonstranten durch die Nordstraße. Wem es zu eng wird, der spaziert einfach über die geparkten Autos.
Trotzdem wohnt man gerne in der Nordstraße. Zwischen dem Atlantic-Hotel und dem Gericht gibt es schöne Altbauwohnungen. Es ist eng hier und gemütlich. Buslinien, Sparkasse und Post, Ärzte und Supermärkte – alles ist fußläufig erreichbar. Sogar ein kleines Kneipenviertel gibt es.
Heute hat sich vieles verändert. Eine Post ist gibt es hier nicht mehr, und das ehemalige Waschbetongebäude war lange verwaist. Der Supermarkt hat geschlossen, die Ärzte sind verschwunden, und die Sparkasse ist auch längst nicht mehr da. Fünf Jahre rottet der ehemalige Frische-Markt vor sich hin.
Im Jahre 2016 kauft ein Investor das 700 Quadratmeter große Grundstück und läßt die 1965 erstellte Halle abreißen. Auch die Tiefgarage wird nicht verschont. Für 3,8 Millionen Euro soll hier ein neuer pyramidenförmiger Gebäudekomplex entstehen: 17 Wohnungen, zwei Penthousewohnungen, Arztpraxis, Tiefgarage. Die Zufahrt wird in die Torgauer Straße verlegt.
Eine Straße verändert ihr Gesicht!
Nachtrag vom 28.12.2019
Ein Hausarzt und ein Physiotherapeut sind die ersten, die am 1. Juli 2019 trotz Baustelle in das Erdgeschoss des neuen Mietshauses einziehen.Die anderen Wohnungen sind seit 1. Oktober 2019 bezugsfertig. 13 Zwei- und Drei-Zimmer-Wohnungen werden als sozialer Wohnungsbau staatlich gefördert.Quellen:
J. Rabbel: Das Ladensterben geht weiter, Nordsee-Zeitung vom 5.7.2013
Von der Nordstraße zur Pferdebade umgezogen, Nordsee-Zeitung v. 10.8.2002
Sparkassen-Standort an der Pferdebade, Nordsee-Zeitung vom 12.8.2002
Lachkoller und Butjercourage, Nordsee-Zeitung vom 7.5.2005
Zwischen Lachkrampf und Lausbubenmut, Nordsee-Zeitung vom 7.5.2005
S. Schwan: Tschüss, olle Gruselhalle, Nordsee-Zeitung vom 16.10.2017
H. Haushahn: Hamburger Kaffee-Lager Thams & Garfs Paul Düvier GmbH, BEW aktuell 03/2016, Seiten 34 + 35
juwis’s welt: Kurs abgesteckt Richtung Geisterstadt?
S. Schwan: Neues Mietshaus für Lehe ist fertig, NORD24.de vom 5.7.2019
…ach ja die Nordstrasse… Für mich diente sie Anfang der 50ger Jahre der Taschengeldaufbesserung. Dort irgendwo in der 2. Etage wohnte eine gehbehinderte ältere Dame, deren Kohleneimer ich aus dem Keller beförderte. Und Einkaufen bei T & G war auch drin.
Ich mochte das gerne, war besser als Schularbeiten machen…
Grüße Ronny
Ja ja Ronny…alten Damen die schmale Rente abluchsen😂😂😉
Hallo, ich kann mich noch dran erinnern, dass meine Mutter bei Thams & Garfs und später bei Coordes ihre Lebensmittelliste durchgegeben hat und später geliefert bekommen hat. Das war noch Kundenservice, und als Kind habe ich mir die Kanten von den Blechkuchen, die übrig waren, für ein paar Groschen geholt. Die waren immer sooo lecker.
Lg
Danke Stephan. Du schreibst Coordes (mit 2 o). Der war in der Goethestraße. Ich der Nordstraße hieß der Kaufmann Cordes (mit einem o). Welchen meinst Du?
Wieder einmal sehr gut recherchiert und geschrieben. Wie es der Zufall will habe ich im Haus Bürger 93 über 30 Jahre gewohnt. 1981 habe ich die Wohnung von Günter Cordes übernommen, der im vierten Stock gewohnt hat. Verflucht habe ich diese Treppen. Ich weiß nicht genau wie lange der Lebensmittelladen dort bestand hatte. Auf jeden Fall war das ein Verlust. Thams & Garfs war der erste Laden der geschlossen hat und heute kannst du ohne Auto kaum noch einen Discounter erreichen. Ein Verlust vor allen für die älteren Menschen dort und in der Nordstraße wird es ähnlich sein.